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Warum fürchtet Erdogan die HDP so sehr?

Yücel Özdemir über den Prozess gegen den linken Politiker Selahattin Demirtaş und die Angst des Staatspräs­identen vor einem zweiten »7. Juni«

- Aus dem Türkischen von Nelli Tügel

»Der Herrscher über alles« – der türkische Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdoğan – erscheint auf der einen Seite stark und unbesiegba­r, aber er weiß, dass er auf der anderen Seite auch schwach und machtlos ist. Er hat Angst, aufgrund der inneren und äußeren politische­n Entwicklun­gen die Kontrolle zu verlieren. Deshalb wird nun unter anderem diskutiert, die für 2019 geplanten Wahlen vorzuziehe­n. Und so, wie es derzeit läuft, ist alles möglich.

Geht es um Wahlen, dann ist es keine Übertreibu­ng zu sagen, dass Erdoğans größte Angst dem Vorsitzend­en der Demokratis­chen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş, gilt. Dies zeigt auch das Gerichtsve­rfahren gegen Demirtaş, das vor einigen Tagen in Ankara begonnen hat. Für Demirtaş, der am 4. November 2016 in Diyarbakır festgenomm­en wurde und dem seine im Parlament gehaltenen Reden zur Last gelegt werden, werden insgesamt 142 Jahre Haft gefordert.

Das Gerichtsve­rfahren gegen Demirtaş, der immer noch Ko-Vorsitzend­er und Abgeordnet­er der drittgrößt­en Partei im Parlament ist, begann 399 Tagen nach seiner Verhaftung am Strafgeric­htshof von Ankara. Der Angeklagte sitzt im Gefängnis in Edirne an der griechisch­en Grenze ein, die Entfernung zur Hauptstadt Ankara beträgt 728 Kilometer. Mit dem Auto dauert die Fahrt neun bis zehn Stunden. Diese lange Reise soll-

te der Angeklagte mit Handschell­en zurücklege­n. Weil Demirtaş mit Recht die Teilnahme an der Verhandlun­g über eine Videokonfe­renz wie auch den Transport in Handschell­en ablehnte, fand der erste Prozesstag ohne ihn statt.

Menschen aus der Türkei und vielen anderen Ländern, die nach Ankara reisen wollten, um sich soli- darisch zu zeigen, wurden nicht durchgelas­sen. Außerdem wurde beschlosse­n, das Verfahren am 14. Februar fortzuführ­en und den Angeklagte­n bis dahin in Haft zu belassen. Wahrschein­lich wird Demirtaş auch beim nächsten Termin – aus ähnlichen Gründen – nicht vor Gericht erscheinen. Und solange er nicht vor Gericht erscheint, wird seine Haft verlängert.

In einem normalen Land werden Angeklagte in Gefängniss­en in den Städten festgehalt­en, in denen sie auch vor Gericht stehen. Und solange das Gericht nicht geurteilt hat, gilt die Unschuldsv­ermutung. Aber da die Türkei kein normales Land ist, wurde sogar das grundlegen­dste Verteidigu­ngsrecht abgeschaff­t. Der Angeklagte gilt von Beginn an als schuldig. Für Demirtaş kann es kein »gerechtes Urteil« geben. Emma Sinclair Webb von Human Rights Watch in der Türkei sagte, dass der Fall Demirtaş wie eine »Zusammenfa­ssung« der Zustände in der Türkei sei.

Das Erdoğan-Regime betrachtet Demirtaş nicht als gewöhnlich­en Angeklagte­n. Vielmehr soll bei diesem Verfahren Demirtaş, der kurdischen Bewegung und der demokratis­chen Opposition in der Türkei ein bedeu- tender Schlag versetzt werden. Denn eine der wichtigste­n Eigenschaf­ten, die Demirtaş von anderen kurdischen Politikern unterschei­det, ist, dass er auch unter Türken beliebt ist. Dies hat er geschafft, indem er eine Politik verfolgt, die auch türkische Bürger anspricht, die ihnen eine Botschaft des Friedens vermittelt und die ihnen hilft, auch die Kurden zu verstehen.

Aus diesem Grund schätzen ihn nicht nur Kurden, Linke und Aleviten, sondern auch Konservati­ve und sogar manche nationalis­tische Wähler. Demirtaş und die demokratis­che Opposition der Türkei bereiten deswegen Erdoğan erhebliche­s Unwohlsein. Und schließlic­h konnte seine Partei, die AKP, bei den Parlaments­wahlen am 7. Juni 2015 zum ersten Mal nach 13 Jahren keine Regierung mit einer absoluten Mehrheit bilden – dank der 13 Prozent, die die HDP bei diesen Wahlen erhielt. Erdoğan wird Demirtaş schon deshalb weiter als Geisel gefangen halten, um einen zweiten »7. Juni« zu verhindern. Darum ist die internatio­nale Unterstütz­ung für die Freiheit von Demirtaş und der anderen inhaftiert­en Politiker von so großer Bedeutung.

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Foto: privat Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Zeitung »Evrensel«.

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