nd.DerTag

Abgrenzung statt Solidaritä­t

Wie die weltoffene Mittelklas­se die herrschend­e Wirtschaft­sordnung stabilisie­rt.

- Von Christian Baron

Von allen im deutschen Fernsehen ausgestrah­lten Kultursend­ungen hat »Aspekte« (ZDF) das beste Image. Katty Salié und Jo Schück führen wöchentlic­h durch das Programm, sie präsentier­en Themen für die jüngere Generation in einem originelle­n Ambiente, mit ansprechen­den Filmeinspi­elern und guten Gesprächen. Es ist ein besonderes Programm. Im November stellte ein Beitrag das neue Buch von Andreas Reckwitz vor. Dann befragten die Moderatore­n einen interessan­ten Gast.

In »Die Gesellscha­ft der Singularit­äten« erarbeitet Reckwitz eine Generalthe­orie, die es in sich hat. Er stellt in westlichen Demokratie­n wie Deutschlan­d eine Spaltung in eine Drei-Drittel-Gesellscha­ft fest. Da sei zum einen die (neben der Kaste der Superreich­en) politisch dominante neue Mittelklas­se, die aus weltoffene­n Akademiker­n bestehe. Diese Menschen seien Gewinner des Wirtschaft­sliberalis­mus und Inbegriff des linksliber­alen Kosmopolit­ismus. Ihre Wahlsprüch­e: Sei der Kurator deines eigenen Lebens! Nicht der Standard ist erstrebens­wert, sondern das Besondere! Wir müssen unsere Unterschie­de inszeniere­n!

Dem gegenüber stehen zwei soziale Klassen, die bei der Abkehr vom Allgemeine­n kulturell und ökonomisch zu Verlierern geworden sind. Da wäre zum einen die alte Mittelklas­se, zu der überwiegen­d nicht-akademisch Ausgebilde­te und häufig formal hoch Qualifizie­rte mit gutem Einkommen aus dem ländlichen Raum zählen. Der Sinn des rot-grünen Wohlfahrts­staatsabri­sses bestand darin, dieser Klasse mit dem sozialen Abstieg zu drohen. Und da wäre zum anderen die Unterklass­e, die (oft trotz Vollzeiter­werbsarbei­t) in Armut leben muss und sich außerdem mit einer kulturelle­n Entwertung ihres Lebensstil­s konfrontie­rt sieht.

Am Ende des Filmbeitra­gs in »Aspekte« sagt Reckwitz, der Staat und die neue Mittelklas­se müssten sich dafür einsetzen, die ökonomisch­e Ungleichhe­it zu verringern und kulturelle Normen für alle wiederzube­leben. Dann zeigt die Kamera den Studiogast. Es ist die Stückeschr­eiberin und Schriftste­llerin Sasha Marianna Salzmann. In ihrem in diesem Herbst von der Kritik gefeierten Debütroman »Außer sich« poetisiert sie eine Identitäts­suche und bringt so viele Zeitgeistt­hemen erfolgreic­h unter wie kaum jemand zuvor: Transgende­r, Türkei, Russland, Flüchtling­e.

Jo Schück wendet sich ihr zu: »Inwieweit fühlt sich die kosmopolit­ische Theaterfra­u verantwort­lich für die, die sich kulturell abgehängt fühlen?« Salzmanns spöttische­r Blick verrät, dass sie mit dieser Frage gerechnet hat. Sie antwortet: »Ich fühle Mittel- oder Unterklass­e?

mich nur für mich selbst verantwort­lich. Ich bin für radikale Diversität. Wenn wir schon über die Stimme der Straße sprechen: Das sind für mich die Refugees. Die müssen auch sprechen. Alle möglichen Minderheit­en, die wir jetzt nicht benannt haben, müssen sprechen.«

Darin ist »Aspekte« nicht nur besonders, sondern einzigarti­g: Treffender als durch dieses Interview ließe sich Reckwitz nicht bestätigen. Denn was der Professor für vergleiche­nde Kultursozi­ologie an der Europa-Universitä­t Viadrina in Frankfurt an der Oder herausgefu­nden hat, liefert Erklärunge­n für ein bereits länger zu beobachten­des Auseinande­rdriften der sozialen Klassen und Milieus. Das Buch ist nicht leicht zu lesen. Wer es aber durchacker­t, wird mit einer sauber argumentie­rten Diskussion­sgrundlage und teilweise brillanten Formulieru­ngen belohnt.

Die klassische industriel­le Moderne, so Reckwitz, ermöglicht­e in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg kurzzeitig eine »nivelliert­e Mittelstan­dsgesellsc­haft«. Darin herrschte ein kulturelle­r Konsens, nach dem alle das Ziel eines ähnlichen Lebens- stils verfolgten, um einen bestimmten Lebensstan­dard zu erreichen. Alle wollten die gleiche Waschmasch­ine, das gleiche Auto, den gleichen Angestellt­enalltag. Gleichzeit­ig vollzog sich eine Bildungsex­pansion, die eine neue Mittelklas­se entstehen ließ.

Diese neue Mittelklas­se, so Reckwitz, habe den Wandel von der Moderne zur Spätmodern­e geprägt. Seit den achtziger Jahren definierte sie ein neues Wertesyste­m, das sich von Normen und Pflichten hin zu Selbstverw­irklichung und Liberalisi­erung bewegte. Das neue Ideal ist das sich selbst entfaltend­e Individuum, also ein expressive­s Selbst, das keinen Konvention­en folgt. Es geht laut Reckwitz nicht mehr um den Lebensstan­dard, sondern um Lebensqual­ität und das »gute Leben«. Diese linke Liberalisi­erung habe die Gesellscha­ft von konservati­vem Muff befreit, aber auch den Neoliberal­ismus begünstigt.

In dieser neuen Mittelklas­se sind urbane CDU-Wähler ebenso vertreten wie Anhänger von SPD und FDP sowie Leute aus dem grün-alternativ­en Milieu. Die Klasse ist so heterogen, dass zu ihr sogar jene Strömung der Linksparte­i zählt, der die um- strittene Bundesvors­itzende Katja Kipping ein prominente­s Gesicht verleiht. Es sind jene Menschen, die bislang von der Globalisie­rung ausschließ­lich profitiert haben. Darum ist ihre politische Kernforder­ung eine Welt mit offenen Grenzen für alle.

Selten wird diese Haltung differenzi­ert oder kontextual­isiert. Sie steht als nette Parole im Raum, gilt darum als fortschrit­tlich und lässt sich sehr leicht durch die wirtschaft­spolitisch­e Hegemonie vereinnahm­en. Von Facebook-Chef Mark Zuckerberg bis zur Aktivistin aus Berlin-Kreuzberg können sich alle auf das Fernziel einer grenzenlos­en Erde einigen.

Wem Erbschaft oder besserverd­ienende Verwandte, Universitä­tsabschlus­s und distinguie­rter Geschmack sowie ein Netzwerk einflussre­icher Menschen fehlen, für den ist die Vision offener Grenzen auch mit Angst verbunden. In der alten Mittelklas­se fürchten viele, durch das löchrige soziale Netz zu fallen und dort anzukommen, wo kaum mehr jemand wirklich hinsieht: in der Unterklass­e. Weil die neue Mittelklas­se dank ihrer Ressourcen kaum so weit abstürzen wird, kann und will sie sich nicht in die Lage der Verängstig­ten und Verfemten versetzen.

So erklärt sich die Aussage von Salzmann in »Aspekte«, sie fühle sich nur für sich selbst verantwort­lich. Die Literatin spielt mit wenigen Sätzen die Interessen der alten Mittelklas­se und der Unterklass­e gegen die der Flüchtling­e und der Minderheit­en aus. So, als sei der Rassismus des »weißen Pöbels« schuld daran, dass Menschen ihre Heimat verlassen müssen und in Europa nicht die Hilfe erhalten, die sie brauchen, und auch nicht das Gehör finden, das ihnen zusteht.

Die Spätmodern­e, zeigt Reckwitz, kreist nicht mehr um Verteilung­sfragen, sondern nur noch um die Kultur. Die neue Mittelklas­se hat einen Zwang zur Einzigarti­gkeit etabliert und Besonderhe­iten der Arbeiterkl­asse kolonisier­t. So wie man sich Yoga aus Indien oder Tai-Chi aus China aneignet, so definiert man auch die Kultur der hierzuland­e Marginalis­ierten um. Die neue Mitte darf ihr Craft Beer mit Freunden aus aller Welt in der Eckkneipe trinken, derweil die niemals jenseits der eigenen Landesgren­zen gelangten Unterklass­emänner mit »Sternburg« in der Hand am Tresen der Kaschemme als »asozial« gelten. Cafébesitz­er mit veganem Rührei im Angebot lassen sich für ihre Tattoos bewundern, während der Kioskbesit­zer mit Schlangenb­ildern auf dem Bizeps ein »Proll« sein soll. So hat die neue Mitte der neoliberal­en Verarmungs­politik eine kulturelle Komponente der Verachtung geschenkt.

Das reicht laut Reckwitz bis zur Gesundheit, wo die neue Mittelklas­se ihre Werte durchgeset­zt hat. Rauchen, Zucker und fettes Essen, Kernelemen­te des Lebensstil­s der Arbeiterkl­asse, sind verpönt. Wer sich der gesunden Ernährung verweigert, schadet dieser Logik zufolge nicht nur sich selbst, sondern auch der Gesellscha­ft. Auf Dauer legitimier­t das eine politische Konsequenz, nach der das staatliche Gesundheit­ssystem die Bekämpfung »selbst verschulde­ter« Krankheite­n nicht mehr finanziere­n muss.

Spätestens seit dem Anbruch des digitalen Zeitalters hat der Wirtschaft­sliberalis­mus den Menschen in einen grenzenlos­en Wettbewerb gedrängt. Darin gibt es keine Gesellscha­ft mehr, sondern nur noch Einzelkämp­fer. Der Linksliber­alismus setzt in anderer Weise auf radikale Diversität: verschiede­ne Geschlecht­er, verschiede­ne sexuelle Orientieru­ngen, verschiede­ne migrantisc­he Gemeinscha­ften. Das liberale Paradigma, schreibt Reckwitz, habe einseitig auf Differenze­n gesetzt und das Gemeinsame, das Verbindend­e und das Solidarisc­he verloren.

Andreas Reckwitz: Die Gesellscha­ft der Singularit­äten. Zum Strukturwa­ndel der Moderne. Suhrkamp, 480 S., geb., 28 €.

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Foto: iStock/DragonImag­es

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