Die Zukunft gehört den Singles
Alleinsein ist traurig und ohne die große Liebe bleibt das Leben leer? In Japan hat ein sozialer Umbruch das Singleleben zur Normalität gemacht. Andere Länder, in denen sich Ähnliches abzeichnet, können lernen.
Fünf Jahre waren wir ein Paar gewesen, mit all den großen Plänen und Träumen, die Verliebte so aushecken. Vielleicht eine Hochzeit, vielleicht Kinder, bestimmt viel Glück. Aber dann, kurz nach unserem Umzug nach Tokio, war es aus. Schon länger lag diese Trennung in der Luft, doch nur als Schreckensbild, das uns den Himmel, den wir uns als Zukunft malten, umso begehrenswerter machte. Entsprechend hart fühlte sich der Aufprall auf dem Boden der Realität an. Da schien es erst kein Trost zu wissen, dass ich nun zu diesen einsamen Hunden gehörte, wie sie hier manchmal genannt werden, die durch die Stadt streunen und vielleicht gar nicht wissen, wonach sie suchen. Von denen man nur ahnen konnte: Ein trostloses Leben mussten die führen.
Weltweit berichten Zeitungen, Magazine und TV-Dokus seit Jahren von diesem Trend, der sich da am anderen Ende der Welt abspielt, fast immer im selben Ton: Tokio, die Stadt der Singles. In der größten Stadt des Planeten, mit einer Bevölkerung so zahlreich wie die von ganz Kanada, seien Menschen zunehmend »einsam in der Masse« (»Wall Street Journal«). Denn »die Japaner« seien draufgekommen, »Beziehungen seien ihnen zu umständlich« (»Süddeutsche Zeitung«) »Seltsam« sei das (»Vice«) und »traurig« (»Stern«). Das ganze Land erlebe gerade »eine neue Eiszeit« (»Die Zeit«). Und im Vergleich dazu denkt man schnell: Bei allen Problemen, die wir fern von Japan auch daheim haben, ist bei uns doch noch vieles in Ordnung.
In der Tat kommen aus Japan beeindruckende Zahlen. Sie dokumentieren eine Abkehr von der Liebe, wie man sie bisher zu kennen glaubte. Das Nationale Institut für Bevölkerungsforschung hat erhoben, dass unter den unverheirateten Frauen zwischen 18 und 34 nur noch 30 Prozent einen Partner haben, der Anteil bei den gleichaltrigen Männern ist schon auf 21 Prozent gesunken. Nach Umfragen des Kondomherstellers Sagami nimmt der Anteil der Unverheirateten insgesamt zu: ein Drittel der Männer in ihren Dreißigern und ein Viertel der Frauen. Unter 30 Jahren sind es sogar fast 80 (Männer) und über 50 Prozent (Frauen). Zudem ist die Scheidungsrate gestiegen. Alles in allem dürfte bis 2035 die Hälfte der Menschen alleinstehend sein. Und vor allem: Nach einem lang anhaltenden Trend will mittlerweile die Mehrheit der Alleinstehenden auch gar keinen Partner. Die nicht suchenden Singles haben in Japan überhandgenommen.
Japan ist weit weg, könnte man sagen, daher höchstens exotisch und kurios, aber doch nicht relevant für das, was in Deutschland passiert. Aber nach fünf Jahren Recherche und einem fast ebenso langen Leben als Single in Tokio fallen mir viele Parallelen auf. Hierzulande sind ebenso die Scheidungsrate und das durchschnittliche Heiratsalter gestiegen, und leidenschaftlicher als über Politik oder Sport schüttet man sich heutzutage, zumindest in meinem Bekanntenkreis, nur über Liebe und Partnerschaft aus. Dass es mittlerweile allein in deutscher Sprache um die 2500 Datingportale geben soll, dass Dating Coaches und Paartherapeuten gutes Geld mit banalen Tipps einnehmen können, ist ein deutliches Indiz: Liebe ist den Menschen eines der wichtigsten Themen überhaupt.
Was aber passiert in einer Gesellschaft, was passiert mit ihr, wenn nicht mehr geliebt wird? Muss man diese Entwicklung als kollektives Scheitern verstehen? Steht am Ende ein Heer von Egoisten oder ein Meer von Traurigen? Wenn sich irgendwo Antworten finden, dann in Japan. Nach einer Trennung, die ich mir selbst nicht gewünscht hatte, und darauffolgenden Wirrungen mit neuen Bekanntschaften, Experimenten auf Kuppelevents, Begegnungen in Whiskybars und Gesprächen mit Philosophen erkenne ich in diesem sozialen Umbruch reichlich Schattierungen. Weder denken viele Singles ständig nur an sich selbst, noch ertrinken sie in Selbstmitleid. Und obwohl, wie auch in Deutschland, zur allgemeinen Idee eines gelungenen Lebenslaufs noch immer Heirat und Kinder gehören, konnte ich nach langem Hinsehen nicht mal Scheitern erkennen.
Mittlerweile sind es ohnehin zu viele, als dass das Singlesein noch als Scheitern bezeichnet werden könnte. Alleinsein ist Teil der Normalität geworden. Häufig ist es gewollt. Mit dem Drängen von Frauen auf den Arbeitsmarkt brauchen diese seltener aus finanziellen Gründen einen Partner. Männer entsagen Partnerschaften unter anderem auch, weil sie wenig Lust haben, ihr gesamtes Arbeitseinkommen an die haushaltende Frau abzudrücken, wie es eines von vielen traditionellen Rollenbildern vorgibt. Im Grunde ist das nichts speziell Japanisches. Auch in westlichen Ländern sind Liebesbeziehungen schwieriger geworden, weil die Geschlechterrollen verschwimmen. Das ist nichts Schlechtes, eher etwas Gutes, weil es lange überfällig war.
Aber hier wie dort: Auch dies wirbelt die Welt durcheinander. Vor gut 25 Jahren, als diese Entwicklung noch eine kleine Minderheit betraf, formulierte das Soziologenpaar Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim schon ein wissenschaftliches Konzept darüber. In ihrem Buch »Das ganz normale Chaos der Liebe« skizzierten sie eine neue Ära, in der alles Intime und Zwischenmenschliche zu einer Sache eigener Entscheidungen werde, die Liebe werde zur Verhandlungssache. Wo leben wir, wie leben wir, wo ziehen wir die Grenzen der Privatsphäre, was nehmen wir uns vor? So kompliziert wie heutzutage, sagten Beck und Beck-Gernsheim schon damals, sei die Liebe noch nie gewesen. Der Zeitgeist zwinge junge Menschen förmlich dazu, »ihr eigenes Ding zu machen«. Und auch wenn das Leben überhaupt nicht nach Plan laufe, überblendeten sie die Realität mit ihren Idealvorstellungen, die in einer nahen oder fernen Zukunft ja noch Wirklichkeit werden könnten. Beck und Beck-Gernsheim prophezeiten auch, was die Antwort auf diese Entwicklungen sei: »Die Familie natürlich!« Sie werde vielseitiger in ihren Erscheinungsformen. Und Liebe werde zwischen den autonomer gewordenen Familienmitgliedern sogar wichtiger als je zuvor, weil sie wie Klebstoff zusammenhalte.
Das Soziologenpaar scheint nicht vorausgesehen zu haben, was sich mir als unverhofftem Single in Japan offenbarte: dass viele Menschen der Liebe eine Absage erteilen. So mag das, was sich in Tokio vielerorts abspielt, westliche Augen zunächst verstören, aber für mich ergab es irgendwann Sinn: Wer will, kann dafür bezahlen, ein paar Minuten zu kuscheln oder auf jemandes Schoß zu schlafen. In Tausenden Hostclubs bieten weibliche wie männliche Charmeure nicht Sex, sondern käufliche Liebe an, in Form einer simulierten Romanze mit Komplimenten und Händchenhalten. Ein beliebtes Videospiel kreierte vor ein paar Jahren eine virtuelle Freundin. Wer gern von einer Hochzeit träumt, kann sich als Braut oder Bräutigam ablichten lassen, egal, ob man den Partner dazu hat oder nicht. Jeden dieser Dienste konsumiert jeweils nur eine Minderheit. Bei Weitem nicht jeder Single spielt die Liebe gegen eine Gebühr nach. Aber wer will, der kann.
Ein Sakrileg, romantische Gefühle zu kommerzialisieren? Einerseits ja. Aber wer so denkt, ist schnell als Romantiker entlarvt. Als jemand, der wirklich an die Erzählung von ewiger und erlösender Liebe glaubt, die sich als Naturkraft über alles hinweg- setzt, auch auf Kosten von Lebensträumen, Freundschaften und Normen alles Leiden zu rechtfertigen scheint. Dass der unbeirrte Glauben an diesen Heilsbringer, der in westlichen Ländern längst den Status eines Religionsersatzes angenommen hat, schon wegen seines Enttäuschungspotenzials oft mehr Leid als Glück verursacht, attestieren zahlreiche Psychologen. Zumal heute, wo die Menschen mehr als je zuvor nach Selbstverwirklichung streben, zugleich aber die Bedingungen für erfüllte Liebe schwieriger werden, weil die Ansprüche gewachsen sind. Dating-Plattformen boomen auch deshalb, weil in immer kürzeren Abständen neue Beziehungen eingegangen werden, offenbar von geringer Dauer.
Die romantische Erzählung von der Liebe, die auch im Westen erst durch Schriftsteller wie Shakespeare und Goethe populär wurde, hat in Japan nie richtig Fuß gefasst. Trotz aller Kulturimporte aus Hollywood und dergleichen erlebten meine japanischen Freunde und ich sie irgendwie als Exotik, weshalb sie sich auch gegen Geld konsumieren oder ganz ignorieren lässt. So klafft durch Alleinsein nicht notwendigerweise eine quälende Leere, die nur von dem einen Richtigen ausgefüllt werden kann, weshalb die wichtigste Priorität im Leben die Suche nach diesem Richtigen sein muss. Traditionell war die Heirat in Japan sowieso nicht durch Liebe begründet, sondern als ökonomische Einheit. Wenn diese nicht mehr nötig ist, weil jeder sein eigenes Geld verdient, jeder selbst entscheiden kann? Dann ist das Singlesein nicht unbedingt schlimm. Aber können wir Westler das auch, so ganz ohne Glauben an die Liebe?
Der Text umreißt das Buch »Einsame Klasse. Die Zukunft gehört uns Singles« von Felix Lill, erschienen bei edition-a (21,90€).