Kampf um den besten Tabellenplatz
Bildungsstandards sollen dafür sorgen, dass Schülern mehr Kompetenzen vermittelt werden und weniger Paukwissen. Studien sollen das überprüfen. Ob beides erfolgreich geschieht, ist unter Forschern und Praktikern umstritten.
Bildungsniveau der Grundschüler massiv gesunken« – »Viertklässler lesen und rechnen schlechter, liegt es an den Migranten?« – »Brandenburger Viertklässler landen bei einem bundesweiten Bildungstest im Mittelfeld« – Das sind nur drei Schlagzeilen (»Focus«, »Zeit«, rbb-online), mit denen Medien die Ergebnisse der Studie IQB-Bildungstrends kommentierten, die Mitte Oktober von der Kultusministerkonferenz (KMK) Mitte Oktober veröffentlicht wurde.
Als Anfang Dezember die Ergebnisse der internationalen GrundschulLese-Untersuchung (IGLU) vorgestellt wurden, waren die Reaktionen ähnlich. Im Fokus stand vor allem der Umstand, dass die Grundschüler hierzulande bei der Studie gegenüber der Vorgängerstudie von 2012 im Ranking vom oberen Leistungsdrittel ins Mittelfeld abgerutscht sind. »Grundschüler fallen beim Lesen zurück«, titelte beispielsweise der Berliner »Tagesspiegel«, und auf zdf.de lautete die Überschrift simpel und faktisch falsch: »Deutschland wird bei Leseleistung überholt«.
Nun schneiden hiesige Grundschüler tatsächlich bei IGLU nicht spitzenmäßig ab, ein Ranking soll allerdings die Studie nach dem Selbstverständnis seiner Macher um den Bildungsforscher Wilfried Bos ausdrücklich nicht sein. Schließlich liegen die Ergebnisse vieler Länder derart eng beieinander, dass schon allein wegen der statistischen Fehlertoleranz exakte Zuordnungen zu einem RankingPlatz nicht möglich sind. Die Politik – allen voran die KMK – hat aber nach der Veröffentlichung der ersten PISAStudie 2001 auf einem Ranking-System beharrt; wohl auch deshalb, um der Öffentlichkeit Verbesserungen im Bildungssystem vorgaukeln zu können. Leichte statistische Verbesserungen oder Verschlechterungen werden seitdem je nach Ergebnis und politischer Richtung als bildungspolitischer »Erfolg« oder »Misserfolg« interpretiert, obwohl sich im Prinzip am Zustand der Schulen, an der Qualität des Unterrichts und am Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler wenig verändert hat.
Von diesen öffentlichen Fehldeutungen sind auch die IQB-Bildungstrends betroffen. Erstellt werden sie vom Berliner Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), das für seine aktuelle Untersuchung bundesweit knapp 30 000 Viertklässler in den Fächern Mathematik und Deutsch testete. Das bei der Berliner Humboldt-Universität angesiedelte Institut ist auch für die regelmäßigen VERA-Studien zuständig. VERA steht für Vergleichsarbeiten, die bundesweit in der 3. und 8. Jahrgangsstufe in Form standardisierter Tests die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern untersuchen.
Das IQB erstellt die »Bildungstrends« für die unterschiedlichen Schuljahrgänge seit gut zehn Jahren; bis 2012 hießen sie »Ländervergleich«, seitdem »Bildungstrends«, um, wie das IQB betont, »die Überprüfung des Erreichens der Bildungsstandards« im Rahmen des Bildungsmonotorings »begrifflich zu unterstreichen«. Dass dies keine sprachliche Spitzfindigkeit ist, zeigt eine Äußerung der IQB-Direktorin Petra Stanat von Anfang Oktober, also gut zwei Wochen vor Veröffentlichung der neuen »Bildungstrends«. »Wir Experten wollen keine Ländervergleiche«; die Studien sollten vor allem den Lehrkräften als Rückmeldung dienen, so Stanat. Geholfen hat es wenig; auch diese Studie wurde öffentlich erneut als Ranking missinterpretiert, wie die eingangs zitierten Schlagzeilen zeigen. Auch Ilka Hoffmann vom GEWBundesvorstand missfällt der Wettbewerbscharakter der Bildungsstudien. Die gängigen Vergleichstests verbesserten die Unterrichtsqualität deshalb nicht, weil in ihnen das Instrument der Selbstevaluation der Lehrkräfte zu kurz komme, kritisiert die Schulexpertin der Bildungsgewerkschaft.
Dass Bildungsforscher an standardisierten Leistungstests mit der Möglichkeit des Vergleichs festhalten, hat einen politischen Grund: Die KMK reagierte mit der Einführung der Bildungsstandards auf die Ergebnisse der ersten PISA-Studie 2001. Standards legen fest, welche Fähigkeiten und Kenntnisse in einer bestimmten Jahrgangsstufe in den Hauptfächern und in den Fremdsprachen erreicht werden sollen. Dafür ist wiederum die Vermittlung von Kompetenzen erforderlich, mit denen Schülerinnen und Schüler befähigt werden, die Lernziele (Bildungsstandards) zu erreichen.
Kritiker wie der Erziehungswissenschaftler Peter Eulen von der Gesellschaft für Bildung und Wissen (GBW), sehen in kompetenzorientierten Bildungsstandards eine Ökonomisierung der Pädagogik und eine Fixierung auf den Output. Renate Valtin von der Abteilung Grundschulpädagogik der Humboldt-Universität wundert es daher nicht, dass in den Bildungsstandards Kategorien wie Ich-Stärke, Persönlichkeitsentwicklung, Soziales Lernen, Verantwortungsbewusstsein fehlen.
Martina Dietrich vom Hamburger Institut für Bildungsmonotoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) sieht aber auch Positives. Bildungsstandards seien eine »ungeheure Chance«, denn sie könnten »Mindestniveaus formulieren, die Voraussetzung für Teilhabe an der Gesellschaft sind«, sagt sie. Standards seien dazu nicht geeignet, meint dagegen der Erziehungswissenschaftler Kai Maaz vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). »Wir werden Akademikereltern schlecht daran hindern können, ihre Kinder zusätzlich zu den im Schulunterricht vermittelten Mindeststandards zu fördern.« Man könne, so Maatz, soziale Ungleichheit nicht durch die Schule beheben; dies sei Aufgabe der Sozialpolitik.
Wie tief die Gräben zwischen den Befürwortern und den Kritikern der Bildungsstandards mittlerweile sind, zeigt ein Beispiel von Beginn dieses Jahres. Als im April bekannt wurde, dass in Hamburg der Vorabitur-Notenschnitt in Mathematik bei 4,1 lag, schlugen 130 Professoren und Mathematiklehrer Alarm. Das mathematische Vorwissen vieler Studienanfänger reiche nicht mehr für ein Studium der Mathematik oder der Technik- und Naturwissenschaften aus, hieß es in einem Offenen Brief.
Adressiert war dieser an die KMK, die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), die Deutsche MathematikerVereinigung und das IQB. Schuld an der Misere sei die Kompetenzorientierung im Schulunterricht. Die auf »kompetenzorientierte Standards« bezogenen Tests der Bildungsforscher, an denen sich mittlerweile auch der Mathematikunterricht orientiere, »prüfen unter dem Deckmantel ›Mathematik‹ lediglich Alltagswissen ab, ohne fachlich in die Tiefe zu gehen. So hätten die Aufgaben im Hamburger Vorabitur einen »teilweise absurd konstruierten Realitätsbezug« gehabt, der von den Schülerinnen und Schülern erst einmal verstanden hätte werden müssen, »um zum mathematischen Kern (der Aufgabe) vorzudringen«. Wolfgang Böttcher vom Institut für Erziehungswissenschaften der Wilhelms-Universität Münster wiederum kritisierte das Niveau der Standards. »Die Aufgaben klingen oft anspruchsvoll, sind es aber nicht; sie erfordern oft nur die bloße Reproduktion der Aufgabenstellung.«
Die in dem Offenen Brief geäußerte Kritik wird längst nicht von allen Mathedidaktikern geteilt. So sprach sich Wolfram Koepf vom Institut für Mathematik der Universität Kassel in der nach der Veröffentlichung des »Brandbriefs« einsetzenden Debatte klar für den an der Vermittlung von Kompetenzen orientierten Mathematikunterricht aus. Schlechte Schulleistungen wie die in Hamburg lägen eher am Stundenausfall in dem Fach. Außerdem müsse man berücksichtigen, dass heute viel mehr junge Menschen eines Jahrgangs Abitur machten und im Gymnasium die Vorbereitung auf mathematische Studiengänge in Konkurrenz zur Vermittlung einer fundierten mathematischen Allgemeinbildung stehe.
Auf einen anderen Aspekt macht Ilka Hoffmann aufmerksam. Bei der Erarbeitung der Standards werde vom Gymnasialniveau aus gedacht und es gebe kaum Forschungen dazu, wie z.B. mathematisches Verständnis im Förderschulbereich entwickelt werden könne.
Um Förderschulen aber geht es weder in den Debatten über PISA noch in der Diskussion über Vergleichsstudien wie VERA, den IQB-Bildungstrends oder IGLU. Am Ende ist für viele Medien und die meisten Landespolitiker nur eines wichtig: das Ranking.
Soziale Ungleichheit lässt sich nicht durch die Schule beheben; dies ist Aufgabe der Sozialpolitik.