Blochers Reich
Im Schweizer Kanton Graubünden hat eine Unternehmer- und Politikerfamilie die Arbeiterbewegung im Griff
Nicht zimperlich: Schweizer Rechtspopulisten als Unternehmer.
Demokratie, Proletariat und Oligarchie: Der Versuch, der Gewerkschaftsbewegung im Unternehmen des Rechtspopulisten Blocher nachzuspüren, hat etwas von Schattenboxen – sie ist nicht zu fassen. Graubünden, der größte, am dünnsten besiedelte Kanton der Schweiz, ist die europäische Region mit der größten Diversität: Die drei offiziellen Kantonssprachen Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch zerfallen in neun bis zwölf Idiome oder Dialektgruppen, und darauf liegt ein konfessioneller Flickenteppich von protestantischen, katholischen und paritätischen Dörfern. Die 150 Talschaften haben schon vor sechs Jahrhunderten angefangen, basisdemokratisch organisierte Mini-Republiken zu bilden. Innerhalb der Demokratie herrschte eine Oligarchie von maximal 40 Familien, die sich vom Wiener oder Pariser Thron adeln ließen. Die Oligarchen mussten zu Wahlen antreten, wurden aber stets in die Führungsämter gewählt. Bis heute gehört es zur Bündner Identität, dass die Gemeinden eine geradezu anarchische Autonomie genießen.
An diesem unmöglichen Ort, in einer Rheingegend namens Imboden, verbirgt sich ein kleines Industrierevier. Besonders fasziniert mich die größte Fabrik, die EMS-Chemie in Domat/Ems. Christoph Blocher hat sie mit seinem unternehmerischen Genie in eine Geldmaschine verwandelt; gleichzeitig hat er seine Schweizerische Volkspartei (SVP) mit einem immer auch wirtschaftsliberalen Nationalpopulismus zur dominanten politischen Kraft der Schweiz gemacht. Ich frage ich mich: Das Patronat der Blochers und das Bündner Proletariat, wie geht das zusammen?
Ich stoße auf eine Mauer des Schweigens. Zum Einstieg würde ich gerne die EMS-Ausstellung im Werk sehen. Ein Sekundarschüler aus dem italienischsprachigen Tal Bergell hat sie als 20 000. Besucher gesehen, mich lässt EMS nicht ein, »aus zeitlichen Gründen«.
Auch an den Betriebsrat, Betriebskommission genannt, ist kein Herankommen. Die Domater Sozialdemokratie freut sich zwar, »dann Ihre Reportage zu lesen«, verweist mich aber weiter. SYNA, die christliche Vertragsgewerkschaft der Fabrik, lässt mich eine Woche warten und teilt auf meine ungeduldige Nachfrage mit: »Wir geben keine weiteren Auskünfte.« Die SYNA-Zentrale schreibt mir: »Ich kann Ihnen mitteilen, dass SYNA und EMS eine konstruktive Sozialpartnerschaft auf Augenhöhe pflegt.« Treffen will mich niemand.
Ein Ex-Funktionär einer anderen Gewerkschaft, den ich nur am Telefon erreiche, quält mich geradezu mit seinen Ängsten. Er genießt zwar a) längst die sichere Pension, hat b) nie bei EMS-Chemie gearbeitet, hat c) die EMS-Agenden nur bis 2004 betreut, hat d) 1992 nicht bei der Verteilung von Anti-Blocher-Flugblättern mitgemacht und e) immer vertrauensvoll mit der EMS-Führung zusammengearbeitet. Und doch zögert er ewig, ob er mit mir reden und seinen Namen genannt sehen will.
Der Casus Belli liegt bald ein Vierteljahrhundert zurück: Als der SVPPolitiker Blocher 1992 gegen den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum stritt, griff ihn der Sozialdemokrat Peter Bodenmann als Unternehmer an. Bodenmann verglich Löhne, Urlaub und Zuschläge von EMS mit einem Chemiewerk im Wallis und stellte Blocher als Lohndrücker hin. Zusammen mit Gewerkschaftern verteilte er vor den Werkstoren Flugblätter. Blocher warf daraufhin die Gewerkschaft GBI hinaus. Die Zivilkammer des Kantonsgerichts erklärte dies 1996 für rechtens: »Mit einem solchen Partner zusammenzuarbeiten, kann aber keinem Arbeitgeber zugemutet werden.«
Ich pfeife auf die Arbeiterführer, ohnehin war die gewerkschaftliche Organisation bei EMS immer niedrig. Ich spaziere durch ein Arbeiterviertel in Domat/Ems. Die Wohnblöcke haben alle etwas Fahles. Ein schiefes Fußballtor auf der Wiese. Zwischen den Wohnblöcken ein nüchterner Spielplatz, hauptsächlich aus kurzen Betonrohren bestehend. Zwei Mütter mit Kindern, sie sprechen eine Sprache vom Balkan. Ich plaudere mit ihnen, aber auch sie sind vorsichtig.
Ich habe Kopien der »Jahresziele«, die jedes Jahr an die EMS-Mitarbeiter ausgeteilt werden. Gerade als Arbeiterkind vermag ich mir nicht vorzustellen, was einem Arbeiter beim Blick auf diese A4-Zettel durch den Kopf geht. 1999: »Was zählt, ist die vollständige Erfüllung des Auftrages.« 2007: »Wir fördern Ergebnisträger und schneiden Verlustbringer ab.« 2009: »Jeder Mitarbeiter ist ein EMSer und konzentriert sich auf das, was Ergebnis bringt.« Seit Blochers Tochter Magdalena Martullo die Chefin ist, liest man öfter vom »Erzwingen des Erfolgs«.
Ich gehe in die traditionellen Arbeiterbeisl, in die »Veltlinerhalle« und ins »Rhätische Bähnli«. Ich treffe auf einen langjährigen EMS-Arbeiter mit festem Schritt und breitkrempigem Hut. Er prahlt, aus welch hartem Holz die Bündner geschnitzt seien. Dies illustriert er mit einer Anekdote aus seinem Familienleben: Als ein Vertreter von Scientology zu lange auf seiner Türschwelle stand, erzählt er, »habe ich einen Baseballschläger genommen und ihm beide Kniescheiben zertrümmert.« – »Bist du in der Firma auch so?« – »Da passe ich mich an.« – »Den Blochers würdest du nicht die Kniescheiben zertrümmern, oder?« – »Ich bin grundsätzlich kein aggressiver Mensch«, entgegnet er, »und damit ist die Diskussion beendet.«
Die Emser Omertà verwundert mich. Ich habe Reportagen in ganz Europa recherchiert, beim russischen Staatskonzern Gasprom bin ich leichter ins Gespräch gekommen. Insgesamt werde ich nur zwei Personen finden, die mir ein Interview gewähren. Beide sind Zugezogene, nicht mehr für EMS tätig und beide sind alt.
Schöner ist es, auf die »Tumas« zu wandern. Das sind die ausgestochenen Emser Hügel, entstanden durch den gewaltigen Flimser Bergsturz. Man stelle sich den Aufprall vor, mit dem diese zwölf fliegenden Hügelpakete am Rhein niedergingen. An der »Tuma da Zislis« wird an ein Massengrab von 1799 erinnert – leider auf dem Betriebsgelände von EMS. Die Franzosen erbleichten damals vor der Kampfwut der Bündner: »Die Art und Weise, wie diese Kreuzzüger – worunter sogar Knaben von 12 bis 14 Jahren – in den Tod gingen, ist unglaublich.« Ich wandere auf die Tuma Casti hinauf. Auf alten Fotos ist sie kahl, nun trägt sie ein Weingärtlein und Wald, oben ein weißes Kirchlein.
Ich lese das offizielle EMS-Buch, »Erfolg als Auftrag«. Autor Karl Lüönd beschreibt, wie die Fabrik ab 1942 mehrere »extreme Häutungen überlebt« hat. Zunächst ein staatli- ches Subventionsgeschäft, die Herstellung von Ethanol aus Holzabfällen, die während des Zweiten Weltkriegs bis zu 27 Prozent des Schweizer Treibstoffbedarfs gedeckt hat. Dann Faserrohstoffe, Dünger, Wehrtechnik, Textilfasern, Anlagenbau, schlagzähe Kunststoffe, Pulverlackhärter, Airbag-Anzünder …
Aufregend die Geschichte, wie der mittellose Pastorensohn Christoph Blocher, 1969 als Teilzeitkraft in die Rechtsabteilung eingetreten, die Firma 1983 kaufte. Die kriselnde EMSCHEMIE hatte einen Börsenwert von 125 Millionen Franken, plus Kraftwerke im Wert von 300 Millionen, plus riesige Liegenschaften; Blocher bekam sie für 20 Millionen. Dass sich die kreditgebende Bank für Blocher entschied, wird in Lüönds Buch auch mit »Angst vor Arbeiterunruhen« erklärt. Als 58 Prozent der Stimmrechte ihm gehörten, trat Blocher in Militärschuhen vors Personal: »Geht chrampfen, damit ich meine Schuldzinsen bezahlen kann.« Diese waren schnell bezahlt, heute beträgt der Börsenwert 15,8 Milliarden Franken.
Mitarbeiter erinnern sich in Lüönds Buch an die »Gewohnheit des Patrons, Untergebene vor Dritten abzukanzeln«. »Ich spürte die enge Führung und eine gewisse Aggressivität, die sich in einem sehr direkten, unverblümten Sprachstil äußerte.« – »Man muss einen Antrag stellen mit dem genauen, militärischen Aufbau: Auftrag, Weg, Varianten, Konsequenz, Kostenfolge.« Wenn er Rekordergebnisse verkündete, kündigte Blocher Rationalisierungen an. Seine Tochter erklärt die Firmenkultur so: »Wer sich, wie er und ich, derart fürs Unternehmen verschulden musste, lernt rechnen.«
Ich besuche einen pensionierten Angestellten. Zum Eigentümerwechsel von 1983, den Blochers Gegner als »unseriös« anprangern, sagt er: »Man sollte einen Strich ziehen und sagen, der Zweck heiligt die Mittel. Der Blocher ist heiligzusprechen.« Ermutigt von der Firma, war der Mann in der Lokalpolitik für die SVP aktiv, doch Blochers Politikstil lobt er nicht. Die SVP sei gegen alles, sogar gegen die Sommerzeit. Die Firma lädt ihre Pensionierten jährlich zu einem »feudalen Essen« ein, er geht aber nicht mehr hin. »Warum?« – »Wegen einer Weisung, dass Pensionierte sich beim Pförtner anmelden müssen und nicht mehr rumlaufen dürfen. Das habe ich nicht ertragen.« Die Zahmheit der Arbeiter erklärt er nüchtern: »Viele Leute haben hier einen Arbeitsplatz, den sie sonst nicht hätten. Sie müssten sonst auswandern. Das wissen sie.«
Mein zweiter Ex-EMSer, Gustav Ott, ist ein Linker. Solange die Amerikaner in Irak sind, zieht er die PACE-Fahne vor seinem Haus nicht ein. Der frühere Betriebsarzt legt los: »Es gibt keine Arbeiterbewegung im Kanton Graubünden.« Viele Arbeiter seien Kleinaktionäre und der Kurs ist hoch. Als EMS die Arbeitszeit ohne Lohnkompensation von 42 auf 43 Stunden erhöhte, habe die SYNA einen »Maulkorb akzeptiert. Jeder Arbeiter musste unterschreiben. Wer nicht verspricht, das Maul zu halten, muss jetzt gehen. Das ist Betriebsdemokratie!« Persönlich lernte er Blocher als »sofort angriffig« und »sehr narzisstisch« kennen, aber auch als Boss, der »manchmal große Gesten gemacht hat, wenn’s gut gelaufen ist« – Bonuszahlungen. »Die Tochter hat das noch kleinere Herz. Sie macht das nicht«, sagt Ott.
Als ich nebenan in Flims übernachte, treffe ich unverhofft klassenbewusstes Proletariat. Das Hotel beherbergt Reisegruppen betagter Deutscher, die nach St. Moritz gefahren werden. Auch die Angestellten sind Deutsche und ziemlich links. Sie tragen den Gästen die Koffer auf die Zimmer. Sobald die Alten draußen sind, dreht das Zimmermädchen AntifaKreisch-Punk auf: »Das ist Inzucht / das ist Rechtsruck! / Beschissenes faschistisches Verbrecherschwein!« Sie putzt dabei. Von Schweizer Gewerkschaften erwartet sie nichts, sie ist in einer deutschen. Hätte sie in der Schweiz ein Problem, ginge sie direkt ans Arbeitsgericht.
Ansonsten wird man alt, wenn man in Graubünden eine Arbeiterbewegung sucht. Man sollte besser zum Lachen kommen. Auf der Welt gibt es 6000 Lachklubs, in Domat/Ems praktiziert eine Lachtrainerin von überwältigender Ansteckungskraft. Über die Firmen der Region, für die sie Lachkurse macht, plaudert die herzliche Blondine natürlich nichts aus. Einem Klienten, der dauernd über seinen Arbeitgeber jammert, hat sie gesagt: »Entweder du gehst oder du bleibst. Wir sind alle in der Eigenverantwortung für unsere Gesundheit.«
So gehe ich also zum Lachyoga auf die Schafweide. Die Trainerin erklärt: »Lachen ist Friede, Friede mit mir selber. Man erlaubt sich keine Fehler. Es ist aber ganz wichtig, sich selber gern zu haben.« Es folgen anderthalb Stunden, in denen wir uns auf einer Lichtung vor Lachen biegen. Selten so gelacht. Am Ende tut’s richtig weh.
»Viele Leute haben hier einen Arbeitsplatz, den sie sonst nicht hätten. Sie müssten sonst auswandern. Das wissen sie.« Ehemaliger Angestellter von EMS
Wenn er Rekordergebnisse verkündete, kündigte Blocher Rationalisierungen an. Seine Tochter erklärt die Firmenkultur so: »Wer sich, wie er und ich, derart fürs Unternehmen verschulden musste, lernt rechnen.«