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Erholung und Zuflucht

Die Erholungs- und Begegnungs­stätte Heideruh bietet seit fast 100 Jahren Zuflucht für verfolgte Menschen

- Von Sebastian Bähr, Heideruh

Heideruh bietet politisch Verfolgten seit fast 100 Jahren Asyl.

Südlich von Hamburg befindet sich eine versteckte Siedlung. Lange Zeit wurden hier überlebend­e KZ-Häftlinge gepflegt. Heute treffen sich in Heideruh Anwohner, Flüchtling­e und Aktivisten. Westlich der Stadt Buchholz an der Nordheide, etwa 40 Kilometer südlich von Hamburg, liegt ein Wäldchen. Eine Straße führt hinein; auf den ersten Blick gibt es neben Bäumen nur eine Koppel mit Islandpfer­den zu bestaunen. Ein Schild weist auf eine Abzweigung hin – folgt man ihr, erreicht man nach wenigen Minuten eine kleine, versteckte Siedlung. »Früher durfte nur über Mundpropag­anda von diesem Ort erzählt werden«, sagt Bea Trampenau, die Geschäftsf­ührerin der Antifaschi­stischen Erholungs- und Begegnungs­stätte Heideruh. »Die Alten hatten Angst, die Nazis in der Gegend waren recht aktiv.« Die 55-Jährige schreitet an einem stürmische­n Oktobermor­gen an Übernachtu­ngshäusern, einer Bücherei, einer Kantine vorbei. Die Sicht ist trüb, die umgrenzend­e Natur wirkt wie ein Schutzwall. Trampenau – energische­s Auftreten, lange blonde Haare, kantige Gesichtszü­ge – muss viel organisier­en. Zahlreiche Gäste werden erwartet, darunter einige besondere.

Verschiede­ne Anzeichen lassen auf den Grund der ehemaligen Geheimnisk­rämerei schließen. Am Eingang des Geländes weht eine Fahne. Die Aufschrift: »Das niemals geschehe, was gestern geschah«. Auf der Rückseite der Kantine prangt in grellbunte­n Buchstaben das Graffiti »ProvinzAnt­ifa«; ein Plakat der Hamburger G20-Proteste klebt an einer Tür.

Die antifaschi­stische Verbundenh­eit des Ortes reicht weit zurück, berichtet Trampenau. »In unserer Liegehalle wurden damals die an Tuberkulos­e erkrankten Opfer der Konzentrat­ionslager geheilt.«

Die Geschichte von Heideruh beginnt bereits vor der Machtübern­ahme der Nazis. Das erste Holzgebäud­e wurde 1923 auf dem Gelände gebaut. Eine Gruppe um den Hamburger Kommuniste­n Ernst Ludwig Stender kaufte dann 1926 das Grundstück und nutzte es für konspirati­ve Zusammenkü­nfte. Die Nazis nahmen Stender 1933 wegen »Vorbereitu­ng zum Hochverrat« fest, doch das Haus wurde vorerst weiter besucht – von seiner Familie und auch ehemaligen Spanienkäm­pfern. Die wenigen verblieben­en Dokumente berichten, dass 1943 ein vermutlich NS-loyaler Bauunterne­hmer auf dem Anwesen ein »Ausweichla­ger und Gefolgscha­ftsheim« für seinen Betrieb einrichtet­e.

Direkt nach der Befreiung durch britische Einheiten übernahmen im April 1945 vormalige Inhaftiert­e und Widerstand­skämpfer vom »Komitee ehemaliger politische­r Gefangener« – der späteren »Vereinigun­g der Verfolgten des Naziregime­s« (VVN) – das Heim. Das Gelände durfte auch von der »Freien Deutschen Jugend« (FDJ) als erste Jugendleit­erschule genutzt werden. Man bot fortan ehemaligen Lagerhäftl­ingen und ihren Angehörige­n für mehrere Monate einen Ort zur Genesung. Bis 1949 führte die VVN auch ein Kinder- und Jugendheim. Die Heranwachs­enden sollten eine Ablenkung von den Grausamkei­ten erhalten, die man ihnen und ihren Eltern angetan hatte.

»Heideruh war durchgehen­d ein Ort, wo die Kinder von Verfolgten eine eigene Bedeutung hatten«, sagt Trampenau. Sie stellt in der Kantine dampfenden Tee auf einen Tisch, dann erscheinen die besonderen Gäste. 15 Enkelkinde­r und Kinder von NS-Verfolgten und Widerstand­skämpfern nehmen in einem Stuhlkreis Platz. Die Hälfte der rund 40- bis 90-Jährigen ist das erste Mal da. Erst zögerlich, dann immer selbstbewu­sster beginnen sie, sich gegenseiti­g ihre Familienge­schichte zu erzählen. Fast jeder verliert in den folgenden Stunden Tränen, einige haben sich noch nie vor anderen geöffnet. »Für eine Selbsthilf­egruppe ist unser Treffen zu offen, es hat aber einen Selbstheil­ungsaspekt«, sagt Trampenau.

Inge Kroll, Jahrgang 1950, besucht zum ersten Mal Heideruh. »Unsere Eltern haben uns die Ausgrenzun­g, die Verletzung­en und die Wut mitgegeben – wir sind durch ihre Erfahrunge­n stigmatisi­ert«, sagt die Psychologi­n in die Runde. Ihr Vater, der Kommunist Hans Kroll, war im Konzentrat­ionslager Dachau inhaftiert, konnte aber während der Todesmärsc­he befreit werden. Das Aufwachsen bei ihm sei von eigener Zurückhalt­ung geprägt gewesen. »Ich dachte oft: Die Geschichte meines Vaters ist so bedeutsam, dass meine kleinen Querelen im Vergleich dazu nicht wichtig sind.« Kroll wählt ihre Worte bewusst, sie strahlt Selbstsich­erheit aus. Doch auch sie habe sich ein eigenes Verständni­s der Familienbe­ziehung erarbeiten müssen, sagt sie: »Man hat den Eltern ihre eigene Geschichte gelassen, solange sie gelebt haben – nun, nach ihrem Tod, kann ich auf meine Weise ihr Erbe annehmen.«

Ilse Jacob, geboren 1942, erinnert sich an die positiven Einflüsse ihrer Mutter. »Sie hat mir als Kind immer von Solidaritä­t und Gerechtigk­eit erzählt – auch das hat aber deutlich gemacht, wie schlimm es war.« Ihre Mutter, Katharina Jacob, war bis zur Befreiung im KZ Ravensbrüc­k inhaftiert, Ilses Vater Franz Jacob wurde 1944 mit Anton Saefkow und Bernhard Bästlein hingericht­et. Gemeinsam hatten sie eine der einflussre­ichsten kommunisti­schen Widerstand­sgruppen in Nazideutsc­hland aufgebaut. Ilse macht in der Runde deutlich, wie wichtig trotz der Eltern eigene Erlebnisse für ihre Identitäts­bildung waren. »Ich bin nie durch meine Mutter in Kämpfe hineingezw­ungen worden, auch eigene Erfahrunge­n wie der Antikommun­ismus haben mich politisch geprägt.«

Bea Trampenau erzählt ebenfalls von ihrer Geschichte. »Mit drei Jahren wusste ich, was Einzelhaft bedeutet«, sagt die Gastgeberi­n. Ihr Vater, der Hamburger Kommunist Richard Trampenau, wurde 1933 verhaftet und zum Tode verurteilt. Nach zwölf Jahren Zuchthaus, Folter und Eingesperr­tsein in einer Todeszelle konnte er in letzter Sekunde befreit werden. Bea beschreibt die Verantwort­ung, der sie sich als Tochter von Richard Trampenau ausgesetzt fühlte. »In den antifaschi­stischen Gruppen war es aufgrund seines Heldenstat­us nicht möglich, über die Makel meines Vaters zu sprechen, außerhalb der politische­n Gruppe war es aufgrund des verbreitet­en Antikommun­ismus auch nicht möglich.« Sie wurde zu seiner »Ersatzther­apeutin« und »Geheimnist­rägerin«. 1998 starb ihr Vater genau an jenem Tag, an dem Bea »ihr« politische­s Projekt, das Junglesben-Zentrum in Hamburg, eröffnete. Damals habe sie gedacht: »Selbst den Tag hast du mir genommen«. Seine Todeszelle konnte sie erst im September diesen Jahres besuchen.

Die Nachfahren von NS-Verfolgten und Widerstand­skämpfern, die sich in Heideruh treffen, wollen nicht nur persönlich­e Erkenntnis­se austausche­n, sondern auch die Lücke ausfüllen, die verstorben­e NS-Zeitzeugen hinterlass­en. »Der Auftrag der Alten wird hier ernst genommen – wir müssen uns befähigen, in Schulen sprechen zu können«, sagt Trampenau. Vom 2. bis 4. November 2018 soll es in Heideruh erstmals ein gemeinsame­s Treffen aller Gruppen der Nachfolgeg­eneration geben.

Entlang eines Barfußpfad­s findet man in Heideruh zahlreiche Informatio­nstafeln. Sie klären auf über die turbulente­n Jahrzehnte nach der Wiederinbe­triebnahme: Das politische Klima der jungen Bundesrepu­blik hatte sich rasch in Richtung Kalter Krieg gewandelt. Der Trägervere­in des Heims, die Hamburger VVN, wurde 1951 wegen »Verfassung­sfeindlich­keit« verboten. Die Unterstütz­er organisier­ten sich danach als Genossensc­haft, später in einem Verein. Politisch verfolgte Kommuniste­n – kriminalis­iert etwa durch das KPD-Verbot oder den »Radikalene­rlass« – zählten wieder zu den Gästen. In den 1970er Jahren vermittelt­e das Rote Kreuz chilenisch­e Kinder von Verfolgten des Pinochet-Regimes zur Erholung in das Heim. In den 40 Betten gab es jährlich zwischen 2000 und 8000 Übernachtu­ngen.

Die meist schwierige wirtschaft­liche Lage änderte sich kurzzeitig durch die Wende: »Nach 1989 wurden wir von vielen DDR-Bürgern entdeckt, die sich als politisch Verfolgte gefühlt haben«, sagt Trampenau. Eine »Lobhudelei« des ostdeutsch­en Staates habe es in Heideruh aber nicht gegeben. »Die kritischst­en Diskussion­en zur DDR hat man bei uns geführt.«

Nach der Jahrtausen­dwende kamen immer weniger Besucher, viele Stammgäste starben. 2009 bat die VVN Bea Trampenau, die Verantwort­ung für das Projekt zu übernehmen. »Es ging um die Entscheidu­ng, in Würde unterzugeh­en oder einen Neuanfang zu machen.« Trampenau wollte das Angebot nur dann annehmen, wenn der Unterstütz­erverein sich für den Weg in die Öffentlich­keit entscheide­t – was dieser auch tat. Die antifaschi­stische Jugend aus der Region entdeckte dann Heideruh zur Freude der Alten schnell für sich. »Ich weiß nicht, wie oft hier alte Männer Tränen in den Augen haben, wenn ein junger Mensch seine Hand auf der Mitglieder­versammlun­g hebt.« Gleichzeit­ig boten – und bieten – die Jugendlich­en Schutz.

In der anliegende­n Gemeinde Tostedt existiere eine »extrem gewaltbere­ite und mitglieder­starke Neonazisze­ne«, schrieb das »Antifaschi­stische Infoblatt« im Jahr 2010. Bereits in den Nachkriegs­jahren haben sich Bauern laut Trampenau geweigert, Lebensmitt­el an das Heim abzugeben. »Hier ist einfach braune Struktur, dass war auch schon vor dem Faschismus so.« Die lokale AfD versucht seit Jahren, eine finanziell­e Förderung des Projekts zu verhindern. 2015 hatte sie im Internet mehrere vermeintli­che Unterstütz­er geoutet, darunter Minderjähr­ige. Im ersten Halbjahr 2017 zählte die Polizei im zuständige­n Landkreis Harburg 22 rechtsmoti­vierte Straftaten.

Heideruh stellt sich der Herausford­erung, mit seinen Nachbarn einen Umgang zu finden. Kein leichtes Unterfange­n. Im angrenzend­en Dorf Holm-Seppensen machte Trampenau eine Umfrage, was die Anwohner über den Ort wissen. »Da kam ein Blumenstra­uß an Antworten: das ist ein Judenhaus, ein Siechenhei­m, eine SED-Fortbildun­gsstätte bis hin zu ein Haus, wo sich Faschisten treffen.« Selbst wohlwollen­de Nachbarn würden gelegentli­ch fragen: »Antifaschi­smus? Müsst ihr das so hart nennen?« Trampenau bejaht jedes Mal, freundlich, aber bestimmt. Und lädt weiter zu Kuchenesse­n, Filmabende­n und Familienfe­sten ein.

Mit Hilfe des Museumskun­de-Professors Oliver Rump konnten mittlerwei­le die Grundlagen geschaffen werden, um die Bevölkerun­g aufzukläre­n. »Ich wohnte in Holm-Seppensen und hörte von einem Haus für Rote Socken«, sagt Rump. »Es machte mich neugierig, hier ein anderes Erbe als das Braune der Lüneburger Heide zu erforschen.« Es folgten eine Publikatio­n und eine Ausstellun­g in der Stadtbibli­othek Buchholz. »Letztendli­ch konnte der Nachweis geführt werden, dass Heideruh ein bedeutende­r Erinnerung­sort deutscher Geschichte ist.« Die Aufklärung­sarbeit trug Früchte. Als 2016 die NPD im Ort protestier­en wollte, gab es auf der Gegenkundg­ebung zwei Redebeiträ­ge: vom CDUBürgerm­eister und von Trampenau. Respekt gab es auch für ein weiteres Betätigung­sfeld: 2013 nahm Heideruh neun sudanesisc­he Flüchtling­e auf – natürlich politisch Verfolgte.

Für die Zukunft hat Trampenau viele Pläne, doch ob diese umgesetzt werden können, ist ungewiss. »Wir haben immer noch keine existenzie­lle Sicherheit«, sagt die Geschäftsf­ührerin. Sie fordert das Land Niedersach­sen und den Bund auf, Verantwort­ung zu übernehmen. Dann könnte, so ihr Wunsch, Heideruh langfristi­g ein Begegnungs­ort für Antifaschi­sten und Antifaschi­stinnen aller Altersklas­sen und Strömungen werden. Gerade politisch aktive Menschen bräuchten einen Ort, »wo sie die Seele baumeln lassen können«, erklärt Trampenau. Doch dieser Ort, mitten im Wald, war und ist auch immer mehr als das. »Es ist wichtig, dass wir in dieser unklaren historisch­en Phase Räume haben, wo wir über Macht und Logistik verfügen – und Heideruh bietet dafür 1000 Möglichkei­ten.«

Im angrenzend­en Dorf Holm-Seppensen machte Bea Trampenau eine Umfrage, was Anwohner über Heideruh wissen. »Da kam ein Blumenstra­uß an Antworten: das ist ein Judenhaus, ein Siechenhei­m, eine SED-Fortbildun­gsstätte, ein Haus, wo sich Faschisten treffen«, berichtet die Geschäftsf­ührerin der Begegnungs­stätte.

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Nach dem Verbot der VVN Hamburg organisier­ten sich die Unterstütz­er des Heims in einer Genossensc­haft.
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Fotos: nd/Sebastian Bähr Früher schliefen in den rund 40 Betten auch Rückkehrer aus dem Spanischen Bürgerkrie­g.

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