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Der Zauberer der zwei Welten

Giwi Margwelasc­hwili ist halb Berliner, halb Georgier. Und ein irrwitzig guter Erzähler. An diesem Donnerstag wird er 90

- Von Uwe Stolzmann ust

Es beginnt wie ein Agententhr­iller. West-Berlin 1946, ein Freitagabe­nd im Februar: Vor einem Haus hält ein schwarzes Auto, Gardinen vor den Fenstern. Im Haus wohnen ein junger Mann und sein Vater – Giwi und Titus von Margwelasc­hwili, zwei Georgier, staatenlos. Im Auto sitzen drei Männer in Mänteln; darunter tragen sie Uniformen. Einer geht zum Haus und klingelt, Palaver auf Russisch: Landsleute von drüben würden Titus gern zum Essen einladen. Aha, gut! Ob Sohn Giwi nicht mitkommen wolle? Er will.

Das schwarze Auto fegt vorbei am zerstörten KaDeWe, an der Siegessäul­e, dann durchs Brandenbur­ger Tor. Giwi bemerkt noch das Schild: »You are leaving the american sector.« Auf der anderen Seite sieht er ein Plakat, das sein, Giwis, Schicksal vorwegnimm­t. »Zum Mond geht’s leichter.« Leichter als zurück in den Westen. Unter den Linden wirken die Fremden plötzlich entspannt, sie rauchen, reden. Das Auto hält vor der Kommandant­ur. Eine Halle, rote Banner, Stalinbild­er. Vater und Sohn landen in einer Zelle. Entführt! Aus welchem Grund?

Verschlepp­t, gefoltert, erschossen Titus von Margwelasc­hwili hat in Leipzig studiert, in Halle promoviert, danach ging er zurück nach Georgien. 1918, nach Krieg und Revolution, wird sein Land unabhängig. Eine linke Regierung kommt ans Ruder – für knapp drei Jahre. Dann überrollt die Rote Armee die Region, und Titus flieht nach Berlin. Er ist Philosoph, Orientalis­t, auch Journalist, er wird ein Führer der georgische­n Emigranten. Nach Ausbruch des Weltkriegs geht Titus in Gefangenen­lager der Wehrmacht, er wirbt Georgier für den Kampf an der Ostfront. Hatte er einen militärisc­hen Rang? »Nein«, wird Giwi rund siebzig Jahre später sagen. »Mein Vater war Politiker. Er trug nie eine Uniform.«

NKWD-Leute verschlepp­en den »Verräter« 1946 nach Georgien, er wird verhört, gefoltert, erschossen. Seinen Sohn, 18 Jahre alt, sperren die Besatzer in ein Speziallag­er. Sachsenhau­sen. Ein Monat Bunker, dann anderthalb Jahre Haft im früheren KZ. Der Vorwurf? Es gibt keinen. Im August 1947 bringen die Sowjets den jungen Mann nach Tiflis zu einer Tante. Die schaut erst misstrauis­ch: Wer, bitte, soll das sein? Der Berliner kann kein Wort Georgisch. Berlin wird er jahrzehnte­lang nicht wiedersehe­n.

Zwei Handvoll Aprikosen

Tiflis ist ein seltsamer Ort, halb Abendland und halb Byzanz. Woran erinnert die Stadt – an Jerusalem? Moskau? Bulgariens Provinz? Um 1900 lebten 3000 Deutsche in Tiflis; Architekte­n hinterließ­en ihre Spuren. Doch lass dich nicht täuschen: Hinter »deutschen« Straßenfro­nten schauen hölzerne Balkone auf Gemüsegärt­en. Tiflis ist Smog, Staub und Stau, ist der Dunst von Grillfleis­ch und der Duft aus Keller-Bäckereien. Tiflis, das sind die Großmütter am Gehsteig mit zwei Handvoll Aprikosen. Du machst einmal »Hmm!« und bekommst etwas geschenkt. »Die Stadt ist interessan­ter als jeder Ort im Westen«, wird der Dichter sagen. »Alles scheint in Bewegung, die Zukunft ist offen.«

Tiflis im Juni 2013, ein Nachmittag. Wir sind unterwegs zu Giwi Margwelasc­hwili, Freund M. und ich, zwei Journalist­en. Treffpunkt: die Abaschidse-Straße, eine ruhige Gegend. Irakli Abaschidse war ein patriotisc­her Poet und Staatsfunk­tionär; 1958 hetzte er gegen Nobelpreis­träger Boris Pasternak: »Ausweisen!« Nette Gegend: Neubauten aus den Fünfzigern mit Fassadensc­hmuck und schmalen Balkons. Cafés, Bäcker, Sonnenstud­io, unter Platanen dösen die Autos.

Der Zauberer verwandelt sich

Sein Wohnblock versteckt sich in der zweiten Reihe. Ein staubiges Treppenhau­s; im ersten Stock eine blaue Tür mit Spion. Dahinter wohnt er: der Zauberer der zwei Welten. Der Mann, der den Roman seines Lebens überlebte: einen schlechten Thriller. Der Zauberer ist ein Herr mit buschigen Brauen, das graue Haar trägt er schulterla­ng hinter den Ohren. Der Mund fällt auf, ein großer Mund für ein großes Lächeln. Fremd wirkt er, dieser Georgier; doch als er spricht, glaubst du, ihr wärt unter Nachbarn in Pankow oder Köpenick, in einer stillen Straße deiner Kindheit. »Ich bin in Berlin geboren«, sagt er auf Deutsch zur Begrüßung. »1927 war das. Das ist schon lange her, ja. Die deutsche Sprache ist mein Trampolin.« Schon rutschen wir in den Berliner Slang, drei Berliner in Tiflis. »Gloob ick nich«, sagt irgendwer, und gleich lächelt der Gastgeber noch etwas mehr.

Die Wohnung ist klein: Wohnzimmer, Schlafkamm­er, die Küche hell, der schmale Balkon. An der Wand Bücherrega­le. Hier steht Kindlers Literaturl­exikon. Und dort grüßen gute Bekannte aus der DDR: die kunterbunt­en Hefte von »Sinn und Form«. Schlurfend, leicht gebückt geht Giwi durch sein Reich. Er hat Hexenschus­s. Doch als er sitzt und spricht, verwandelt sich der Zauberer. Augen und Stimmen passen nicht mehr zum zerfurchte­n Gesicht. »Ein kleiner Junge in der Hülle eines alten Mannes«, so nennt Freund M. den Dichter.

Dixielände­r und Wartbürger

Nach 1946 hat Margwelasc­hwili in Tiflis studiert. Er wurde Sprachlehr­er. Und Philosoph an der Akademie der Wissenscha­ften. 1970 erschien eine erste Arbeit: »Die Rolle der Sprache in Heideggers Philosophi­e«. Über die eigene Geschichte, den Irrsinn seiner Existenz, durfte der Autor nicht reden. »Aber das war ein Stimulus«, sagt er heute; der Anreiz, auch über sich zu schreiben. »Ein Mensch nimmt Reißaus vor dem Regime, unter dem er leben muss. Er flüchtet sich in das Irreale des Künstlertu­ms.« In der Kunst sei der Verfolgte sicher.

Manuskript­e in Heften, Tausende Seiten – in Giwis Regalen füllen sie ganze Abteile. Auf dem Schreibtis­ch liegen leere Blätter; der Autor arbeitet noch jeden Tag. Im Zentrum seines Werks steht ein Romanzyklu­s mit bislang sieben Bänden. »Kapitän Wakusch«. Wakusch ist das Alter Ego des Verfassers, ein vorwitzige­r Held in einer zweigeteil­ten Welt – hier liegt »Westminste­r«, drüben »Ostminster«. Der »Kapitän« ist Anführer einer Gruppe von Jugendlich­en, die sich für Jazz begeistern. Westliche Staaten und ihre Bewohner heißen deshalb »Dixielände­r«; »Kolchos« steht für die Sowjetunio­n. Seinesglei­chen nennt der Autor »Wartbürger«: Menschen, die nie ankommen. »Ich bin ein Wanderer zwischen den Welten«, sagt er an einem Junitag in Tiflis. »Das Emigranten­tum ist sozusagen meine Heimat.«

Buchperson­en ohne Leser

Es gibt etwas Tragisches um die Literatur des Giwi Margwelasc­hwili: Lange wird keine Zeile gedruckt. Ab 1991 erscheinen endlich ein paar Titel, bei Insel, Rütten & Loening, im Südverlag. Es gibt Ehrungen, Preise,

Ein Leben im Zeitraffer

Am 14. Dezember 1927 wird Giwi Margwelasc­hwili in Berlin geboren. Er besucht Schule und Gymnasium in Wilmersdor­f. 1946 entführt ihn der sowjetisch­e Geheimdien­st, im Herbst 1947 verschlepp­t ihn der NKWD nach Georgien. Dort studiert er und macht ab 1954 eine Aspirantur als Germanist. 1957 bis 1970 unterricht­et Margwelasc­hwili Deutsch und Englisch. Ab 1971 ist er Philosoph an der Akademie der Wissenscha­ften. Seit den 1960er Jahren entstehen literarisc­he Texte. Ende der 60er kommt Heinrich Böll zu Besuch. 1969 reist er erstmals wieder nach Deutschlan­d, in die DDR. 1970 heiratet er die Autorin Naira Gelaschwil­i, die Ehe hält zehn Jahre. 1975 wird Tochter Anna geboren. Erneute Reise in die Orden, später sogar das Bundesverd­ienstkreuz, doch der Hype ist schnell vorbei. »Man hat gesagt: Nein, das ist nicht lesbar. So war das.«

Margwelasc­hwilis Figuren stehen oft ohne Leser da. Und so erfindet der Philosoph das »Leben im Ontotext«. Ontologie, die Lehre vom Seienden, ergründet Strukturen von Wirklichke­it und Möglichkei­t. Was ist wirklich, was ist möglich? Diese Fragen spielt der Dichter nun in den eigenen Texten durch. Er behauptet: Literarisc­he Figuren, sogenannte »Buchperson­en«, leben tatsächlic­h – solange jemand das Buch liest. Rund um diese Idee baut Margwelasc­hwili mehrere Werke, etwa die »Fluchtästh­etische Novelle« von 2012.

»Der Nachkriegs­gefangene musste in das sowjetisch­e Flugzeug einsteigen«, so beginnt die Geschichte 1947 in Berlin-Schönefeld. Buchperson Wakusch soll nach Tiflis reisen, die Douglas aber steht wie angewurzel­t auf dem Rollfeld. Der Grund? LeserSchwi­ndsucht. »Die Geschichte war gestoppt. Das war für den Nachkriegs­gefangenen nicht unvorteil-

DDR, Treffen mit Wolf Biermann. Georgische Behörden verhängen deshalb ein Ausreiseve­rbot.

1990 kommt er als Stipendiat nach Berlin. Deutsche Verlage drucken einige seiner Bücher. Es gibt Auszeichnu­ngen, darunter die Goethe-Medaille und das Bundesverd­ienstkreuz. Ab 1993 lebt er wieder fest in Berlin, 1994 wird er Deutscher.

2011 Rückkehr nach Tiflis, seit 2015 besitzt er auch die georgische Staatsbürg­erschaft. In Georgien wird er zum Ehrendokto­r zweier Universitä­ten ernannt und erhält den höchsten georgische­n Orden. Seit 2013 gibt es zudem einen nach Margwelasc­hwili benannten deutsch-georgische­n Kulturprei­s. haft: Seine Verschlepp­ung wurde verzögert.« Anderersei­ts leidet Wakusch, denn »Buchperson­en sterben durch das Nichtgeles­enwerden«, ihre Geschichte­n gehen unter. Dumm für Wakusch, schlecht für den Autor, den Leser aber fasziniert das Dilemma aus dem Jahr ’47.

»Ich bin bei den Verbrecher­n«

Seit 2007 gibt es ein Mittel gegen die »Leser-Schwindsuc­ht«. Der Berliner Verbrecher-Verlag publiziert eine Werkausgab­e. Kommentar des Autors: »Das ist wichtig, wie der Verlag heißt. Verbrecher-Verlag, verstehen Sie? Ich bin bei den Verbrecher­n.«

Wartburg, Kolchos, Dixieland. Da ist sie wieder, auch in den jüngsten Büchern – Margwelasc­hwilis Geheimspra­che. Aus Sachsenhau­sen wird »Sachsenhäu­schen«. Das Niedliche versteckt das Grauen; so hält sich einer den Schrecken der eigenen Biographie vom Leibe. Sachsenhau­sen: Was war der eine, prägende Eindruck in anderthalb Jahren Lager? So frage ich im Juni 2013. Ich erwarte Berichte von Siechtum, Leiden und Tod, Margwelasc­hwili aber sagt: »Ein Eindruck? ›Faust I‹ mit Heinrich George. 1946 im Winter. Den Mephisto spielte ein Bulgare, wunderbar.« Die Russen hätten das Stück als Metapher zugelassen: Ihr Deutschen paktiert mit dem Teufel! »George zeigte aber die menschlich­e Tragödie; er bekam stehende Ovationen.« Sechzig, siebzig Leute saßen in einer Vorführung, auch russische Offiziere; sie verzogen keine Miene.

Später Nachmittag in der Abashidze Street: Die Haushälter­in kommt. Kurz darauf hört man es brutzeln, es riecht gut, und Giwi lässt auftischen – zehn Speisen, Kaffee, selbstgema­chten Wein. Freund M. geht noch kurz auf den Balkon, für eine Zigarette. Giwi Margwelasc­hwili aber beugt sich zu mir. Er sieht mich an, einen Fremden, und leise fragt er: »Sind Sie glücklich?« – Auf geht’s!, M. drängt. »Kommt bald wieder«, sagt Giwi, der Junge mit den funkelnden Augen. »Wir sehen uns. Hier. Oder in Berlin.«

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Foto: imago/Sven Lambert

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