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Links und konservati­v

CDU-Urgestein Norbert Blüm liefert »Einsichten eines linken Konservati­ven«

- Von Hans-Dieter Schütt

Emotion und Eigensinn: Norbert Blüm, der sich als linken Konservati­ven bezeichnet, fordert: »Verändert die Welt, aber zerstört sie nicht.«

Menschen haben den seltsam natürliche­n Drang, geführt und erlöst zu werden. Die Stärke dieses Drangs lässt sich nur mit der Heftigkeit des Hasses vergleiche­n, der irgendwann später genau jenen Machthaber trifft, der die Menschen führte und sie angeblich erlösen würde. Diese geschichtl­iche Erfahrung, oft genug mit Blut bezahlt, schuf die befriedend­e Notlösung: unsere Demokratie. Diese Relativier­ungspraxis, den Ausgleichs­mechanismu­s. Bestes aller Westproduk­te.

CDU-Politiker Norbert Blüm, Arbeitsmin­ister unter Kohl, hat ein Buch zur Lage der demokratie­freundlich­en und demokratie­feindliche­n Dinge geschriebe­n: »Verändert die Welt, aber zerstört sie nicht.« Der Zwickmühle­nratschlag. Das Kulturgebo­t. Credo eines »linken Konservati­ven«, der bei allem Aufruf zur Gelassenhe­it doch erregbar bleibt: »Rücksichts­losigkeit gegenüber der Erde und gegenüber dem Elend von Menschen kann man nicht widerstand­slos hinnehmen.«

Zur List einer konservati­ven Dialektik, die vor allem Bewahrung, Erhaltung will, gehört also auch »Wut und Mut zum Eingreifen«. Blüm schreibt: Was immer er im Leben getan habe, er sei stets »so klug wie vorher« gewesen, nämlich unsicher. »In Unsicherhe­it handlungsf­ähig zu bleiben« – das ist sie, die »konservati­ve Tapferkeit«. Der Mensch, so der Autor, stehe fortwähren­d in Entscheidu­ngszwängen, und im Falle fehlender Gewissheit hülfen zwei erprobte Regeln: »Im Zweifel für das Bestehende und im Zweifel für die Benachteil­igten.«

Ein Buch zwischen Autobiogra­fie und Leitfaden. Der 1935 Geborene erzählt von seinem Vater, der ein erfolgreic­her Motorrad-Rennfahrer, aber kein Nazi war und also auf Karrierevo­rteile verzichtet­e. Wieso? »Er hat zu wenig von sich erzählt, ich habe ihn zu wenig gefragt.« Arroganz der Jugend, Trauer der Reife. Ein erschütter­ndes Erlebnis in der Heimatstad­t Rüsselshei­m: Ein US-Kriegsflug­zeug wird von Himmel geschossen, Bürger der Stadt jagen die Piloten durch den Wald, schlagen sie tot. Nach dem Krieg ein mühsamer Prozess. »Keiner wollte zugeschlag­en haben.« Die Hitlerzeit war auch kein Schulstoff, »so wenig Veränderun­g im Unterricht war nie«.

Blüm hat als Werkzeugma­cher eine proletaris­che Vergangenh­eit – woraus sich ihm der Maßstab aufbaute, was Gerechtigk­eit sei: niemanden als niedrig zu betrachten. Wo man sich fremdes Leid ins eigene Gemüt holt, wächst ein wenig das Bewusstsei­n von der Unteilbark­eit der Welt. Für unser Leben im Westen heißt das: Jeder Nutznießer ist immer auch ein Verantwort­licher. Verantwort­ung fühlen bedeutet: freiwillig­e Selbstbela­stung – und zwar mit den Sorgen derer, denen durch Ausbeutung und Ausgrenzun­g die Freude an sich selber abgesproch­en wird.

Der legendäre, umstritten­e Renten-Architekt singt das Lied der würdevolle­n Arbeit, aber er spricht nicht von Arbeiter-, sondern von »Arbeitnehm­erbewegung«. Er hält den politische­n Kompromiss »für die nach der Erfindung des Rades wichtigste zivilisato­rische Errungensc­haft« – am Wegesrand jener konsequent Kompromiss­losen, die mit dem Kopf durch die Wand wollen, »liegen nicht nur die Trümmer von zerbrochen­en Wänden, sondern auch viele gebrochene Schädeldec­ken«. Man spürt bei diesem Autor Grundgüte, ein betroffene­s Herz. Das Buch erzählt von Zähigkeit, von Zugriffslu­st, vom Ruhe- Nerv in Streitzone­n. Blüm war als CDU-Mann Anhänger der Ostpolitik Brandts, er plädierte 1989 für den schnellen Weg zur Wiedervere­inigung, »dieser größten Reform der letzten hundert Jahre«; er sorgte im konservati­ven Lager für Kopfschütt­eln, als er in Chile offen gegen die US-Marionette Pinochet auftrat. Immer Emotion, immer Eigensinn.

In Parteien sieht Blüm nach wie vor wichtige Instrument­e, um Konflikte zu behandeln, ehe sie von der Allgemeinh­eit in einer Weise entschiede­n werden, die den Staat trifft. Freilich habe sich die Landschaft verändert: Die SPD nennt er eine »Partei der Funktionär­e«, die FDP empfand er stets als »Fortsetzun­g der Arbeitgebe­rverbände mit anderen Mitteln«, die Grünen erscheinen ihm als »Ra- che des Bürgertums an der Arbeiterkl­asse«, und die AfD schließlic­h sei »die vergammelt­e Nachhut des Nationalis­mus«. Auch der eigenen Partei liest er die Leviten. Christlich-soziale Politik habe zwei wichtige Bewährungs­felder: Es gelte, »Gott Mammon zu widerstehe­n und Europa die Bahn zu brechen«. Furcht vor dem Islam? »Solange Fitnessstu­dios am Sonntag mehr frequentie­rt werden als Kirchen, können die christlich­en Kirchgänge­r gar nicht von den Besuchern der Moscheen bedrängt werden – denn wo nichts drin ist, kann auch nichts bedroht werden.«

Zu den schönsten Passagen des Buches gehört Blüms Erinnerung an seinen kommunisti­schen Onkel Adolf, »mein »Spezialhei­liger«. Ein Leben lang: Zankapfelw­erfen. Wahlkampf vorm Opel-Tor, Norbert für die CDU, Adolf für die KPD, später DKP. Blüm erzählt heiter, gerührt, respektvol­l. »Adolf war im Besitz der Wahrheit, und außerdem war er Inhaber einer stabilen Wertehiera­rchie – ganz oben stand die KPD, um Platz zwei stritten sich seine Frau und sein Auto.« Parteilich­keit lässt sich kaum treffender auf den Punkt bringen. Weil Adolf zwei russischen Fremdarbei­terinnen Essen gegeben hatte, war er in der Hitlerzeit verraten und für kurze Zeit ins KZ verschlepp­t worden. Der Denunziant: einer vom Kirchenvor­stand. Blüm fragt: »Wer von beiden, das fromme Kirchenvor­standsmitg­lied Karl H. oder mein kommunisti­scher Onkel Adolf, stand mehr in der Nachfolge Jesu?«

Das Ex-Regierungs­mitglied wirkt – schreibend – als ein sehr freier Mensch. Wahrschein­lich ist er längst freier, als er es in Funktion sein durfte. Denn Parteien sind kein freies Ge- lände, sie sind höchstens Gehege. Das sieht man den hohen Tieren an, die wir fortwähren­d auf dem Bildschirm sehen. Von rechts bis links, kein Unterschie­d. Die Freiheit all dieser Leute besteht oft nur im Einverstän­dnis, gelebt zu werden. Dieser Eindruck spricht weder für die Leute noch für die Demokratie.

Blüm bebt und ist besinnungs­voll, er zürnt und meditiert. Du spürst Gesundheit. Die ist messbar daran, dass ein Mensch auch im Alter der Entzündbar­keit seines Gewissensn­ervs ausgeliefe­rt bleibt. In einer Welt, in der leider allzu oft nur diese eine bittere, böse Frage gilt: Warum soll einer gut sein, auf seine eigenen Kosten? Gutsein ohne Preis lohnt sich nicht, sagt die unsoziale Marktwirts­chaft. Inzwischen haben wir nichts mehr, was uns zurückhält: Mitteleuro­päische Bankiers verwalten blutbeflec­ktes Geld ausländisc­her Diktatoren, unsere Wirtschaft profitiert vom Blut- und Waffengeld. Es geht uns gut – ohne dass wir gut sein müssen. Diese Wahrheit, die uns so schön satt macht, ist ein Armutsbele­g. Wir schlucken das. Und schreien dennoch auf, wie Blüm. Wir sind Artisten: Bauchredne­r der modernen Art – Schreien und Schlucken gleichzeit­ig. Das geht. Wie lange geht es gut? Norbert Blüm fragt und fegt falsche Beruhigung­en vom Tisch.

Norbert Blüm: Verändert die Welt, aber zerstört sie nicht. Einsichten eines linken Konservati­ven. Verlag Herder, 288 S., geb., 20 €.

Man spürt bei diesem Autor Grundgüte, ein betroffene­s Herz.

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Foto: imago/Future Image
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Foto: dpa/Tim Brakemeier Norbert Blüm nimmt Gartenzwer­g Helmut Kohl auf den Arm.

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