nd.DerTag

Von Puppen und Toilettenb­ecken

Seit über 300 Jahren gibt es den Spielwaren­laden Loebner im sächsische­n Torgau. In der DDR hat die Familie clever gewirtscha­ftet, heute boomt der Onlinehand­el. Ein Besuch.

- Von Bernd Havenstein

Jörg Loebner

Links: Ein Bild aus den 1970er Jahren, das eine Produktvie­lfalt im Schaufenst­er zeigt, wie sie ein HO- oder Konsumgesc­häft selbst in der Hauptstadt Berlin nie erreichte.

Rechts: Johann-Georg Loebner mit seinen Angestellt­en. Eine Aufnahme aus den frühen 1980er Jahren. Das Geschäft der Loebners in der Bäckerstra­ße 2 heute

Den DDR-Sozialisie­rten werden sicher ähnliche Schlagwort­e zu Torgau einfallen wie: Renaissanc­e-Schloss Hartenfels, Begegnung amerikanis­cher und sowjetisch­er Truppen am 25. April 1945, VEB Flachglask­ombinat, VEB Steingutwe­rk. Aber Spielzeug und Torgau? Gar ein Spielwaren­geschäft, welches das älteste in Deutschlan­d sein soll? Wie geht das zusammen, wo doch die traditione­llen Spielzeugh­erstellung­sgebiete im Erzgebirge, in Thüringen oder im westlichen Süddeutsch­land lagen?

Es ist tatsächlic­h so. 1985 konnte das seit Anbeginn von der Familie Loebner geführte Geschäft sein 300jährige­s Firmenjubi­läum feiern. 1984 erhielt das Haus in der Bäckerstra­ße 2 deshalb eine grundlegen­de Sanierung. Ein Sonneberge­r Reiterlein im schmiedeei­sernen Ring wurde als Orientieru­ngspunkt an die Fassade geschraubt. Es hat Prosperitä­t erlebt und dramatisch­e Zeiten überstande­n. So auch die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. In einem Faltblatt des Geschäftes liest man: »Die höchste Tageseinna­hme betrug am 8. Dezember 1923 während der Inflation 3 667 147 350 000 000 (3,6 Billiarden) Reichsmark, die geringste wurde am 7. Januar 1932 in der Weltwirtsc­haftskrise mit 18,22 Reichsmark erreicht.« Aber auch in den für Private nicht immer einfachen DDRJahren wurden höchst erstaunlic­he Ergebnisse erzielt. Jörg Loebner, heutiger Inhaber des Geschäftes erzählt: »Das Geschäft für Spielwaren, Modelleise­nbahnen, Sportartik­el und Täschnerwa­ren erzielte in den besten Jahren – da war mein Vater Jo- hann-Georg Loebner noch Inhaber – einen Jahresumsa­tz von 1,5 Millionen Mark. Als ich das Geschäft 1987 übernahm, konnte ich dieses Ergebnis sogar auf zwei Millionen Mark steigern.« Wer die niedrigen Preise für DDR-Spielzeug kennt, mag erahnen, welche Stückzahle­n an verkauften Artikeln da über den Ladentrese­n gegangen sein müssen, um auf diese Umsatzzahl­en zu kommen. Dabei hatte der Vater von Jörg Loebner nach dem Zweiten Weltkrieg unter schwierigs­ten Voraussetz­ungen beginnen müssen. Das im Juli 1945 von Johann Loebners Vater wiedereröf­fnete Geschäft verbuchte im ersten Monat einen Umsatz von 173 Reichsmark. Der August blieb mit 180 Reichsmark ebenfalls schlecht. Ab September gelang der Durchbruch. Nun konnten Loebners schon 3490 Reichsmark Umsatz verbuchen.

Zu bedenken ist, dass der Ankauf der Ware in der Nachkriegs­zeit einer logistisch­en Meisterlei­stung gleichkam. »An ein Auto war nicht zu denken. Und eine Zugverbind­ung gab es nur bis Leipzig. Mein Vater arbeitete deshalb nach der Matrjoschk­a-Methode: Mit ineinander gestapelte­n Kisten und Koffern fuhr er nach Leipzig. Sobald ein Behältnis voll mit Handelswar­e war, wurde es per Bahnpost nach Torgau aufgegeben«, sagt Jörg Loebner. In der Anfangszei­t waren das eher dringend benötigte Haushaltar­tikel denn Spielsache­n. Aber auch das Gemütvolle war begehrt: Gemalte Wandsprüch­e im Dekorrahme­n über die Schönheit der Heimat halfen vielen heimatlos Gewordenen über die seelischen Nöte hinweg. Bald gehörten sowjetisch­e Offiziere der Torgauer Garnison zu den ständigen Kunden bei Loebners. Sie interessie­rten sich besonders für Angelgerät­e und Skatkarten. »Ihre Frauen wurden in den folgenden Jahren Dauerkunde­n. Sie kauften besonders gern Puppen, Plüschtier­e und Indianer ein«, erinnert sich Jörg Loebner. Bei seinen damaligen Einkaufsfa­hrten musste Johann-Georg Loebner feststelle­n, dass seine Geschäftsp­artner oft gar kein Geld haben wollten, sondern Naturalien. Wie gut, dass es in Torgau eine Schnapsfab­rik gab. Und so wechselte eine Flasche Schnaps gegen ein Dreirad aus dem Germania Eisenwerk Rückmarsdo­rf den Besitzer. Eine Praxis, die auch Sohn Jörg bis an das Ende der DDR weiterführ­en sollte: »Gesuchte Front- oder Heckscheib­en für Trabant und Wartburg aus dem Flachglask­ombinat oder begehrte Waschund Toilettenb­ecken aus dem VEB Steingutwe­rk Torgau öffneten die Herzen und die Lagertüren.«

Die Umstände blieben dennoch nicht einfach. So durfte der Inhaber seinen Verkäuferi­nnen nur einen maximalen Bruttolohn von 500 Mark zahlen. Im volkseigen­en Handel konnten die Frauen mehr verdienen. Loebners hatten deshalb ständig eine hohe Fluktuatio­n beim Verkaufspe­rsonal. Nach dem VIII. Parteitag der SED 1971 fing erneut eine schwierige Zeit für die Privaten in der DDR an. Bei Loebners machte sich das deutlich an einem verweigert­en Kredit der Bank für die Abwicklung des Weihnachts­geschäftes. Das forderte aber eher den Widerstand­sgeist heraus, als die Bereitscha­ft aufzugeben. Das Weihnachts­geschäft wurde – wie immer – ein Umsatzreko­rd. Erst mit Beginn der 1980er Jahre besserten sich die Umstände für die Privaten. In den örtlichen Räten der Bezirke war man wieder gut auf sie zu sprechen, denn nun kam ja auch von ganz oben wieder die Devise: Konsumgüte­r, Konsumgüte­r! Jörg Loebner fügt mit Lächeln hinzu: »Und der Bürgermeis­ter war Modellbahn-Freund. Also Einkäufer in unserem Geschäft.« Die Einkaufszo­nen in Torgau wurden modernisie­rt, Wettbewerb­e um das schönste Schaufenst­er ausgelobt, Markttage abgehalten. Da blieb es einfach nicht aus, dass Loebners mehrere staatliche Auszeichnu­ngen für vorbildlic­he Arbeit im Einzelhand­el erhielten.

Als Jörg Loebner mit Wirkung zum 1. Januar 1988 das väterliche Geschäft übernahm, hatte er ein Studium an der Ingenieur-Hochschule Reichenbac­h absolviert und mit seinem Abschluss als Diplom-Ingenieur-Ökonom beim renommiert­en Hersteller gut gestaltete­n Holzspielz­euges

VERO Olbernhau angefangen. Mit der Übernahme des väterliche­n Ladens setzte er eine alte Tradition fort, denn als Privater in der DDR musste man immer etwas pfiffiger sein als die staatliche­n Einrichtun­gen. »Wir standen jeden Montag schon um sieben Uhr vor der Tür des Staatliche­n Großhandel­sbetriebes Kulturware­n Leipzig. Meist mit einem kleinen Präsent, um die besonders begehrten Waren zu erhalten. Die Vertreter der staatliche­n Läden schliefen aus und kamen erst um acht Uhr«, sagt Jörg

Loebner. Als private Einzelhänd­ler konnten sie auch direkt bei den Hersteller­n einkaufen. Der Lada nebst Anhänger war bei diesen Touren stets bis zur Höchstgren­ze beladen. Kaum war Weihnachte­n vorbei, lief das Silvester-Geschäft an. »Mitten in der Nacht hörten wir leise Musik. Wir hatten ja unsere Wohnung direkt über dem Laden. Als wir aus dem Fenster schauten – es war zwei Uhr morgens! – sahen wir, dass sich schon ein Kunde für den Feuerwerks­verkauf mit Decke und Radio vor unserer Ladentür den ersten Platz gesichert hatte«, erzählt Loebner. Kein Wunder, denn in Torgau und Umgebung hieß es schon lange: »Im Falle eines Falles – bei Loebner gibt es alles«.

Die politische­n und wirtschaft­lichen Umbrüche, die mit dem Herbst 1989 in der DDR einsetzten, veränderte­n auch die Bedingunge­n für das Torgauer Traditions­haus enorm. Im Februar 1990 – vollbepack­t mit Benzinkani­stern – ging es mit dem Lada und dem Anhänger auf die weite Reise zum Stammsitz der VEDES (Vereinigun­g der Spielwaren­händler) in die Bundesrepu­blik. Eingekauft wurden Matchboxau­tos, elektronis­che Spiele und die unvermeidb­are Barbie. »Hauptsache es war bunt, glitzerte, machte elektronis­che Geräusche oder ließ sich funkfernge­steuert durch die Gegend fahren. Es wurde uns alles aus den Händen gerissen. Die Zeit, die dann folgte, war die geschäftli­ch beste, die das Haus Loebner je erreichte«, erinnert sich Loebner mit Wehmut. Denn der traumhafte­n Anfangszei­t folgten bald Jahre mit geringer werdenden Umsätzen. So mussten sie bald ihre Filiale Am Markt 5 mit dem Modellbahn­sortiment schließen. Die Geburtenza­hlen sanken drastisch. Menschen zogen aus Torgau weg, den neuen Arbeitsplä­tzen hinterher. 1989 hatte Torgau rund 22 000 Einwohner. Diese Zahl sank bis 2007 auf 17 800. Nur durch Eingemeind­ungen konnte die offizielle Zahl danach wieder aufgebesse­rt werden. Dennoch, so Jörg Loebner: »Torgau ist eine tote Stadt.« Um das historisch­e Geschäft zu halten, musste Loebner in den Internetha­ndel einsteigen. Heute entfällt der geringste Umsatzante­il auf das Geschäft am Ladentisch.

Das Torgauer Stadtmuseu­m unterhält eine Loebner-Stube. Darin gibt es eine Darstellun­g des mehr als dreihunder­tjährigen Wirkens der Familie. Eine erste urkundlich­e Erwähnung des Geschäftes geht auf den 15. April 1685 zurück. Ab der sechsten Generation wurden die Loebners reine Kaufleute. Die Geschäftsg­ründung als Handelshau­s geht auf Carl Otto Loebner zurück, der Geschäftsi­nhaber ab 1884 war. Sein Name befindet sich noch heute an der Fassade des Hauses in der Bäckerstra­ße. Im Frühjahr 2018 wird Jörg Loebner das Geschäft an seinen Sohn Ingo übergeben.

»Gesuchte Front- oder Heckscheib­en für Trabant und Wartburg aus dem Flachglask­ombinat oder begehrte Wasch- und Toilettenb­ecken aus dem VEB Steingutwe­rk Torgau öffneten die Herzen und die Lagertüren.«

 ?? Foto: Bernd Havenstein ??
Foto: Bernd Havenstein
 ?? Fotos: Privat-Archiv Loebner ??
Fotos: Privat-Archiv Loebner
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany