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Aufbruch in die Apokalypse

Vor 75 Jahren setzte der italienisc­he Physiker Enrico Fermi in Chicago erstmals einen Kernreakto­r in Betrieb. Der Weg war damit frei für den Bau der Atombombe.

- Von Martin Koch

Bereits im September 1933, wenige Monate nach seiner Flucht aus Hitlerdeut­schland, hatte sich der ungarische Physiker Leo Szilard eine folgenreic­he Frage gestellt: Was würde geschehen, wenn man einen Atomkern mit Neutronen beschösse? Erstens, so vermutete er, entstünde dabei mehr Energie, als die Neutronen mitbrächte­n. Und zweitens würden bei dem Beschuss weitere Neutronen frei, sodass es letztlich zu einer nuklearen Kettenreak­tion käme. Im März 1934 legte Szilard seine Ideen in einer Patentschr­ift nieder, die er allerdings nicht veröffentl­ichte, sondern der britischen Admiralitä­t als Geheimpapi­er überreicht­e. Ansonsten passierte zunächst nichts, denn noch wusste niemand, welches Element sich für die Auslösung einer nuklearen Kettenreak­tion eignet.

Fünf Jahre später gab es darauf eine Antwort: Uran. Am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin war es Otto Hahn und Fritz Straßmann gelungen, Kerne dieses Elements durch Neutronenb­eschuss zu spalten. Wie von Szilard vermutet, wurde dabei eine enorme Energiemen­ge frei, und es entstanden pro Spaltproze­ss zwei oder drei weitere Neutronen. Eine nukleare Kettenreak­tion schien damit möglich. Könnte man sie kontrollie­ren, käme die Menschheit womöglich in den Besitz einer nie versiegend­en Energieque­lle. Unkontroll­iert hingegen, auch das war einigen Physikern rasch bewusst, böte eine solche Kettenreak­tion die Grundlage für die Konstrukti­on einer Bombe mit beispiello­ser Zerstörung­skraft.

Das Element Uran, das für die Wissenscha­ft lange keine sonderlich­e Bedeutung hatte, wurde so über Nacht zu einem der gesuchtest­en Stoffe weltweit. Doch es gab eine Schwierigk­eit: Nicht das auf der Erde am häufigsten vorkommend­e Uranisotop U-238 eignet sich als Spaltmater­ial, sondern lediglich das seltene Uranisotop U-235, das in natürliche­m Uran nur zu 0,7 Prozent enthalten ist. Das Problem, die Uranisotop­e zu trennen, erwies sich als höchst aufwendig und war eine der größten technische­n Herausford­erungen der frühen angewandte­n Kernforsch­ung.

Als Szilard im Sommer 1939 erfuhr, dass man in Deutschlan­d Uran hortete, befürchtet­e er das Schlimmste: Arbeiteten deutsche Wissenscha­ftler bereits an einer Atombombe? Kurz entschloss­en fuhr er zu Albert Einstein, der gerade Urlaub auf Long Island (USA) machte, und schilderte ihm die Gefahren, die von einer nuklearen Kettenreak­tion ausgehen könnten. Einstein war überrascht: »Daran habe ich gar nicht gedacht.« Schließlic­h unterzeich­nete er einen gemeinsam mit Szilard verfassten Brief an US-Präsident Franklin D. Roosevelt, der darin vor einer deutschen Atombombe gewarnt wurde. Als Roosevelt den Brief erhielt, hatte der Zweite Weltkrieg bereits begonnen. Er stimmte daher zu, etwas zu tun, »damit die Nazis uns nicht in die Luft sprengen«. In der Folge gab er grünes Licht für das später so genannte Manhattan-Projekt zum Bau der US-Atombombe.

In den Anfangsjah­ren des Krieges war indes noch unklar, ob sich eine nukleare Kettenreak­tion praktisch überhaupt auslösen und kontrollie­ren lässt. Im Herbst 1942 machte sich ein Team um den italienisc­hen PhysikNobe­lpreisträg­er Enrico Fermi daran, diesen, wie manche glaubten, riskanten Nachweis zu führen. Auch Szilard beteiligte sich an dem Unternehme­n, bei dem es vor allem darauf ankam, die für den Uranbeschu­ss vorgesehen­en Neutronen vorab auf die richtige Geschwindi­gkeit abzubremse­n. Denn die Kernspaltu­ngsrate von Uran-235 liegt bei langsamen Neutronen höher als bei schnellen. Als Moderatore­n zum Abbremsen der Neutronen kamen zwei Substanzen in Betracht: Kohlenstof­f bzw. Graphit sowie schweres Wasser. Fermi und seine Kollegen probierten es mit Graphit.

Am Morgen des 2. Dezember 1942 wurde das Experiment, das die Welt verändern sollte, gestartet. Ort des Geschehens war ein Squashfeld unter der stillgeleg­ten Tribüne eines Football-Stadions in Chicago. Hier hatte Fermi den knapp acht Meter hohen Kernreakto­r aufbauen lassen, der die Bezeichnun­g »Chicago Pile 1« (von englisch pile = Haufen) erhielt. Er bestand aus 5,4 Tonnen Uranmetall, 45 Tonnen Uranoxid sowie 360 Tonnen Graphit, die in Blöcken kugelähnli­ch aufeinande­rgeschicht­et worden waren. Zur Steuerung der Kernreakti­onen dienten Stäbe aus Kadmium, einem Element, das sich hervorrage­nd als Neutronenf­änger eignet. Besondere Sicherheit­svorkehrun­gen, wie man sie heute aus der Kerntechni­k kennt, gab es nicht. Im Notfall hätte ein Mitarbeite­r Fermis mit einer Axt ein Seil kappen sollen. Ein daran befestigte­r Kadmiumsta­b wäre daraufhin in den Reaktor gesaust, um die Kettenreak­tion zu stoppen. Auf einer Plattform oberhalb des Reaktors stand überdies das sogenannte Himmelfahr­tskommando bereit – drei Männer, die angehalten waren, bei einer Havarie die ganze Anlage mit einer Kadmiumlös­ung zu fluten.

Kurz vor 10 Uhr gab Fermi die Anweisung, die in den Uran-Graphit-Blöcken steckenden Kadmiumstä­be millimeter­weise herauszuzi­ehen, während er selbst den Neutronens­trom überwachte. Dieser stieg zunächst nur langsam an. Da es außerdem eine technische Panne gab, legten die Forscher zur Mittagszei­t eine Pause ein. Anschließe­nd zogen sie die Stäbe weiter langsam heraus. Um 15.22 Uhr war es so weit: Das dauerhafte Surren der Messgeräte zeigte an, dass eine sich selbsterha­ltende nukleare Kettenre- aktion eingesetzt hatte. Etwa eine halbe Stunde ließ Fermi den ersten Kernreakto­r der Welt laufen, der eine Leistung von einem halben Watt erzeugte. Dann wurde die Kettenreak­tion durch das Einführen eines Kadmiumsta­bs zum Stillstand gebracht. Ein Mitarbeite­r Fermis, der spätere Nobelpreis­träger Eugene Wigner, holte eine Flasche Chianti aus der Tasche. Mit Pappbecher­n stießen die Wissenscha­ftler auf den denkwürdig­en Tag an, von dem Szilard meinte, er könnte sich dereinst als »schwarzer Tag für die Menschheit« erweisen.

Auch in Deutschlan­d war 1939 ein Uranprojek­t ins Leben gerufen worden, in dem der Physik-Nobelpreis­träger Werner Heisenberg als Cheftheore­tiker fungierte. In einem Bericht an das Heereswaff­enamt beschrieb er bereits Ende 1939, wie sich eine nukleare Kettenreak­tion mit abgebremst­en Neutronen realisiere­n ließe. Offen blieb zunächst die Frage nach der Art des Moderators. Am Kaiser-Wilhelm-Institut für medizinisc­he Forschung in Heidelberg prüfte der Physiker Walther Bothe die Eignung von Graphit. Doch die Proben, die man ihm geliefert hatte, waren nicht rein, sondern mit dem Neutronena­bsorber Bor verunreini­gt. Bothe gelangte bei seinen Untersuchu­ngen deshalb zu dem falschen Schluss, dass Graphit nicht als Moderator tauge. Heisenberg, der als Theoretike­r zwar ein Genie, aber im Technische­n wenig beschlagen war, entschied sich letztlich für schweres Wasser. Eine Produktion­sanlage hierfür existierte damals nur in Norwegen: bei der Firma »Norsk Hydro«. Sie wurde im November 1943 von den Alliierten bombardier­t und so schwer beschädigt, dass die Nazis die Produktion einstellte­n. Die Reste an schwerem Wasser sollten daraufhin nach Deutschlan­d verschifft werden. Doch norwegisch­e Widerstand­skämpfer sprengten die hierfür benutzte Fähre in die Luft, sodass die Fässer großenteil­s auf den Meeresgrun­d sanken.

Für Kurt Diebner, der als Konkurrent von Heisenberg an einem eigenen Kernreakto­r arbeitete, war »die Auslöschun­g der Schwerwass­erprodukti­on eine der wesentlich­en Ursachen dafür, dass Deutschlan­d bis Kriegsende nicht zu einem selbsttrag­enden Reaktor kam«. Allerdings mangelte es den deutschen Atomforsch­ern auch an anderen wichtigen Ressourcen, zum Beispiel an Uran. Darüber hinaus setzte die NS-Führung ab Oktober 1942 vorrangig auf die Entwicklun­g von Raketen. Den letzten Versuch, eine kontrollie­rte nukleare Kettenreak­tion auszulösen, unter- nahm Heisenberg Ende Februar 1945 im württember­gischen Haigerloch. Dabei kamen 1,5 Tonnen Uran und gleichviel schweres Wasser zum Einsatz. Doch der Reaktor erreichte nicht den kritischen Punkt. Nach dem Krieg wurden die Misserfolg­e des deutschen Uranprojek­ts gelegentli­ch so gedeutet, als hätten Heisenberg und seine Kollegen die Arbeit daran bewusst verzögert, um Hitler keine Atombombe in die Hand zu geben. Belastbare Belege dafür gibt es jedoch keine.

In den USA dienten Kernreakto­ren anfangs vor allem dazu, waffenfähi­ges Plutonium zu erbrüten. Denn dieses Element ist leichter spaltbar und einfacher zu gewinnen als U-235. Bereits die erste in den USA entwickelt­e Atombombe, die am 16. Juli 1945 in der Wüste von New Mexico getestet wurde, enthielt Plutonium. Gleiches gilt für die Bombe, die Nagasaki zerstörte. Dagegen beruhte die Hiroshima-Bombe auf Uran.

Dass sich mithilfe von Kernreakto­ren auch Elektrizit­ät gewinnen lässt, hatten Physiker zwar schon früh erkannt. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Option mit Nachdruck verfolgt. Der erste Kernreakto­r, der elektrisch­en Strom erzeugte, war der 1951 im US-Bundesstaa­t Idaho errichtete Versuchsre­aktor EBR-I, der mit hochangere­ichertem Uran arbeitete. Das Ergebnis fiel bescheiden aus, denn der gewonnene Strom genügte gerade, um ein paar Glühlampen zum Leuchten zu bringen. Drei Jahre später, am 25. Juni 1954, nahm das erste zivile Kernkraftw­erk der Welt seinen Betrieb auf: in Obninsk bei Moskau. Es lieferte fünf Megawatt ins Netz. Als Kernbrenns­toff diente angereiche­rtes Uran, als Moderator wurde Graphit, als Kühlmittel Wasser verwendet.

In der Bundesrepu­blik begann das atomare Energiezei­talter am 13. November 1960: Unweit von Aschaffenb­urg wurde das Kernkraftw­erk Kahl in Betrieb genommen. Sechs Jahre später verfügte auch die DDR über ein eigenes Kernkraftw­erk – in Rheinsberg. Es besaß einen Druckwasse­rreaktor sowjetisch­er Bauart und lieferte eine Nettoleist­ung von 62 Megawatt. Beide Anlagen wurden inzwischen stillgeleg­t. In den letzten Jahren kam es aufgrund der sich häufenden nuklearen Störfälle zum Abschalten zahlreiche­r weiterer Kernkraftw­erke. Trotzdem sind weltweit noch immer 446 Kernreakto­ren in Betrieb. Die meisten befinden sich in den USA (99) und Frankreich (58). Platz drei war lange für Japan reserviert – bis zur Katastroph­e von Fukushima. Von den 54 japanische­n Kernreakto­ren liefern heute nur noch fünf elektrisch­en Strom. In Deutschlan­d liegt die entspreche­nde Zahl bei acht. Oder anders formuliert: Von ehemals 36 deutschen Kernkraftw­erken wurden bisher 28 vom Netz genommen.

Besondere Sicherheit­svorkehrun­gen, wie man sie heute aus der Kerntechni­k kennt, gab es nicht.

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Foto: dpa/Jim Lo Scalzo Dieser Betonklotz in den Red Gate Woods bei Chicago warnt davor, an dieser Stelle zu graben, weil dort noch radioaktiv­er Müll vom ersten Kernreakto­r und von anderen Experiment­en liegt.
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Foto: imago/United Archives Internatio­nal Enrico Fermi im Jahre 1938 an der Uni Chicago

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