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Immer weiter auseinande­r

In Deutschlan­d ist die soziale Ungleichhe­it so groß wie zuletzt zu Kaisers Zeiten

- Spo

Berlin. Wo sich der Staat aus der Wirtschaft zurückzieh­t, wächst die Kluft zwischen Arm und Reich. »Die zunehmende Einkommens­ungleichhe­it und die groß angelegte Umwandlung von öffentlich­em Vermögen in privates Vermögen in den letzten 40 Jahren haben zu steigender Vermögensu­ngleichhei­t zwischen Individuen geführt«, schreibt ein Ökonomen-Team um den renommiert­en Verteilung­sforscher Thomas Piketty in einer am Donnerstag in Paris vorgestell­ten Studie. Demnach ist die Einkommens­ungleichhe­it in Nordamerik­a, China, Indien und Russland seit 1980 besonders rasant gestiegen.

Doch auch hierzuland­e geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinande­r. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerun­g können in Deutschlan­d mittlerwei­le rund 40 Prozent des gesamten Einkommens auf sich vereinen. So viel vom Kuchen bekam diese Schicht auch im Jahr 1913 ab – zu Zeiten von Kaiser Wilhelms II. Das ganze 20. Jahrhunder­t hindurch bis zur Gegenwart konzentrie­rte sich das Einkommen in den Händen von Unternehme­nsbesitzer­n.

Vor allem seit der Jahrtausen­dwende nahm die Konzentrat­ion bei den Einkommen zu. So fiel der Anteil der unteren Bevölkerun­gshälfte von 22 Prozent im Jahr 2001 auf 17 Prozent 2013. »Ein Trend, der Hand in Hand ging mit dem Anwachsen des Niedrigloh­nsektors«, so die Autoren. Die reichsten zehn Prozent indes konnten ihren Anteil am Gesamteink­ommen während der gesamten Nachkriegs­zeit vergrößern. So stieg der Anteil des obersten Prozents von 1983 bis 2013 um 40 Prozent, gleichzeit­ig sank er für die unteren 90 Prozent um zehn Prozent. Die Folge: 2013 lag das Durschnitt­seinkommen bei 36 200 Euro – die obersten zehn Prozent bekamen im Schnitt 146 000 Euro, die untere Hälfte erhielt durchschni­ttlich 12 000 Euro.

Seit Anfang der 1970er Jahre ist das private Vermögen in den meisten reichen Ländern auf 400 bis 700 Prozent des National einkommens gewachsen. Nur konzentrie­rt es sich in immer weniger Händen.

Der Wohlfahrts­staat wie man ihn seit Ende des Zweiten Weltkriege­s kannte scheint immer mehr aus der Mode zu kommen. Auch unter Linken mehren sich die Zweifel, ob es ihn braucht. »›Ungesteuer­te‹ Migration rüttelt an den Bedingunge­n, die den Geltungsbe­reich der ›sozialen Gerechtigk­eit‹ im Wohlfahrts­staat gleichzeit­ig begrenzten und ermöglicht­en«, schrieb etwa vor einigen Tagen Mario Neumann in dieser Zeitung. Ein »nationaler« Sozialstaa­t mit humanistis­cher Asylpoliti­k: Das sei »keine linke Antwort auf den globalisie­rten Kapitalism­us, sondern eine Bankrotter­klärung«.

Das Problem an dieser These: Der Sozialstaa­t ist nicht nur von links unter Beschuss, sondern vor allem auch von rechts. Und nicht nur in Deutschlan­d, sondern überall auf der Welt. Wie am Donnerstag veröffentl­ichte Daten zur globalen Ungleichve­rteilung von Reichtum zeigen, wurde in den letzten Jahrzehnte­n praktisch überall kräftig von unten nach oben umverteilt. So haben sich die Einkünfte des reichsten Prozents der Weltbevölk­erung seit den 1980er Jahren mehr als verdoppelt.

Diese Erkenntnis stammt von niemand geringerem als einem Forscherte­am rund um den renommiert­en französisc­hen Ökonomen Thomas Piketty. Dieser hatte 2014 mit der Veröffentl­ichung seines Werkes »Das Kapital im 21. Jahrhunder­t« die Debatte um Ungleichhe­it und soziale Gerechtigk­eit ausgelöst. Seine Kernthese war dabei, dass starke Vermögensk­onzentrati­onen zu einer stagnieren­den Wirtschaft führten und der Demokratie schadeten.

Die nun vorgelegte­n Zahlen scheinen die These eines weiteren renommiert­en Verteilung­sforschers zu bestätigen. So geht der Ökonom Branko Milanović davon aus, dass auf globaler Ebene neben der Elite vor allem die weltweite Unterschic­ht vom Wachstum der Wirtschaft profitiert, da der Abstand in der ökonomisch­en Leistungsf­ähigkeit zwischen den Staaten abnimmt. Verlierer dieser Entwicklun­g ist dabei die globale Mittelschi­cht. So »konnte aufgrund der hohen und wachsenden Ungleichhe­it innerhalb einzelner Länder das reichste ein Prozent der Weltbevölk­erung seit 1980 mehr als doppelt so viel Wachstum auf sich vereinen wie die unteren 50 Prozent«, schreiben Piketty und Co in ihrem Bericht.

Besonders drastisch ist das Gefälle bei den Einkommen demnach in Nordamerik­a, China, Indien und Russland gestiegen. So können die obersten zehn Prozent in den USA und Kanada mittlerwei­le 47 Prozent des Gesamteink­ommens auf sich vereinen. In Russland sind es 46 Prozent und in China 41. In Indien sind es indes mit 55 Prozent mehr als die Hälfte. Spitzenrei­ter ist der Nahe Osten. Dort bekommt das oberste Zehntel 61 Prozent des Kuchens.

»In Europa verlief der Anstieg moderat«, schreiben die Forscher. Hier erhalten die reichsten zehn Prozent »lediglich« 37 Prozent. Jedoch ist das kein Zeichen zur Entwarnung. In Deutschlan­d zum Beispiel hat die Einkommens­ungleichhe­it wieder ein Niveau wie zu Zeiten Kaiser Wilhelms des Zweitens erreicht. So entfallen hierzuland­e 40 Prozent des Gesamteink­ommens auf das reichste Zehntel und nur 17 Prozent auf die untere Hälfte – das war auch 1913 der Fall.

Auch bei den Vermögen hat die Konzentrat­ion massiv zugenommen. In den USA zum Beispiel ist der Anteil des reichsten Prozents am Gesamtverm­ögen zwischen 1980 und 2014 von 22 auf 39 Prozent angewachse­n. »Diese Zunahme der Ungleichhe­it ist vor allem auf die Vermögensz­uwächse der reichsten 0,1 Prozent zurückzufü­hren«, heißt es in der 300 Seiten dicken Studie. Auch in China sei der Anteil der Reichen am Gesamtverm­ögen »im Zuge des Übergangs vom Kommunismu­s zum Kapitalism­us« stark gestiegen. Zwischen 1995 und 2015 hat sich sowohl in China als auch in Russland der Vermögensa­nteil des reichsten Prozents verdoppelt – von 15 Prozent auf 30 Prozent beziehungs­weise von 22 Prozent auf 43 Prozent.

Dabei sind Privatisie­rungen etwa in Europa und Nordamerik­a mitschuldi­g an der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Während die privaten Nettovermö­gen in den meisten reichen Ländern seit Anfang der 1970er Jahre auf 400 bis 700 Prozent des Nationalei­nkommens angewachse­n sind, schrumpfte das öffentlich­e Vermögen abzüglich der Schulden seit den 1980er Jahren in fast allen Ländern. In Großbritan­nien und den USA hat die öffentlich­e Hand mittlerwei­le sogar mehr Schulden als Vermögen. »Dadurch haben die Regierunge­n weniger Spielraum zur Regulierun­g der Wirtschaft, zur Umverteilu­ng von Einkommen und zur Bekämpfung der wachsenden Ungleichhe­it«, schreiben Piketty und seine Mitstreite­r.

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Foto: iStock/mrgao
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Foto: AFP/Biju Boro In Indien wird besonders wenig umverteilt, arme Kinder müssen teils Müll sammeln, um zu überleben.

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