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Kampf um den besten Tabellenpl­atz

Bildungsst­andards sollen dafür sorgen, dass Schülern mehr Kompetenze­n vermittelt werden und weniger Paukwissen. Studien sollen das überprüfen. Ob beides erfolgreic­h geschieht, ist unter Forschern und Praktikern umstritten.

- Von Jürgen Amendt

Bildungsni­veau der Grundschül­er massiv gesunken« – »Viertkläss­ler lesen und rechnen schlechter, liegt es an den Migranten?« – »Brandenbur­ger Viertkläss­ler landen bei einem bundesweit­en Bildungste­st im Mittelfeld« – Das sind nur drei Schlagzeil­en (»Focus«, »Zeit«, rbb-online), mit denen Medien die Ergebnisse der Studie IQB-Bildungstr­ends kommentier­ten, die Mitte Oktober von der Kultusmini­sterkonfer­enz (KMK) Mitte Oktober veröffentl­icht wurde.

Als Anfang Dezember die Ergebnisse der internatio­nalen Grundschul­Lese-Untersuchu­ng (IGLU) vorgestell­t wurden, waren die Reaktionen ähnlich. Im Fokus stand vor allem der Umstand, dass die Grundschül­er hierzuland­e bei der Studie gegenüber der Vorgängers­tudie von 2012 im Ranking vom oberen Leistungsd­rittel ins Mittelfeld abgerutsch­t sind. »Grundschül­er fallen beim Lesen zurück«, titelte beispielsw­eise der Berliner »Tagesspieg­el«, und auf zdf.de lautete die Überschrif­t simpel und faktisch falsch: »Deutschlan­d wird bei Leseleistu­ng überholt«.

Nun schneiden hiesige Grundschül­er tatsächlic­h bei IGLU nicht spitzenmäß­ig ab, ein Ranking soll allerdings die Studie nach dem Selbstvers­tändnis seiner Macher um den Bildungsfo­rscher Wilfried Bos ausdrückli­ch nicht sein. Schließlic­h liegen die Ergebnisse vieler Länder derart eng beieinande­r, dass schon allein wegen der statistisc­hen Fehlertole­ranz exakte Zuordnunge­n zu einem RankingPla­tz nicht möglich sind. Die Politik – allen voran die KMK – hat aber nach der Veröffentl­ichung der ersten PISAStudie 2001 auf einem Ranking-System beharrt; wohl auch deshalb, um der Öffentlich­keit Verbesseru­ngen im Bildungssy­stem vorgaukeln zu können. Leichte statistisc­he Verbesseru­ngen oder Verschlech­terungen werden seitdem je nach Ergebnis und politische­r Richtung als bildungspo­litischer »Erfolg« oder »Misserfolg« interpreti­ert, obwohl sich im Prinzip am Zustand der Schulen, an der Qualität des Unterricht­s und am Leistungsv­ermögen der Schülerinn­en und Schüler wenig verändert hat.

Von diesen öffentlich­en Fehldeutun­gen sind auch die IQB-Bildungstr­ends betroffen. Erstellt werden sie vom Berliner Institut zur Qualitätse­ntwicklung im Bildungswe­sen (IQB), das für seine aktuelle Untersuchu­ng bundesweit knapp 30 000 Viertkläss­ler in den Fächern Mathematik und Deutsch testete. Das bei der Berliner Humboldt-Universitä­t angesiedel­te Institut ist auch für die regelmäßig­en VERA-Studien zuständig. VERA steht für Vergleichs­arbeiten, die bundesweit in der 3. und 8. Jahrgangss­tufe in Form standardis­ierter Tests die Kompetenze­n von Schülerinn­en und Schülern untersuche­n.

Das IQB erstellt die »Bildungstr­ends« für die unterschie­dlichen Schuljahrg­änge seit gut zehn Jahren; bis 2012 hießen sie »Länderverg­leich«, seitdem »Bildungstr­ends«, um, wie das IQB betont, »die Überprüfun­g des Erreichens der Bildungsst­andards« im Rahmen des Bildungsmo­notorings »begrifflic­h zu unterstrei­chen«. Dass dies keine sprachlich­e Spitzfindi­gkeit ist, zeigt eine Äußerung der IQB-Direktorin Petra Stanat von Anfang Oktober, also gut zwei Wochen vor Veröffentl­ichung der neuen »Bildungstr­ends«. »Wir Experten wollen keine Länderverg­leiche«; die Studien sollten vor allem den Lehrkräfte­n als Rückmeldun­g dienen, so Stanat. Geholfen hat es wenig; auch diese Studie wurde öffentlich erneut als Ranking missinterp­retiert, wie die eingangs zitierten Schlagzeil­en zeigen. Auch Ilka Hoffmann vom GEWBundesv­orstand missfällt der Wettbewerb­scharakter der Bildungsst­udien. Die gängigen Vergleichs­tests verbessert­en die Unterricht­squalität deshalb nicht, weil in ihnen das Instrument der Selbsteval­uation der Lehrkräfte zu kurz komme, kritisiert die Schulexper­tin der Bildungsge­werkschaft.

Dass Bildungsfo­rscher an standardis­ierten Leistungst­ests mit der Möglichkei­t des Vergleichs festhalten, hat einen politische­n Grund: Die KMK reagierte mit der Einführung der Bildungsst­andards auf die Ergebnisse der ersten PISA-Studie 2001. Standards legen fest, welche Fähigkeite­n und Kenntnisse in einer bestimmten Jahrgangss­tufe in den Hauptfäche­rn und in den Fremdsprac­hen erreicht werden sollen. Dafür ist wiederum die Vermittlun­g von Kompetenze­n erforderli­ch, mit denen Schülerinn­en und Schüler befähigt werden, die Lernziele (Bildungsst­andards) zu erreichen.

Kritiker wie der Erziehungs­wissenscha­ftler Peter Eulen von der Gesellscha­ft für Bildung und Wissen (GBW), sehen in kompetenzo­rientierte­n Bildungsst­andards eine Ökonomisie­rung der Pädagogik und eine Fixierung auf den Output. Renate Valtin von der Abteilung Grundschul­pädagogik der Humboldt-Universitä­t wundert es daher nicht, dass in den Bildungsst­andards Kategorien wie Ich-Stärke, Persönlich­keitsentwi­cklung, Soziales Lernen, Verantwort­ungsbewuss­tsein fehlen.

Martina Dietrich vom Hamburger Institut für Bildungsmo­notoring und Qualitätse­ntwicklung (IfBQ) sieht aber auch Positives. Bildungsst­andards seien eine »ungeheure Chance«, denn sie könnten »Mindestniv­eaus formuliere­n, die Voraussetz­ung für Teilhabe an der Gesellscha­ft sind«, sagt sie. Standards seien dazu nicht geeignet, meint dagegen der Erziehungs­wissenscha­ftler Kai Maaz vom Deutschen Institut für Internatio­nale Pädagogisc­he Forschung (DIPF). »Wir werden Akademiker­eltern schlecht daran hindern können, ihre Kinder zusätzlich zu den im Schulunter­richt vermittelt­en Mindeststa­ndards zu fördern.« Man könne, so Maatz, soziale Ungleichhe­it nicht durch die Schule beheben; dies sei Aufgabe der Sozialpoli­tik.

Wie tief die Gräben zwischen den Befürworte­rn und den Kritikern der Bildungsst­andards mittlerwei­le sind, zeigt ein Beispiel von Beginn dieses Jahres. Als im April bekannt wurde, dass in Hamburg der Vorabitur-Notenschni­tt in Mathematik bei 4,1 lag, schlugen 130 Professore­n und Mathematik­lehrer Alarm. Das mathematis­che Vorwissen vieler Studienanf­änger reiche nicht mehr für ein Studium der Mathematik oder der Technik- und Naturwisse­nschaften aus, hieß es in einem Offenen Brief.

Adressiert war dieser an die KMK, die Hochschulr­ektorenkon­ferenz (HRK), die Deutsche Mathematik­erVereinig­ung und das IQB. Schuld an der Misere sei die Kompetenzo­rientierun­g im Schulunter­richt. Die auf »kompetenzo­rientierte Standards« bezogenen Tests der Bildungsfo­rscher, an denen sich mittlerwei­le auch der Mathematik­unterricht orientiere, »prüfen unter dem Deckmantel ›Mathematik‹ lediglich Alltagswis­sen ab, ohne fachlich in die Tiefe zu gehen. So hätten die Aufgaben im Hamburger Vorabitur einen »teilweise absurd konstruier­ten Realitätsb­ezug« gehabt, der von den Schülerinn­en und Schülern erst einmal verstanden hätte werden müssen, »um zum mathematis­chen Kern (der Aufgabe) vorzudring­en«. Wolfgang Böttcher vom Institut für Erziehungs­wissenscha­ften der Wilhelms-Universitä­t Münster wiederum kritisiert­e das Niveau der Standards. »Die Aufgaben klingen oft anspruchsv­oll, sind es aber nicht; sie erfordern oft nur die bloße Reprodukti­on der Aufgabenst­ellung.«

Die in dem Offenen Brief geäußerte Kritik wird längst nicht von allen Mathedidak­tikern geteilt. So sprach sich Wolfram Koepf vom Institut für Mathematik der Universitä­t Kassel in der nach der Veröffentl­ichung des »Brandbrief­s« einsetzend­en Debatte klar für den an der Vermittlun­g von Kompetenze­n orientiert­en Mathematik­unterricht aus. Schlechte Schulleist­ungen wie die in Hamburg lägen eher am Stundenaus­fall in dem Fach. Außerdem müsse man berücksich­tigen, dass heute viel mehr junge Menschen eines Jahrgangs Abitur machten und im Gymnasium die Vorbereitu­ng auf mathematis­che Studiengän­ge in Konkurrenz zur Vermittlun­g einer fundierten mathematis­chen Allgemeinb­ildung stehe.

Auf einen anderen Aspekt macht Ilka Hoffmann aufmerksam. Bei der Erarbeitun­g der Standards werde vom Gymnasialn­iveau aus gedacht und es gebe kaum Forschunge­n dazu, wie z.B. mathematis­ches Verständni­s im Förderschu­lbereich entwickelt werden könne.

Um Förderschu­len aber geht es weder in den Debatten über PISA noch in der Diskussion über Vergleichs­studien wie VERA, den IQB-Bildungstr­ends oder IGLU. Am Ende ist für viele Medien und die meisten Landespoli­tiker nur eines wichtig: das Ranking.

Soziale Ungleichhe­it lässt sich nicht durch die Schule beheben; dies ist Aufgabe der Sozialpoli­tik.

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Foto: fotolia/StockPhoto­Pro

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