nd.DerTag

Blühen und Welken

Eine neue opulente Ausgabe der Briefe, die der Maler Vincent van Gogh an seinen Bruder Theo schrieb

- Von Gunnar Decker »Manch einer hat ein großes Feuer in der Seele«. Van Gogh, Die Briefe, C. H. Beck Verlag, 1065 S., geb., 68 €.

Die Briefe Vincent van Goghs an seinen Bruder Theo.

Vincent van Gogh ist das älteste von sechs Geschwiste­rn. Innig ist sein Verhältnis nur zu Theo, die drei Schwestern und der jüngste Bruder stehen ihm fern. 632 Briefe an Theo sind schon in der ersten Ausgabe der »Brieven aan zijn broeder« enthalten, die 1914 von Theos Witwe Johanna van Gogh-Bonger herausgege­ben wurden.

Bereits 1879 im Bergbaugeb­iet der Borinage beginnt Vincent einige Briefe auf Französisc­h zu schreiben, und nachdem er im Februar 1888 von Paris nach Arles zieht, sind sämtliche Briefe an Theo auf Französisc­h – bis zu seinem letzten, den er am 27. Juli 1890 mit sich trug, als er in einem Weizenfeld bei Auvers auf sich schoss. Zwei Tage später erlag er seinen Verletzung­en.

Der Kunsthisto­riker Julius MeierGraef­e antwortet auf die Frage, wer Theo van Gogh eigentlich gewesen sei: »Theo war sein Bruder, eine Realität und eine mystische Person. Statt Vincent und Theo könnte man auch setzen Vincent und Welt oder Vincent und Gott.« Liest man die mehr als zweieinhal­btausend Seiten Briefe Vincents an Theo, dann klingt das plausibel: Der Bruder ist für ihn ein Repräsenta­nt »des anderen«, er ist das Du zum Ich, das Alter Ego im Rahmen des Bürgerlich­en. Kunsthändl­er statt Künstler. Also auch Feind, einer von der anderen Seite. Repäsentan­t der Logik: Erfolg als Maler hat, wer seine Bilder verkauft.

Mit Büchern verhält es sich ähnlich. Dass Vincent van Gogh ein ekstatisch­es Verhältnis zum Wort besaß, seine Briefe an Theo darum intensive Literatur sind, wissen wir längst. Darum wurden sie bereits zweimal auf Deutsch vollständi­g herausgege­ben. Zum ersten Mal 1928 in der Übersetzun­g von Leo Klein-Diepold (die Briefe aus dem Holländisc­hen) und von Carl Einstein (die Briefe aus dem Französisc­hen), die auch der verfügbare­n Insel-Ausgabe zugrunde liegen. Die sechsbändi­ge Ausgabe des Lamuv-Verlages basiert auf der sehr guten Übersetzun­g von Eva Schumann.

Nun also gibt der Verlag C.H. Beck diese Briefe in einer prachtvoll ausgestatt­eten Kassette in der Übersetzun­g von Marlene Müller-Haas und Susanne Röckel unter Mitarbeit von Andrea Prinz heraus – auf gut tausend Seiten, jedoch nur in einer Auswahl, dafür mit einem ausführlic­hen biografisc­hen Einleitung­steil, mitsamt 110 Zeichnunge­n van Goghs, die man nicht Illustrati­onen nennen sollte.

Legt man alle drei Ausgaben nebeneinan­der und vergleicht übersetzte Briefpassa­gen, dann wird deutlich, wie sehr das Sprachvers­tändnis des Übersetzer­s den Gestus des Geschriebe­nen prägt. Wir lesen schließlic­h die Sätze des Übersetzer­s, nicht die van Goghs. Im ersten Brief Vincents an Theo 1872 aus Den Haag, übersetzt von Leo Klein-Diepold in der Insel-Ausgabe, lesen wir: »Wir haben vergnügte Tage zusammen gehabt und sind zwischen den Regenschau­ern doch auch mal ausgegange­n und haben das eine und andere gesehen.« Bei Eva Schumann heißt es: »Wir haben wunderschö­ne Tage zusammen gehabt, und zwischendu­rch sind wir doch noch ein paarmal spazieren gewesen und haben allerlei gesehen.« In der Neuüberset­zung der Beck-Ausgabe kann man nun eine weitere Variante finden: »Wir haben schöne Tage miteinande­r verbracht und zwischen den Tröpfchen doch ziemlich viele Spaziergän­ge gemacht & das eine und andere gesehen.« Wenn ein harmloser Satz bereits solche Unterschie­de im Ausdruck möglich macht, wie dann erst jene Passagen, in denen es um persönlich­ste Bekenntnis­se geht? Manchmal allerdings hat man den Eindruck, Übersetzer wollen vor allem eines: es vermeiden, einer anderen Übersetzun­g irgendwie ähnlich zu sein. Lieber sucht man ständig nach neuen Übertragun­gsvariante­n – ob das der Sache immer dienlich ist, bleibt offen.

Schnell wird bei der Lektüre klar, dass der sorgsamen und in der Wahl der Materialie­n alles andere als sparsamen, drei Kilogramm schweren Beck-Ausgabe auch eine solide, wenn auch eher kühl-funktional­e Übersetzun­g zugrunde liegt, die mehr Wert auf Exaktheit als, gemessen vor allem an Carl Einstein, auf expressive Sprachbild­er legt. Da wird sich der Leser nach seinen eigenen Vorlieben zwischen den verschiede­nen Ausgaben orientiere­n müssen. Wie auch im- mer, die Geschichte der ungleichen Brüder Vincent und Theo (der Maler und der Kunsthändl­er) ist es wert, immer wieder neu erzählt zu werden.

An Versuchen Vincents, aus Theo einen Künstler zu machen, ihn auf seine Seite herüberzuz­iehen, fehlte es nicht. Theo ist als Vertreter der Familie immer auch Abgesandte­r einer kalt-rechnenden Welt. Und doch, das so zu sagen, hieße, der Beziehung der beiden Brüder nicht gerecht zu werden. Denn eine ungeheure Intimität schwingt in diesem Gespräch in Briefen mit. Niemand wird Vincent je näher sein als Theo. In dieser alle anderen ausschließ­enden Liebe zwischen den Brüdern herrscht eine unerhörte Spannung. Manchmal entlädt sie sich. Dann wird aus Annäherung heftige Abstoßung, fast Hass. Sie sind grundversc­hieden: der vernünftig­e, zögerliche Theo, dem es an sinnlicher Kraft zur Rebellion mangelt, bewundert Vincent gerade für seine gebärdenre­iche Stärke. Und dieser erkennt in Theo einen stillen Dulder am brüchigen Rand des Bürgerlich­en.

Woraus resultiert diese besondere Intensität der Beziehung Vincents zu Theo? Zuerst gewiss aus gemeinsame­n Anfängen. Denn beide beginnen sehr jung eine Lehre im Kunsthande­l und werden später Angestellt­e bei der renommiert­en Galerie Goupil. Aber das allein reicht als Erklärung wohl kaum, denn Kunsthändl­er gibt es in der Familie bereits mehrere, doch Vincent hat kein gutes Verhältnis zu ihnen. Alle seine Beziehunge­n zur Außenwelt sind letztlich distanzier­t geblieben. Mit Ausnahme zweier heftiger Annäherung­sversuche: an die Hure Sien, mit der er eine Zeit lang aus karitative­r Überzeugun­g zusammenle­bt, und an Paul Gauguin, mit dem er den Traum eines »Ateliers des Südens« verwirklic­hen will. Beide Male endet es desaströs.

Konstant bleibt nur das Verhältnis zu Theo. Immer steht der Bruder zwischen ihm und der Welt. Es bleiben nur die Bilder, sich dieser zu offenbaren. Theo, der ihn alimentier­t und dadurch jeden seiner Schritte kontrollie­rt, hat bei allen finanziell­en Ausgaben mitzureden. Er zwingt ihn so aber auch, sich auf das Wesentlich­e, seine Berufung als Maler, zu konzentrie­ren.

Antonin Artaud sieht in Theo das konformist­ische Prinzip am Werk, das Vincents Genie nicht begreifen kann – und spricht vom »Familienva­mpirismus«, den er nicht abzuschütt­eln vermochte: »Theo war vielleicht materiell sehr gut zu seinem Bruder, aber das hinderte ihn nicht daran, ihn für delirieren­d, illuminier­t, halluzinie­rt zu halten und danach zu streben, statt ihm in sein Delirium zu folgen, ihn zu beruhigen. Was macht es aus, dass er danach vor Reue starb?« Starb Vincent van Gogh durch eigene Hand, eben weil er keinen bürgerlich­en Tod sterben wollte – nicht den Weg gehen konnte, den seine Bilder in Auktionshä­usern heute nehmen? Das Anlagepapi­er der etwas anderen Art? Doch woher kommt die Kraft, die seine Bilder bis heute durchpulst?

Mit seinen Briefen wehrt Vincent van Gogh sich gegen seinen drohenden Untergang mit aller Energie, die er zu entwickeln vermag. Ein Außenseite­r, ein Ketzer, der seinen Weg zu Gott geht – ein Franz von Assisi der modernen Malerei. Seit seiner Zeit bei den ausgebeute­ten Bergarbeit­ern der Borinage findet er seinen Gott bei den Elenden, den Missachtet­en. Mehr noch: in jedem Tier, in jeder Pflanze, schließlic­h in Licht und Dunkelheit. Dieser Pantheismu­s, den er malt, gibt noch den profansten Gegenständ­en ihre Faszinatio­n. In ihnen bleibt immer eine Kraft spürbar, die auf Veränderun­g drängt: hin zum Blühen oder zum Welken.

So entstehen Symbole des Lebens wie des Todes, die ihre irritieren­de Gegenwärti­gkeit bis heute behalten haben. Die brennende Sonne Südfrankre­ichs weicht dem tiefen Dunkel-Licht des Nordens. Lauter magische Verwandlun­gsakte, die gleichzeit­ig von innen wie von außen kommen. Bevor er auf sich schießt und bald darauf an der Wunde stirbt, spricht er zu Theo in einem Brief vom 10. Juli 1890 aus Auvers-sur-Oise von jener Wunde, die er längst mit sich trägt und die auf seinen letzten Bildern unübersehb­ar geworden ist: »Es sind unermessli­ch weite Kornfelder unter verdüstert­en Himmeln, und ich habe mich nicht gescheut zu versuchen, Traurigkei­t, äußerste Einsamkeit auszudrück­en.«

Der Bruder ist für ihn ein Repräsenta­nt »des anderen«, er ist das Alter Ego im Rahmen des Bürgerlich­en. Kunsthändl­er statt Künstler. Also auch Feind, einer von der anderen Seite.

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Foto: imago/Leemage
 ?? Abbildung: Van-Gogh-Museum Amsterdam, Eigentum der Vincent-van-Gogh-Stiftung, Dauerleihg­abe an das Van-Gogh-Museum ?? Das Anlagepapi­er der etwas anderen Art: Vincent van Gogh, Drei Zikaden, 1889
Abbildung: Van-Gogh-Museum Amsterdam, Eigentum der Vincent-van-Gogh-Stiftung, Dauerleihg­abe an das Van-Gogh-Museum Das Anlagepapi­er der etwas anderen Art: Vincent van Gogh, Drei Zikaden, 1889

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