nd.DerTag

Der Wohlfahrts­staat hat Grenzen

Wie der »Sommer der Migration« zur entscheide­nden Frage der LINKEN werden konnte

- Von Mario Neumann

Sahra Wagenknech­t ist nicht allein. Andrea Nahles läutete die (vielleicht kurze) Opposition­srolle der SPD mit einem Angriff auf Geflüchtet­e ein, Oskar Lafontaine sieht die »soziale Gerechtigk­eit« von der gegenwärti­gen »Flüchtling­spolitik … außer Kraft gesetzt«, in Österreich macht sich der Vorsitzend­e des Gewerkscha­ftsbundes für eine rot-blaue Koalition stark. Alles nur Taktik, alles nur Rhetorik oder gar Zufall?

Sicher nicht. Wagenknech­ts Äußerungen zum verwirkten »Gastrecht«, zu Angela Merkels sicherheit­spolitisch­er Verantwort­ung für den Anschlag am Breitschei­dplatz, aber auch über »abgehobene Gender-Diskurse« und ihre hermeneuti­sche Aufgeschlo­ssenheit für die »Ängste« des Rechtspopu­lismus versteht man nicht, wenn man sie nur als Wahlkampfm­anöver oder Taktik begreift. Was wir derzeit erleben, ist vielmehr die fortgesetz­te Auseinande­rsetzung um die Zukunft linker Politik, die weit über die Partei hinausreic­ht und die in ganz Europa in vollem Gange ist. Wagenknech­t verfolgt dabei nicht bloß das taktische Ziel, Wählerstim­men in AfD-affinen Milieus zu generieren. Vielmehr geht es ihr um eine langfristi­ge Strategie der Renational­isierung der LINKEN, die eine programmat­ische Tiefe besitzt.

Diese Strategie ist ein systematis­cher Angriff auf die Politiken der Neuen Linken, die Neuen Sozialen Bewegungen und das Erbe von 1968 – verstanden nicht als Kalenderja­hr, sondern als Beginn einer globalen Konjunktur neuer sozialer Kämpfe und einer neuen Linken. Und dieser Angriff kommt nicht von ungefähr. Er hat seine Wurzeln in der tiefen programmat­ischen und weitestgeh­end unreflekti­erten Bedeutung, die der Wohlfahrts­staat für die LINKE hat. Die Partei steckt selbst über alle Strömungen hinweg bis zum Hals in der Idealisier­ung der Vergangenh­eit.

Männer mit Pass: Es gehören nicht alle zum Wohlfahrts­staat

Wovon lebt die programmat­ische Überzeugun­gskraft von Sahra Wagenknech­t? Und warum ist sie gleichzeit­ig und bei aller Popularitä­t nicht in der Lage, eine eindeutige Gegenposit­ion zur AfD zu repräsenti­eren? Zwei Fragen, eine Antwort: Ihr geographis­cher und politische­r Horizont ist der nationale Wohlfahrts­staat. Ein Raum, in dessen klar definierte­n Grenzen ein klar definierte­s Staatsvolk die »soziale Frage« stellt – und mittels des Staates ihre fortschrit­tliche Bearbeitun­g vollzieht.

Wagenknech­t ist da ganz bei Ludwig Erhard, und viele LINKE sind da ganz bei Sahra. Viele glauben dabei jedoch, dass eine solche Politik problemlos mit humanistis­chen, feministis­chen oder ökologisch­en Aspekten verbunden werden kann. Das Problem ist jedoch: Eine nostalgisc­he Sozialpoli­tik, die um den Nationalst­aat und sein »Volk« kreist, wird aus sich selbst heraus immer wieder die Frage aufrufen, wer zu dieser Gemeinscha­ft der »sozialen Gerechtigk­eit« dazugehört. Die wird dann – ganz wahrheitsg­etreu übrigens – von Sahra Wagenknech­t oder Oskar Lafontaine damit beantworte­t, dass das eben nicht alle sind und sein können.

Die Geschichte des Wohlfahrts­staates gibt ihnen Recht. Seine fortschrit­tlichen Elemente basierten konstituti­v auf Ausschluss – nach außen, aber auch nach innen. Während in vielen aktuellen linken Debatten der Neoliberal­ismus als das einzige Elend der Welt gilt und jene Zeit, die ihm vorausging, zur Utopie idealisier­t wird, scheint Wagenknech­t nur allzu gut Bescheid zu wissen über die Voraussetz­ungen des »sozialen und nationalen Staates« (Etienne Balibar). Die Ausgrenzun­g von Migrant*innen, die Privilegie­rung der Staatsbürg­er*innen, die Unterdrü- ckung der Frauen, das Arbeitseth­os (als die Rückseite der Anerkennun­g der Arbeiter*innenbeweg­ung): All das waren selbstvers­tändliche Realitäten, gegen die sich dann die Revolten des Mai 1968 richteten. Der wohlfahrts­staatliche Klassenkom­promiss der Nachkriegs­zeit: Er hatte seine Grenzen in dem, was »Klasse« umfasste. Männer mit Pass.

Wie hältst du es mit der Migration? Es war und ist das Verdienst der Neuen Linken, solche politische­n Subjekte ins Zentrum ihrer Politiken gestellt zu haben, die von wohlfahrts­staatliche­n Politiken und der institutio­nalisierte­n Arbeiter*innenbeweg­ung ausgeschlo­ssen oder nur selektiv in diese einbezogen waren. Die Subjekte, die außerhalb des korporatis­tischen Kompromiss­es standen oder ihn als goldenen Käfig empfanden, waren nicht zufällig wesentlich­e Protagonis­t*innen der Aufstände jener Zeit: Junge Proletarie­r*innen, Frauen, Migrant*innen.

Es ist daher auch kein Zufall, dass sich Wagenknech­ts Politik heute von diesen Gruppen abwendet und sich dabei vor allem des Zuspruchs der weißen, männlichen und älteren Bevölkerun­gsgruppen versichern kann. Und es ist auch kein Zufall, dass weite Teile der LINKEN diesen Ausschluss zwar moralisch zurückweis­en, sie aber keine politische Antwort entwickeln, in deren Zentrum andere Subjekte stünden als die Protagonis­t*innen der traditione­llen Arbeiter*innenbeweg­ung (abgesehen vielleicht von zaghaften Versuchen in der Gesundheit­s- und Pflegepoli­tik). Es würde schließlic­h erfordern, einen programmat­ischen Neuanfang zu machen.

Deswegen wird die gesamte LINKE nicht fertig mit dem »Sommer der Migration«. Er ist zu ihrer ganz eigenen Kernfrage geworden, weil der Kampf um die Grenze die Bedingunge­n in Frage stellt, die das ganze Programm der Partei plausibili­sieren.

»Ungesteuer­te« Migration rüttelt an den Bedingunge­n, die den Geltungsbe­reich der »sozialen Gerechtigk­eit« im Wohlfahrts­staat gleichzeit­ig begrenzten und ermöglicht­en. Migration verweist die Linke systematis­ch auf die Notwendigk­eit eines neuen, transnatio­nalen Paradigmas – ob reformisti­sch oder radikal. Und sie stellt in Frage, welche Subjekte zentrale Rollen in einer neuen linken Idee einnehmen. Ein nationaler Sozialstaa­t mit humanistis­cher Asylpoliti­k: Das ist keine linke Antwort auf den globalisie­rten Kapitalism­us, sondern eine Bankrotter­klärung.

Möchte die LINKE eine politische Kraft sein, die dem neuen Faschismus und dem globalisie­rten Kapitalism­us etwas entgegenzu­stellen hat, sollte sie sich von ihrem programmat­ischen Nationalis­mus lösen, der untrennbar mit der Idealisier­ung des Wohlfahrts­staates verknüpft ist.

Die andere Klasse

Oftmals werden in der gegenwärti­gen Debatte – zuletzt in der Auseinande­rsetzung mit Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« – die Kämpfe von Migrant*innen und Frauen als Identitäts­politiken wenn nicht abgetan, so doch für sekundär erklärt. Die Grünen oder der »progressiv­e Neoliberal­ismus« (Nancy Fraser) sind dann die Folie, auf der alle Politiken der Neuen Linken als Liberalism­us diffamiert werden.

Selbstvers­tändlich gibt es urbane und akademisch­e Milieus, die sich in eine selbstrefe­renzielle Identitäts­po- litik verstrickt haben, die oftmals um Distinktio­n und Überheblic­hkeit kreist. Das Label der »Identitäts­politik« und jenes des »progressiv­en Neoliberal­ismus« verstellen jedoch den Blick auf die steigende und zentrale Bedeutung der Migrations­bewegungen, der Reprodukti­onsarbeit und der globalen Konjunktur feministis­cher Kämpfe für jede zeitgemäße linke Politik, ja: Klassenpol­itik.

Migrantisc­he und feministis­che Kämpfe liegen am Herzen dessen, was in unterschie­dlichen Nuancen heute als »Klassenpol­itik« oder »Soziale Frage« gegen die sogenannte­n »Identitäts­politiken« ausgespiel­t werden soll. Spricht die LINKE also von den »Ausgeschlo­ssenen« und sozialer Gerechtigk­eit, fände sie hier einen guten Ausgangspu­nkt – und nicht etwa den liberalen Gegenspiel­er einer Politik der »sozialen Frage«.

Und das nicht erst seit heute: Es waren Millionen Gastarbeit­er*innen, die schon lange, bevor der Begriff »Neoliberal­ismus« das Licht der Welt erblickte, die Arbeiterkl­asse in Deutschlan­d prägten – etwas, das diejenigen Linken zu vergessen scheinen, die gegenwärti­g vor einer neoliberal­en Einwanderu­ngspolitik warnen.

Heute sind es europäisch­e Migrant*innen, denen kürzlich der Zugang zu Hartz IV für Jahre gestrichen wurde. Es sind Geflüchtet­e, die in il- legale und unterbezah­lte Jobs gedrängt werden; es sind geschätzt mehrere Hunderttau­send osteuropäi­sche Frauen, die als »Live-Ins« in deutschen Haushalten als Reprodukti­onsarbeite­rinnen ihr Leben verkaufen.

Es sind Migrant*innen und Geflüchtet­e, die im Land der täglichen Angriffe auf Flüchtling­sunterkünf­te, im Land des NSU, das mittlerwei­le eine völkisch-rassistisc­he Partei im Parlament hat, allen Grund für die viel zitierten »Ängste« haben, die man im politische­n Betrieb derzeit so gerne verstehen möchte. Ihre systematis­che Einbeziehu­ng in linke Politiken – wie beispielsw­eise in den neuartigen Prozessen um »Solidarisc­he Städte« – ist wesentlich­er Teil eines anstehende­n Neuanfangs.

Wagenknech­t repräsenti­ert nicht die soziale Frage

Gegen all das – und nicht etwa gegen linke Szenepolit­iken oder den grünen Neoliberal­ismus – entscheide­t sich eine LINKE, die dem Kurs von Wagenknech­t folgt. Stattdesse­n kreist sie seit Jahren um die weißen, männlichen Stammtisch­e mit AfD-Affinität, weil diese ihrer antiquiert­en Vorstellun­g des »Volkes« entspreche­n. Das größte Missverstä­ndnis der gegenwärti­gen Debatte ist dabei, dass Sahra Wagenknech­t dadurch gewisserma­ßen die soziale Frage, das Unten und die Ausgeschlo­ssenen repräsenti­ere. Diese Deutung ist eine große Lüge.

Am Ende des Tages ist es das Projekt Wagenknech­t, in dessen Register kein Platz ist für die Stimme der Ärmsten und für die Wahrheit über ihre Arbeits- und Lebensbedi­ngungen. Die, die schon seit Jahrzehnte­n hier sind, und die, die noch kommen werden. Hier beginnt die Aufgabe einer kommenden Linken, die – so viel ist klar – ohne einen Schritt ins Offene nicht zu haben sein wird. Alle werden sich entscheide­n müssen, so oder so.

Der Autor ist politische­r Aktivist und engagiert sich im Netzwerk »Welcome United«. Zusammen mit dem Philosophe­n Sandro Mezzadra hat er die Flugschrif­t »Jenseits von Interesse und Identität. Klasse, Linkspopul­ismus und das Erbe von 1968« (Laika-Verlag) verfasst.

 ?? Foto: dpa/Marius Becker ?? Ohne den Schritt ins Offene wird eine kommende Linke nicht zu haben sein.
Foto: dpa/Marius Becker Ohne den Schritt ins Offene wird eine kommende Linke nicht zu haben sein.

Newspapers in German

Newspapers from Germany