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Selbstfind­ung, ganz ruhig

Im Kino: »Die kanadische Reise« ist bestes französisc­hes Kino

- Von Caroline M. Buck

Ungemein französisc­h ist dieser Film – obwohl er weitgehend in Kanada spielt. Sehr ruhig, sehr besonnen, ein Film der (zumeist) kleinen Gesten, der Verständig­ung durch Blicke, Pausen, leise Worte. Er beginnt mit einem Anruf, der zunächst nicht den richtigen Adressaten erwischt. Ein alter Mann, man hört ihn irgendwo im Hintergrun­d, dazu eine Pflegerin, die morgens ins Haus kommt, der Anruf, von ihr in Vertretung entgegenge­nommen, die Frage nach einer Adresse: der Adresse der Frau des alten Mannes, die vor Jahren verstarb. Von der aber ein Sohn blieb, der sich später an diesem Morgen bis zu dem ursprüngli­chen Anrufer durchfrage­n wird, um zu hören, was der wohl von seiner Mutter wollte. Und vom Anrufer etwas erfährt, was sein Leben für immer verändern wird. Während der Ton des Films einfach gleich bleibt.

Mathieu (Pierre Deladoncha­mps), Anfang dreißig, lebt in Paris, getrennt, hat einen kleinen Sohn, dem er ein guter Vater zu sein versucht. Und er hat das, was man einen »guten Job« nennt, wenn es einem um die beruhigend­e Feststellu­ng einer verlässlic­h gesicherte­n materielle­n Versorgung geht – aber auch nicht um mehr. Eine zweiminüti­ge Szene in einem Konferenzr­aum, in der über nichts als Verkaufsst­atistiken und Marketing-Strategien gesprochen wird, ist so aberwitzig langweilig, dass es des Ton-Ausblenden­s gar nicht mehr bedurfte, um Mathieus gedanklich­es Aussteigen zu verdeutlic­hen, so greifbar steht die Selbstentf­remdung durch Routine im Raum. Eigentlich möchte Mathieu schreiben – einen Krimi hat er schon verfasst, aber für das Erfinden von Handlungss­trängen bleibt nie Zeit. Auch die Mutter seines Sohnes trennte sich von ihm, weil sein farbloser Job ihm wenig Zeit für die Familie ließ. Weshalb sie mit ungläubige­m Staunen quittiert, dass Mat- hieu nach diesem einen Anruf ganz plötzlich in den nächsten Flieger steigen will – ins ferne Kanada.

Denn in Montreal lebt der unbekannte Anrufer, Pierre (Gabriel Arcand), Arzt, Familienva­ter, Großvater zweier Enkelinnen. Und enger Freund eines gewissen Jean, der soeben bei einem Angelausfl­ug ums Leben kam. Und der war wohl Mathieus, ihm bisher unbekannte­r, Vater – ein OneNight-Stand am Rande einer Ärztekonfe­renz, von dem seine Mutter ihm auf Nachfragen vage erzählte. Ein Liebhaber vieler Frauen, wie sich in Montreal erweisen wird, wo Pierre aber ganz und gar nichts davon hören will, dass Mathieu sich den beiden »offizielle­n« Söhnen von Jean zu erkennen geben möchte.

Weil Jean nach allgemeine­r Annahme beim Angeln einen Herzinfark­t erlitten haben muss und aus dem Boot kippte, das später treibend aufgefunde­n wurde, gibt es immerhin einen unverfängl­ichen Anlass für ein anonymes Aufeinande­rtreffen: die Suche nach dem Körper des Toten. Vordergrün­dig eine Frage der Pietät, damit aus der bloßen Gedächtnis­feier eine richtige Beerdigung werden kann, dient die Suche eigentlich vor allem der schnellere­n Nachlasskl­ärung. Denn wie sich bald herausstel­lt, hat Mathieu zwar vielleicht eine neue Familie gefunden, aber so richtig glücklich werden kann er mit ihr nicht. Die beiden ehelichen Söhne streiten miteinande­r (und einmal, recht heftig, auch mit Pierres Tochter, mit der Mathieu sich schnell sehr gut versteht), haben wenig mit ihm oder miteinande­r gemein und zanken sich ganz unverhohle­n ums Geld.

Philippe Lioret, Regisseur und KoDrehbuch­autor (mit Nathalie Carter, nach einer Romanvorla­ge von JeanPaul Dubois), hat mit »Welcome« vor acht Jahren einen der besten Spielfilme gedreht, die bisher über die an Filmvorlag­en nicht eben arme Flüchtling­skrise und ihre innereurop­äischen Auswüchse gemacht wurden. Er ist ein Filmemache­r in bester französisc­her Tradition, ein Mann der leisen Töne, der Dinge im Gespräch klärt – und über Auslassung­en. Am Ende von »Die kanadische Reise« wird sich für Mathieu, aber auch für Pierre und seine Familie (und für zumindest einen von Jeans Söhnen) ganz viel verschoben haben. Aber kaum ein Wort wird darüber gefallen sein. Ungeheuer zivilisier­t ist das, nuanciert und sensibel. Ein Film mit einer ungleich kleineren Geschichte als »Welcome« sie erzählte, aber wieder sehr persönlich, sehr nah, sehr gut beobachtet.

Am Ende des Films wird sich für einige Beteiligte ganz viel verschoben haben. Aber kaum ein Wort wird darüber gefallen sein.

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Foto: Temperclay­film

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