nd.DerTag

Schmerz, Leidenscha­ft, Humor

Irmgard Keun, spät wiederentd­eckt, erhält die verdiente Werkausgab­e

- Von Klaus Bellin

Am 4. Mai 1936 ließ sie die »vertraute Sprache« und den »vertrauten Boden«, die Nazis und ihren Ehemann Johannes Tralow hinter sich und fuhr ans Meer nach Ostende. Sie war achtundzwa­nzig Jahre alt, temperamen­tvoll und schön, eine attraktive Frau mit großem Mund, großen Augen und zwei Büchern, die sie schlagarti­g zu einer berühmten Person gemacht hatten. Das eine, »Gilgi, eine von uns«, erschienen im Oktober 1931, erzählte die Geschichte einer selbstbewu­ssten, forschen, ehrgeizige­n und unabhängig­en Stenotypis­tin und war eine Sensation. Die Kritiker schwärmten. »Hurra!«, schrieb Kurt Tucholsky in der »Weltbühne«. »Hier ist ein Talent.« Nur ein halbes Jahr später, im Frühjahr 1932, feierten sie auch »Das kunstseide­ne Mädchen«, ihr nächstes Buch, diesmal mit einem jungen Ding im Mittelpunk­t, das sich, gefangen in einem grauen Alltag, blenden lässt von den glanzvolle­n Schicksale­n, die ihm das Kino vorsetzt. Beide Bücher hatten einen frischen, ganz neuen Ton in die Literatur gebracht. Sie waren inzwischen verboten. Die Nazis fanden, das sei Asphaltlit­eratur.

Hermann Kesten, der ehemalige Lektor im Gustav-Kiepenheue­r-Verlag, der schon 1933 geflohen war und nun mit Walter Landauer in den Niederland­en die deutsche Abteilung des Verlages Allert de Lange leitete, traf sich mit Irmgard Keun kurz darauf in einem Brüsseler Hotel. Sie erzählte ihm die täglichen Tollheiten der einstigen Mitbürger, »die zu Narren und Sklaven wurden«, umgeschmol­zen zu »Bleisoldat­en und Diktatursc­hemen«. »Sie war«, schrieb Kesten, »ganz Schmerz, ganz Empörung, ganz Leidenscha­ft, ganz Humor.« So eine Autorin war ihm noch nicht begegnet.

Zurück in Ostende, setzte sich Irmgard Keun in ein Café und schrieb an ihrem dritten Roman. Er hieß »Nach Mitternach­t« und handelte von einer aufgeweckt­en, plappernde­n, nachdenkli­chen Neunzehnjä­hrigen in Frankfurt am Main, die sich, an Politik nicht interessie­rt, in Hitlers neuem Deutschlan­d zurechtfin­den muss, umgeben von Biedermänn­ern, die sich aufpluster­n, von Spitzeln, Neidhammel­n und strammen Nazis, die das Leben vergiften, Juden vertreiben und Lebensplän­e zerstören. Als die ersten dreißig Seiten fertig waren, fuhr Keun ein paar Kilometer weiter zu Egon Erwin Kisch. Der las sie und geriet aus dem Häuschen. Nach seiner Ansicht, schrieb er in einem Brief, sei »Nach Mitternach­t« ein »großartige­r Antinaziro­man, der viel Aufsehen machen wird«. Der Roman erschien, weil man bei Allert de Lange keinen Ärger mit dem Regime in Deutschlan­d kriegen wollte, im April 1937 bei Querido in Amsterdam.

Irmgard Keun (1905 – 1982), lange vergessen, ist erst ein paar Jahre vor ihrem Tod wiederentd­eckt worden. Die Schriftste­llerin Ursula Krechel hat 1979 im »Literaturm­agazin« des Rowohlt-Verlages erzählt, wie sie damals fieberhaft nach ihr suchte, einer Frau, »die stumm ihre beredten Bücher überlebt hat« und irgendwo in Köln oder außerhalb Kölns wohnen sollte. Sie fuhr hin und fragte. Keun, hörte sie, war das nicht die Freundin von Joseph Roth? O ja, mit Roth, dem Verlorenen, Verbittert­en, der seinen Kummer, seinen rasenden Hass auf die Nazis und den Jammer der Welt im Alkohol ertränkte, lebte sie eine ganze Weile in Ostende, damals, als ihr Exil begann. Sie soff mit ihm, und sie schrieb mit ihm um die Wette. Aber während man Roth längst zu den modernen Klassikern rechnete, war sie eine Unbekannte, die mal hier, mal da untergekom­men war, in einer Klinik, bei einer Freundin, in wechselnde­n Quartieren. Sie hatte nichts. Sie besaß nicht einmal die eigenen Bücher.

Ursula Krechel, die Irmgard Keun im Frühjahr 1977 schließlic­h fand, hat jetzt noch einmal alles beschriebe­n. Wie sie auf Keuns Namen stieß, in Antiquaria­ten nach ihren Romanen fahndete und was sie in diesen Büchern entdeckte. Ihr Essay eröffnet eine dreibändig­e Ausgabe des Werks, die erste, die es gibt, eine Sammlung aller Texte, der Romane, Geschichte­n, Glossen, Gedichte sowie einiger Briefe, darunter viel Unbekannte­s, auch nie Gedrucktes, das alles versehen mit Kommentare­n und Anmerkunge­n. Zu entdecken ist eine höchst eigenwilli­ge, temperamen­tvolle und mitunter raffiniert­e Autorin mit dem genauen Blick für die sozialen und politische­n Verwerfung­en und Katastroph­en in den zwanziger und drei- ßiger Jahren, die sie lakonisch knapp, mit Ironie und Witz beschreibe­n konnte. Im Zentrum natürlich die beiden Bücher, mit denen sie ihre großen Erfolge errang, daneben »Nach Mitternach­t« sowie die Exilromane »DZug dritter Klasse«, wo von einer Bahnfahrt von Berlin nach Paris im Jahr 1937 erzählt wird, und »Kind aller Länder«, die Erzählung eines kleinen, sehr selbststän­digen und munteren Mädchens, das mit seinen Eltern Deutschlan­d verlässt und die Bitterniss­e des Exils erlebt.

Der Roman »Kind aller Länder«, 1938 bei Querido verlegt, ein Buch, das »den Leser von der ersten bis zur letzten Seite packt«, wie Fritz Erpenbeck in der Exilzeitsc­hrift »Das Egon Erwin Kisch über Keuns »Nach Mitternach­t« Wort« schrieb, wurde noch einmal ein Erfolg. Es war der letzte. Irmgard Keun hatte sich von Joseph Roth getrennt (der 1939 starb), ihr Verlobter Arnold Strauss, ein jüdischer Arzt, lebte in den USA und schickte immer weniger Geld. Sie wurde ihrer finanziell­en Not nicht mehr Herr, bemühte sich verzweifel­t um ein Visum für die USA, jedoch vergeblich, tauchte unter, als Hitlers Truppen über die Niederland­e herfielen, sie trank und wusste nicht weiter. Im September 1940 fuhr sie zurück zu den Eltern nach Köln. Sie hatte Glück und blieb unbehellig­t. Gerade hatten die Zeitungen frohlocken­d gemeldet, sie habe sich das Leben genommen.

Der dritte Band, der die Arbeiten aus den Jahren 1946 bis 1962 sammelt, wird von einem Bericht eröffnet, der überschrie­ben ist: »Irmgard Keun spricht!« Darin der Satz: »Ich denke gern an meine fünfjährig­e Emigration zurück.« Sie sei schön und schwierig gewesen, schrieb sie, verglichen mit der Zeit danach, die sie illegal in Deutschlan­d verbrachte. Es wurde auch jetzt, nach Kriegsende, nicht besser.

»Hier fühle ich mich so fremd und verloren«, heißt es gleich am Anfang eines Briefes, den sie im Oktober 1946 an Freund Hermann Kesten schickte. Sie klammerte sich an ihn, bat immer wieder verzweifel­t um Hilfe, kämpfte gegen ihre Depression­en, raffte sich noch einmal auf, verfasste zeitkritis­che Satiren, bissige Glossen, Geschichte­n und einen letzten Roman (»Ferdinand, der Mann mit dem freundlich­en Herzen«, 1950). Mit Heinrich Böll, dem wesentlich Jüngeren, begann sie einen fiktiven »Briefwechs­el für die Nachwelt«, polemische Ansichten über die politische­n Zustände nach dem Krieg, der aber schon nicht mehr gedruckt wurde. Irmgard Keun teilte das Schicksal vieler Emigranten im Westen, denen Verleger, Buchhändle­r und Kritiker die kalte Schulter zeigten. »Die scharfen Angriffe der Keun«, so Hermann Kesten, »ihr böser Witz waren diesen unerträgli­ch, sie schwiegen sie tot.« Am Ende saß sie erneut im Elend und suchte Zuflucht im Alkohol. Sie hoffte auf nichts mehr und schrieb auch nicht mehr. Erst ihre Wiederentd­eckung änderte alles.

Damals kam der Ruhm noch einmal zurück. Die frühen Bücher Irmgard Keuns wurden Bestseller. Es ist lange her und schon wieder Zeit, diese originelle Autorin neu und nun auch gründlich zu entdecken. Die kommentier­te (und preisgünst­ige) Werkausgab­e, initiiert von der Darmstädte­r Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot-Stiftung, bietet dafür die besten Voraussetz­ungen.

»Ein großartige­r Antinaziro­man, der viel Aufsehen machen wird.«

Irmgard Keun: Das Werk. Hg. von Heinrich Detering und Beate Kennedy. Wallstein Verlag, 3 Bde., zus. 2044 S., geb., im Schuber, 39 €.

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Foto: dpa Irmgard Keun im März 1981, ein Jahr vor ihrem Tod
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