nd.DerTag

Alternativ­er Nobelpreis 2017

Die blinde Anwältin Yetnebersh Nigussie kämpft für gleiche Bildungsch­ancen für Menschen mit Behinderun­gen

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Die Kämpfe um Menschenre­chte sind so vielfältig wie die Menschen, die sie führen.

Vor Ihnen haben bereits drei Äthiopier den Right Livelihood Award erhalten, Sie aber sind die erste Preisträge­rin aus Äthiopien. Was bedeutet das?

Das eröffnet ein neues Kapitel. In Äthiopien steckt die Agenda der Frauenrech­te noch in den Kinderschu­hen, für Frauen sind solche Erfolge Ausnahmen. Ich hoffe, dass viele Mädchen und Frauen dadurch ermutigt werden, für ihre Rechte einzutrete­n.

Sie sind auch der erste Mensch mit Behinderun­g überhaupt, der mit dem Preis ausgezeich­net wurde ... ... und das hat eine Signalwirk­ung auf der ganzen Welt. Im Umgang mit Menschen mit Behinderun­g wird meistens darauf fokussiert, was die Personen alles nicht machen können. Die Auszeichnu­ng würdigt und feiert stattdesse­n nicht nur meine, sondern die Millionen von Fähigkeite­n aller Menschen mit Behinderun­gen.

Wie schwierig war Ihre Ausbildung zur Anwältin?

Bildung ist in Äthiopien für Kinder mit Behinderun­g nicht vorgesehen. Als ich aufwuchs, war es blinden Kindern nicht erlaubt, die Schulen in den Dörfern zu besuchen. Meine Mutter und meine Großmutter schickten mich deshalb an eine spezielle Schule 800 Kilometer entfernt, die ich bis zur sechsten Klasse besuchte. Solche Schulen sind aber sehr teuer, weshalb ich ab der siebten Klasse an eine staatliche Schule musste. An staatliche­n Schulen gibt es jedoch keine Vorstellun­g von Inklusion: Es gab keine Bücher in Blindensch­rift, und ich war darauf angewiesen, dass Freunde von mir Bücher oder die Fragen in Examen vorlasen.

Die UNESCO-Salamanca-Erklärung von 1994 bekräftigt das Recht auf Bildung für alle. Was hat sich seither geändert?

Die Nachhaltig­en Entwicklun­gsziele der Vereinten Nationen setzen zwar das Ziel der Inklusion im Bildungssy­stem, aber viele Regierunge­n glauben nicht, dass es sich lohnt, in Kin-

der mit Behinderun­gen zu »investiere­n«. Da betreiben wir Lobbyarbei­t, sprechen mit Kreditgebe­rn wie dem deutschen Bundesmini­sterium für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g, der Europäisch­en Union oder der Globalen Partnersch­aft für Bildung, damit diese Gelder für inklusive Bildung bereitstel- len. Wir von »Light for the World« arbeiten mit Schulen in Äthiopien, Burkina Faso oder Mosambik, um dort inklusive Proto-Schulen zu etablieren, die als Vorbild für weitere dienen. In Äthiopien bemüht sich die Regierung seit 15 Jahren um mehr Inklusion. Aber es fehlen ausgebilde­te Lehrkräfte, die notwendi- gen Technologi­en oder barrierefr­eie Einrichtun­gen, um Kinder mit Behinderun­gen zu integriere­n. Dabei hängt die Entwickeln jedes Einzelnen mit dessen Bildung zusammen. Deine Beschäftig­ung, Akzeptanz oder politische Teilhabe hängt von der Qualität deiner Bildung ab.

Sie haben über die Hürden für die Kinder geredet. Welche Hürden erfahren Sie in Ihrer Arbeit gegen Ungleichhe­it?

Die größte Hürde ist die Geisteshal­tung vieler Menschen, die sich nicht vorstellen können, dass Menschen mit Behinderun­g Talente und Fähigkeite­n haben; sie fokussiere­n nur auf die Behinderun­g. Ich bin vielen Vorurteile­n ausgesetzt: Mir wird immer noch gesagt, weil ich blind bin, könne ich nicht Vorsitzend­e einer Organisati­on sein, eine Bewegung anführen, den besten Job bekommen oder aktivistis­ch tätig sein.

Des Weiteren gibt es zu wenig Informatio­nen über Behinderun­gen. Menschen mit Behinderun­g werden immer noch als Problem angesehen, für das die Wohlfahrt zuständig ist. Dabei sind Behinderte­nrechte Teil der Menschenre­chtsagenda. Meine Bildung ist nicht etwas, dass ich geschenkt bekomme. Sie ist mein Recht! Aus den Menschenre­chten folgt für meine Regierung die Verpflicht­ung, mir dieses Recht zu gewähren. Aber es ist sehr schwer, die tiefen Wurzeln der Vorurteile gegen Menschen mit Behinderun­gen herauszure­ißen. Um sie Stück für Stück abzubauen, brauchen wir eine lebendige Bewegung von Menschen mit Behinderun­gen. Wir arbeiten deshalb eng mit lokalen Gruppen zusammen, damit die lernen, von der Regierung ihre Rechte einzuforde­rn.

»Die Auszeichnu­ng würdigt und feiert nicht nur meine, sondern die Millionen von Fähigkeite­n aller Menschen mit Behinderun­gen.«

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