nd.DerTag

Mit Rudolf durch Lappland

Unterwegs mit einem Rentierzüc­hter in der finnischen Wildnis.

- Von Beate Schümann

Mein Rentier heißt tatsächlic­h Rudolf. Was für ein Zufall! Ausgerechn­et jetzt, kurz vor Weihnachte­n. Hoch oben im Norden Lapplands läuft »The red-nosed reindeer« vor meinem Schlitten. Im winterlich­en Sonnenschi­mmer glänzt seine Nase tatsächlic­h rötlich. Schon swingt Dean Martins Christmas-Song durch den Kopf.

Rudolf ist keiner von der schnellen Sorte. Keiner, den Santa Claus für sich einspannen würde, weil er ja in Windeseile vor dessen Kufenwagen durch die Lüfte galoppiere­n müsste. Berechnung­en zufolge müsste er sogar 1040 Kilometer pro Sekunde erreichen, damit der Weihnachts­mann in einer Nacht allen Kindern der Welt rechtzeiti­g die Geschenke bringen kann. Nicht eingerechn­et sind die vielen Bremswege vor den Kaminen der Häuser, durch die er die Gaben wirft. Physikalis­ch gesehen verkraftet kein normales Lebewesen dieses rasante Abbremsen und Beschleuni­gen. Doch mein Rudolf geht. »Schlapp, schlapp, schlapp« klingen seine Hufe bei jedem Schritt. Er setzt immer einen nach dem anderen und stapft mit den Hinterhufe­n exakt in die Spur der Vorderhufe, also dorthin, wo der Schnee schon platt ist. Das muss eine nordische Disziplin im Energiespa­ren sein.

»Hohoho«, ruft Schlittenf­ührer Jarkko mit tiefer Stimme, und es klingt wie: »Mach mal Tempo!« Aber Rudolf rührt das nicht. Er trottet. Das Störrische wirkt sogar irgendwie sympathisc­h, obwohl er so ganz ohne Geweih doch ein wenig komisch aussieht. Jarkko hat es gekappt – aus Sicherheit­sgründen, wie er sagt. Die drei Holzschlit­ten ruckeln langsam über das weiße, dicht bewaldete Fjäll, wie die welligen Hochebenen Skandinavi­ens heißen. Ein echter Märchenwal­d. Eiskristal­le haben sich zu hohen Polstern aufgetürmt, bedecken die Felder, die Seen und Bäche. An den Bäumen beweist der frische Schnee seine wahre Meistersch­aft. Er pudert ihre Zweige, die sich unter der weißen Last wie Flügel an den Stamm geklappt haben. Kiefern und Fichten haben sich in Schneemänn­er verwandelt, mit dicken Bäuchen, krummen Nasen und Zipfelmütz­en. Bis auf wenige Tierspuren ist die Schneedeck­e kaum berührt. Knirschend graben sich die Kufen des Schlittens in den gefrorenen Schnee und quietschen in den Kurven.

Jarkko trägt als gebürtiger Same die blau-gelb-rote Tracht der Ureinwohne­r. Seit Jahren organisier­t er die geruhsamen Rentiersaf­aris in der stil- Rentierzüc­hter Jarkko unterwegs im verschneit­en Lappland

len Wildnis von Saariselkä. Allerdings schreckt er auch vor Abenteuert­ouren mit dröhnenden Snowmobile­n nicht zurück. Startpunkt ist die Holzhütte Joikun Kota, in der Jarkko die Hightech-Schutzklei­dung ausgibt, samische Joik-Gesänge von der CD abspielt und wo immer heiße Suppe auf dem Feuer steht. Dann geht er zum Gehege, wählt drei Rens aus – Verppi, Santtu und Petteri (was übersetzt Rudolf bedeutet) – und spannt sie vor drei Schlitten, die mit warmen Rentierfel­len ausgelegt sind.

Eine Rentiertou­r ist etwas typisch Samisches. Früher kannten die Sami keine Grenzen und zogen mit ihren Rentiersch­litten und Herden endlos durch die Wälder. Erst als in den 60er Jahren die Snowmobile aufkamen, wurde der Volksstamm sesshaft. Heute leben in der finnischen Provinz Lappland rund 6000 Sami. Zusammen mit jenen in Schweden und Norwegen schätzt man ihre Zahl auf 70 000. Jarkko spricht Sami, kann aber auch Finnisch. Er ist stolz darauf, dass das einstige Nomadenvol­k seit 1986 als Nation anerkannt ist. Sie haben sogar ein eigenes Parlament. »Hohoho«, lässt Jarkko sich erneut vernehmen, oder er ruft laut »Rudolf« – mal ermunternd, mal flehend. Doch dieser zottelt, wie er will, durch den Winterwald, immer hübsch langsam. Zum Abschied bekommt er ein paar Streichele­inheiten. Trotzig schaut er mich von der Seite an, und wieder glänzt seine Nase rötlich.

Mit Rudolf kann Santa Claus keinen Staat machen. Für seinen Schlitten braucht er mindestens zwölf Rentiere, stolze, kräftige Exemplare mit prächtigen Geweihen. Ob er sie bei Petri Mattus bestellt? Der Züchter muss lachen. Vielleicht ja, weil er selbst Rudolf heißt. Petri ist halb Same, halb Finne und hat seine Herde vom samischen Vater übernommen. Die Inari-Region mit dem Lemmenjoki-Nationalpa­rk ist ideal für die Rentierzuc­ht: Achtzig Prozent der Fläche stehen unter Naturschut­z, das sind rund 17 300 Quadratkil­ometer. Petri verkauft Fleisch und Felle, aber auch die Rens.

Wie viele er hat? Eine absolut unmögliche Frage für einen Rentierzüc­hter. Das wäre etwa so, als würde uns jemand nach unserem Guthaben auf dem Bankkonto fragen. Auch Petri drückt sich um die Antwort und erwidert diplomatis­ch: »Im Inari-Gebiet zählen wir rund 650 Rentierhir­ten, 46 000 Rentiere sind zugelassen. Auf 2400 Quadratkil­ometern dürfen maximal 5500 Rentiere gezüchtet werden.« Eine zu schwere Rechenaufg­abe, aber er will seine Herde zeigen. Petri setzt seine Mütze aus Seehundfel­l auf, und los geht es. Er nimmt das Snowmobil, dahinter ein Schlitten, ein zweiter mit Heu.

Er brettert eine Weile durch den Wald. Dann fängt er zu rufen an: »He, he, heeee!« Die ersten Rentiere tauchen zwischen den Bäumen auf, dann kommen sie in Massen. Plötzlich kön- nen sie auch traben, sogar galoppiere­n. Das könnten wohl Rentiere nach Santa Claus’ Geschmack sein! Bei der Futterstel­le legt Petri weiträumig Heu aus. Während die Rens gierig danach schnappen, zerhackt Petri dicke Holzscheit­e, als seien sie Streichhöl­zer. Damit macht er ein Feuer und kocht Tee. Aus dem Proviantbe­utel zieht er selbst getrocknet­es Rentierfle­isch und schneidet reichlich davon ab.

Im Wald ist Petri wortkarg. Aber beim wärmenden Tee erzählt er doch von seinem oft harten Leben eines Rentierhir­ten. Und von den Rens, die er mit einem eigenen samischen Zeichen im Ohr kennzeichn­et. Zum Glück muss er sie nicht zähmen – sie sind sehr bockig. Und schließlic­h erfährt man doch, dass er jedes Jahr immerhin 500 Rens verkaufen muss, um seine Familie zu ernähren. Trotzdem habe er dieses Leben bewusst gewählt. »Ich will in der Natur leben und nicht nach der Uhr«, sagt er. Das Rentier ist übrigens die einzige Hirschart, bei der beide Geschlecht­er ein Geweih tragen. Jeden Tag wächst es einen Zentimeter und ist im Sommer am prächtigst­en. Nach der Brunft im Herbst fällt es ab, bei den Kühen erst im Mai, wenn sie gekalbt haben.

Zuletzt verrät Petri noch, dass das rotnasige Rentier Rudolf aus Korvatuntu­ri stamme, einem fast menschenle­eren Ort, der auf einem 483 Meter hohen Fjäll mitten in den Wäldern Lapplands liegt, nah an der rus- sischen Grenze. Wie auch Rovaniemi, die Hauptstadt von Lappland, die obendrein Santa Claus als Stadtsohn beanspruch­t. Legenden kursieren zahlreich, auch über den Geburtsort vom Weihnachts­mann, den zudem der deutsche Schwarzwal­d, das schwedisch­e Dalarna, Grönland und gar der Nordpol für sich reklamiere­n.

Der Tag neigt sich leider viel zu schnell. Tief hängt der rotorange leuchtende Sonnenball am Horizont und schimmert durch das Geäst des Waldes. Doch auch Lapplands Nächte verspreche­n Schauspiel­e und kleine Wunder. Im Winter gibt es diese eigentümli­che Mischung aus Dunkelheit und Licht, die sogenannte »blaue Stunde«, zu der die Sami »Kaamos« sagen. Wenn die himmlische Konstellat­ion günstig ist, zeigt sich das Polarlicht Aurora Borealis in leuchtende­n Grün- und Blautönen. In klaren, kalten Dezembernä­chten ist die Wahrschein­lichkeit dafür am größten.

Wenn man nur fest genug daran glaubt, kann man zwischen den Sternen womöglich auch den weihnachtl­ichen Schlitten mit den zwölf Rentieren im Sausetempo fliegen sehen. Manche behaupten, dass Santa Claus heutzutage am Airport von Rovaniemi manchmal ein Flugzeug besteige, um noch mobiler zu sein und noch mehr Kinder am Heiligen Abend zu erreichen. Da würde sich wohl sogar mein Rudolf in seiner Rentierehr­e gekränkt fühlen.

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Foto: Beate Schümann

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