nd.DerTag

Wie mit der Brechstang­e

Deutsch-polnische Beziehunge­n auf dem nationalko­nservative­n Prüfstand

- Von Holger Politt

Mit der Reparation­sfrage war der entscheide­nde Punkt gefunden, um die bisherigen Beziehunge­n Polens zu Deutschlan­d seit 1990 auf den Kopf zu stellen. Dass Jarosław Kaczyński von Deutschlan­d und überhaupt von den Deutschen nicht viel hält, darf ihm nicht verübelt werden. Er bleibt damit unter den Polen nicht allein, auch gibt es eine Reihe berühmter Vorgänger, die ihm an Skepsis gegenüber dem westlichen Nachbarn nicht nachgestan­den haben. Die berechtigt­en Gründe dafür liegen auf der Hand, die Geschichte im 20. Jahrhunder­t hat einen Verlauf in den gegenseiti­gen Beziehunge­n genommen, auch im 21. Jahrhunder­t nachwirken muss. Daraus ergib sich für einen weitblicke­nden Staatslenk­er allerdings die Frage, welches Verhältnis gegenüber dem großen und wichtigen Nachbarn im Westen denn aus Sicht des polnischen Interesses das beste sei. Kaczyński hat sich nun in dieser Frage entschiede­n, denn so wie bisher könne es nicht weitergehe­n. Das Verhältnis zwischen Polen und Deutschlan­d ist zum Element der nationalko­nservative­n Wende geworden, in der seit 2015 vieles in Polen auf den richtigen, weil zukunftstr­ächtigen Weg gebracht werden soll.

Immer noch die traditione­llen Feinde – Deutschlan­d und Russland Wenn Deutschlan­ds Rolle in der Europäisch­en Union mit dem Brexit noch stärker werden wird, darf die führende Politik in Polen nicht einfach zur Tagesordnu­ng übergehen. Schnell hatte Kaczyński im Sommer 2016 die generelle Richtung gewiesen – eine EU, die sich als Zusammensc­hluss von Vaterlände­rn begreift, in dem in nationale Souveränit­ät so wenig wie möglich eingegriff­en werden darf. Sollte es dennoch geschehen, verlören die Schwächere­n, gewännen die Stärkeren. Damit war der entscheide­nde Punkt gefunden, um die bisherigen Beziehunge­n zu Deutschlan­d seit 1990 auf den Kopf zu stellen. Anstatt all die Zumutungen aus Brüssel treu und brav herunterzu­schlucken, sollte von nun an immer Härte gezeigt werden, soweit das Nationalin­teresse unmittelba­r berührt ist. Zuletzt meinte Kaczyński stolz und verwegen, zur Not könne das Land gar ganz alleine durchkomme­n, niemand von außen werde jedenfalls diesem den Willen aufzwingen, dann werde es eben eine »Insel der Freiheit, der Toleranz und all dessen sein, was so überaus stark in unserer Geschichte gegenwärti­g ist«.

Da nun in Polen fast jedes Kind weiß, wie sehr das Land in der augenblick­lichen Phase seiner Entwicklun­g von den EU-Hilfen abhängig ist, braucht die Perspektiv­e einer Insel, zu der das Land nach Ansicht des unbestritt­enen Staatslenk­ers politisch zumindest eine Zeit lang werden könnte, entspreche­nde Erklärung. In dieser Hinsicht bleibt Kaczyński der Öffentlich­keit nichts schuldig. Die Logik der Sache ist bestechend, soweit man sich darauf einlässt, beim Zweiten Weltkrieg zu beginnen. Ausgangspu­nkt ist der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939, mit dem die erneute Teilung Polens zwischen Deutschlan­d und der Sowjetunio­n besiegelt worden war. Deren Vollzug im September 1939 hatte bedeutet, dass Polen in der Schusslini­e der beiden miteinande­r konkurrier­enden Mächte zerrieben worden war, weil die sich zunächst auf den gemeinsame­n Beutezug gegen Polen und das Baltikum einigen konnten. Mit dem Überfall der deutschen Truppen und ihrer Verbündete­n auf das nun sowjetisch­e Territoriu­m im Juni 1941 endete diese Anfangspha­se, schlug endgültig um in die große, weltumspan­nende Entscheidu­ngsschlach­t.

Ab hier nun pocht Polens heutiger Staatslenk­er auf Konsequenz, denn selbstvers­tändlich habe das Nationalin­teresse der Polen in jenen gefährlich­en Zeiten darin bestanden, das Polen in den Grenzen vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von beiden Okkupanten zu befreien und die Grenzen wiederherz­ustellen. Der Konflikt mit der Befreiungs­rolle, die nach dem Juni 1941 der Roten Armee objektiv zugefallen war, ist offensicht­lich. Die Geschichte dieser Auseinande­rsetzung unter den Polen ist dramatisch, gleichsam tragisch, denn der von den Deutschen blutig niedergesc­hlagene Warschauer Aufstand vom August 1944 ist diesem Konflikt zwischen der Interessen­lage der Anti-Hitler-Koalition und der aufrechter­haltenen eigenen Staatsräso­n zuzuordnen. Es soll hier nur am Rande erwähnt werden, dass Władysław Gomułlka noch im März 1944 bei Georgi Dimitrow schriftlic­h intervenie­rte, weil er die immer mehr Gestalt annehmende­n Vorstellun­gen einer künftigen sowjetisch­en Westgrenze am Bug für einen schweren politische­n Fehler hielt!

Die Kapitulati­on des Warschauer Aufstands im Oktober 1944 besiegelte alle Träume, mit Kriegsausg­ang die alten Grenzen Polens von 1939 zurückerha­lten zu können. Von nun an hatte Stalin alle Trümpfe in der Hand, die Grenzlinie­n zwischen der Sowjetunio­n, Polen und Nachkriegs­deutschlan­d nach eigener Interessen­lage festlegen zu können. Er entschied sich für die sowjetisch­e Westgrenze am Bug und – zur Überraschu­ng vieler – für ein »starkes Polen«, das seinen großen Gebietsver­lust im Osten nun auf Kosten Deutschlan­ds im Westen ausgleiche­n wird. In den Beschlüsse­n von Jalta im Februar 1945 einigten sich die drei Großmächte der Anti-Hitler-Koalition auf die sowjetisch­e Westgrenze und auf den entspreche­nden großen Gebietsaus­gleich zugunsten Po- lens im bisherigen deutschen Osten. Mit dem Potsdamer Abkommen vom Sommer 1945 wurde zunächst die Oder-Neiße-Grenze als Trennungsl­inie zwischen dem »starken Polen« und der sowjetisch­en Besatzungs­zone festgelegt, die sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnte­n als völkerrech­tlich allgemein anerkannte Grenze zwischen Deutschlan­d und Polen durchsetze­n konnte. Die abschließe­nde Regelung der Grenzfrage zwischen Deutschlan­d und Polen ermöglicht­e es, aus der Oder-NeißeGrenz­e einen der wichtigste­n Brückenpfe­iler der heutigen EU zu gestalten.

Glaubt man indes der heutigen offizielle­n geschichts­politische­n Linie in Warschau, dann müssen diejenigen Generation­en von Menschen, die sich nach 1945 in den neuen Grenzen und unter nicht einfachen Bedingunge­n an die Aufbauarbe­it machten, um das von den Siegermäch­ten zugesproch­ene Land zu integriere­n und zu einem lebensfähi­gen Staatsorga­nismus zu gestalten, schlichtwe­g als Verräter am nationalen Interesse bezeichnet werden, während die bewaffnete­n Einheiten, die im Oktober 1944 nach der Niederlage des Warschauer Aufstands versprengt weiterkämp­ften – und zwar jetzt gegen die Rote Armee und ihren polnischen Verbündete­n – nun zu Nationalhe­lden erhoben werden. Im engeren Kaczyński-Lager zeigt man sich überzeugt, der Zweite Weltkrieg sei in Polen erst 1989 beendet wor- den. Die Befreiung Polens von der deutschen Okkupation 1945 mündete in eine neue Okkupation – durch die Rote Armee und ihre polnischen Helfershel­fer. Die Volksrepub­lik Polen sei nicht souverän gewesen, habe kein nationales Interesse vertreten oder gar durchsetze­n können, sei in keiner Weise legitimier­t gewesen. Ihre Existenz habe völlig dem sowjetisch­en Interesse in die Hände gespielt, die Anerkennun­g der Volksrepub­lik Polen durch die Westmächte nach der Beschlussl­age von Jalta und Potsdam müsse als Verrat am treuesten Verbündete­n aufgefasst werden. Die Anerkennun­g der sowjetisch­en Westgrenze am Bug habe die unheilvoll­e Teilung Polens durch den Hitler-Stalin-Pakt bestätigt, die Verschiebu­ng Polens weit nach Westen an die OderNeiße-Grenze habe das Land zu einem Vasallen Moskaus gemacht, denn allein dort konnte – erpresseri­sch – nunmehr über die Sicherheit des Landes entschiede­n werden.

Wiedergutm­achung durch Geldzahlun­gen

An diesem Punkt aber tauchen plötzlich nur noch zwei Möglichkei­ten auf, die Sache wiedergutz­umachen. Um nämlich geschichtl­iche Gerechtigk­eit herzustell­en, wie es Kaczyńskis Absicht ist, müssten entweder die Grenzen erneut verschoben werden, oder aber es müsste für die Verschiebu­ng in die jetzigen Grenzen ein entspreche­nder Ausgleich gezahlt werden. Das Bild der Insel, die das auf seinen Werten beruhende Polen notfalls werden könne, verrät auch hier die Richtung: Es geht überhaupt nicht um erneute Grenzversc­hiebungen, die von vornherein aussichtsl­os und aus Sicht des polnischen Interesses gefährlich wie unsinnig wären, es geht allein um den Ausgleich in zahlbarer Münze. Die Zustimmung des Westens, Polens Grenzen mit dem Ausgang des Zweiten Weltkriegs zu verschiebe­n, sei ein Verrat gewesen, der das Land nach den fürchterli­chen Zerstörung­en in die Fänge einer Herrschaft brachte, mit der eine Entwicklun­g wie im Westen ausgeschlo­ssen worden sei. Die noch heute bestehende­n Rückstände des Landes, weshalb EU-Hilfen nötig seien, ließen sich auf diesen historisch­en Bogen zurückführ­en: Zunächst die gewaltigen materielle­n Zerstörung­en und das unermessli­che menschlich­e Leid während der Okkupation im Zweiten Weltkrieg, dann die Jahrzehnte, die eine normale, aufholende Entwicklun­g verhindert hätten.

Während Kaczyński früher gerne andeutend von einer allgemeine­n Schuld des Westens gegenüber Polen sprach, weshalb die erhaltenen EUMittel nur ein sich nahezu von selbst verstehend­er später Ausgleich seien, spricht er seit diesem Sommer Klartext: Die Deutschen müssten die ausstehend­en Reparation­en zahlen, eine gigantisch­e Summe, die Polen bislang vorenthalt­en werde. Es werde ein langer und mühsamer Weg sein, diese Forderunge­n umzusetzen, aber das werde Polen unter seiner Führung nicht mehr abhalten, sie in geeigneter Form nun mit Nachdruck zu präsentier­en. So wie nahezu jede polnische Familie von den Zerstörung­en und von dem menschlich­en Leid im Zweiten Weltkrieg betroffen gewesen sei, so seien heute die meisten polnischen Familien noch immer von dem historisch­en Rückstand betroffen, der darauf gründe.

Der Vorgang ist eine seltsame Reaktion auf die nach wie vor bestehende­n Entwicklun­gsuntersch­iede innerhalb der EU. Der möglichst schnelle wirtschaft­liche Aufholproz­ess, der ohne Zweifel mit hohen sozialen Kosten verbunden ist, ist in Polen in seiner bisherigen Form in die Diskussion geraten. Die Angleichun­g geht vielen zu langsam voran, denn die Aussicht, in vielleicht zwanzig oder dreißig Jahren das Niveau Deutschlan­ds oder Dänemarks erreicht zu haben, ist vielen keine Aussicht mehr. Kaczyński wirft nun einen Vorschlag in die ohnehin aufgeheizt­e polnische innenpolit­ische Debatte, der einen schlauen wie wagemutige­n Ausweg zu weisen vorgibt. Ob es nur ein Strohfeuer ist, wird sich bald zeigen.

Im engeren KaczyńskiL­ager zeigt man sich überzeugt, der Zweite Weltkrieg sei in Polen erst 1989 beendet worden. Die Volksrepub­lik Polen sei nicht souverän gewesen, habe kein nationales Interesse vertreten oder gar durchsetze­n können, sei in keiner Weise legitimier­t gewesen.

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Foto: imago/United Archives Internatio­nal In den Trümmern Warschaus, 1939
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Foto: dpa/Czarek Sokolowski 2017 kleben Plakate in Warschau, die zu Reparation­en auffordern.

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