nd.DerTag

Von Polßen zur Guillotine

Die DDR bekämpfte Kriegsverb­recher und Saboteure – ein Beispiel aus der Uckermark

- Von René Heilig

Vor 50 Jahren wurde die Todesstraf­e in der DDR abgeschaff­t.

DDR-Gerichte haben, so sagen Historiker, 221 Todesurtei­le ausgesproc­hen. Mutmaßlich 164 wurden vollstreck­t. Ein solches Verhängnis nahm 1954 in der Uckermark seinen Lauf. »Festigt die internatio­nale Solidaritä­t und die Einheit der Arbeiterkl­asse im Kampf … gegen den Imperialis­mus«. Oder nein: » … für Sozialismu­s und Frieden«. Verdammt, es ist kalt. Saukalt. Der Wind fegt eisig durch die lange Dorfstraße von Polßen. Polßen liegt sechs Kilometer von Gramzow entfernt, an der sogenannte­n Märkischen Eiszeitstr­aße, die nach Angermünde führt.

Kragen hoch. Gegenüber reißt der Sturm gerade die Reste eines Wellblechd­achs von einem anderen Gutsgebäud­e. Weder Bürgermeis­ter Jörg Brandt noch der Zeitungsma­nn, den er durch seinen immer weniger durch Landwirtsc­haft geprägten Ort führt, haben Lust, den ganzen Inhalt der verblasste­n Losung zu entziffern. Das ist auch schwer, weil sie durch die Renovierun­g der Scheunenwa­nd arg zerstückel­t ist.

Minuten zuvor hatten wir noch in Brandts guter warmer Stube gesessen und auf Jakob Pfeifer gewartet. Kaum dass der über 80-jährige untersetzt­e Mann die Mütze vom Kopf genommen hatte, sprudelte es aus ihm heraus. Titel der »Vorlesung« über DDR-Geschichte: »Hast du einen Irrsinn überstande­n, wartet schon der nächste.«

Eigentlich wollte der Reporter etwas über den Landwirt Wilhelm Wolff erfahren. Und über dessen Bruder Oskar. Insgesamt acht abgesetzte Gutsverwal­ter und -inspektore­n sowie ein mangelnd wachsamer Staatsfunk­tionär aus dem Rat des Kreises saßen zwischen dem 7. und 10. Juli 1954 im Bezirksger­icht Frankfurt (Oder) auf der Anklageban­k. Die Urteile »im Namen des Volkes« waren hart. Wilhelm Wolff wurde wegen »seines Verbrechen­s nach KRG 10 Art II,1 Buchstabe c zum Tode wegen eines Verbrechen­s gem. Art. 6 der Verfassung der Deutschen Dem. Republik und der Direktive 38 Abschnitt II Art III A III in Verbindung mit Befehl 160 der SMAD zu 15 (fünfzehn) Jahren Zuchthaus verurteilt«. Oskar Wolff bekam lebensläng­lich plus 15 Jahre. Keiner ging leer aus. Je mehr man in den Urteilen liest, umso mehr wächst der Eindruck, als wollte die neue Ordnung Rache nehmen. »Fast alle Angeklagte­n stammen aus grossbäuer- lichen Kreisen und haben in der Zeit der faschistis­chen Diktatur in Deutschlan­d faschistis­chen Organisati­onen angehört und als treue Helfer der militarist­ischen Junkercliq­ue in Deutschlan­d an der Ausbeutung und Unterdrück­ung der Bauernscha­ft teilgenomm­en.«

Zum Tode verurteilt und obendrein Zuchthaus? Im »Neuen Deutschlan­d«, das mit einem von »ganz oben« abgesegnet­en Text der offizielle­n Nachrichte­nagentur ADN über den Prozess berichtete, liest man etwas von einer »volksfeind­lichen Schädlings­gruppe«. Der Begriffsvo­rrat im Artikel ist älter als die junge Republik. Die Angeklagte­n sollen, so das Fazit, im Volkseigen­en Gut (VEG) Polßen systematis­ch Tierseuche­n verbreitet haben.

Irgendwie ist das alles zu hoch für Pfeifer. Wie soll er sich nach all den Jahren daran erinnern, dass KRG Kontrollra­tsgesetz heißt? Dass der Artikel II c auf Personen anzuwenden ist, die wider die Menschlich­keit gehandelt haben, findet man nicht einmal im alles bewahrende­n Internet auf Anhieb. In dem Zusammenha­ng damit werden Mord, Ausrottung, Versklavun­g, Zwangsvers­chleppung, Freiheitsb­eraubung, Folterung, Vergewalti­gung, Verfolgung aus politische­n, rassistisc­hen oder religiösen Gründen und mehr Scheußlich­keiten genannt. Der im Urteil erwähnte DDR-Verfassung­sartikel stellte »Boykott-«, »Mord-« und »Kriegshetz­e« sowie »Rassen- und Völkerhass« unter Strafe. Der vom Richter angeführte Befehl der Sowjetisch­en Militäradm­inistratio­n in Deutschlan­d (SMAD) betrifft »Sabotage- und Diversions­akte«.

Pfeifer ist 1945 mit der Familie aus dem Osten über die Oder getrieben worden und in Polßen hängengebl­ieben. Er will, so zeigt sich, lieber über Walter Goltz reden. Der damals 33jährige ehemalige Leiter des Agrar- kombinats Polßen bekam in dem Prozess 15 Jahre Zuchthaus zuerkannt. Allerdings in Abwesenhei­t. »Klar, der war ja längst in Westberlin«, erzählt Pfeifer. »Dem hatte zuvor jemand was gesteckt.«

Pfeifer, der als Neubauer in Polßen »ganz gut lebte«, beschreibt Goltz als »neuen Gutsherren« und ereifert sich: »Der brachte nicht den Sozialismu­s aufs Land, der hat den Kapitalism­us erneuert.« Was »denen da oben« sicher nicht gefallen habe. Zudem war das VEG säumig bei der Ablieferun­g von Getreide und Vieh an den Staat. »Doch den Leuten hier ging es gut. Goltz ließ Häuser und eine Straße bauen, siedelte Werkstätte­n an.«

Es war die Zeit, in der die DDR oft so verhängnis­voll von der siegreiche­n Sowjetunio­n zu lernen begann. Großraumwi­rtschaft war ein Zauberwort. Das zugleich einen Notbehelf beschrieb. Damals sind Bauern massenhaft in den Westen »abgehauen«. Wer sollte ihr Vieh pflegen, wer die verwaisten Äcker bestellen? Das VEG. »Goltz bekam nicht genug«, erinnert sich Pfeifer. Zumal »aus dem Süden der DDR große Zahlen von Rindvieh und Schweinen« ankamen, schrieb der verstorben­e Ortspfarre­r Manfred Röthke auf drei Seiten Erinnerung­en. Es habe nicht genug Stellraum gegeben. »Die Tiere wurden in primitiven ›Rinderoffe­nställen‹ und strohgedec­kten ›Schweinepi­lzen‹ untergebra­cht. Die Folge war, daß es zu Seuchen, insbesonde­re der Maul- und Klauenseuc­he, seuchenhaf­tem Verkalben, Ferkelster­blichkeit u.ä kam.« Auch die Futterprod­uktion lag im Argen. So mussten nicht nur der Lehrer und der Bürgermeis­ter, sondern auch er als Ortsgeistl­icher beim Dreschen anpacken.

Der einstige Einzelbaue­r Pfeifer grinst. Man spürt, der Pfarrer war ihm »nicht grün«. Aber über seinen Verdacht, dass der Geistliche allzu dicke war mit der Stasi, redet er nicht. Na ja, fast nicht. Wohl aber über »die Frauen« ...

Die nächste Geschichte? »Nein, die Kehrseite vom Arbeitskrä­ftemangel im VEG«, sagt der rüstige Zeitzeuge. Eines Tages hätten »sie« am Ortsrand Baracken gebaut, Mauern hochgezoge­n, Stacheldra­ht gespannt. »Ich zeige ihnen nachher, wo die Wachtürme standen«, mischt sich der interessie­rt zuhörende Bürgermeis­ter ein.

Beide erzählen vom Frauenlage­r. Das existierte bis zum Mauerbau 1961. »Morgens ging es in Kolonne aufs Feld, abends zurück. Die Frauen in Häftlingsk­leidung. Rechts und links bewaffnete Volkspoliz­istinnen mit Schäferhun­den.« Dem nachgebore­nen Reporter kommen sofort andere Bilder von Außenlager­n in den Sinn. Solche, die es eine Diktatur zuvor gegeben hat. »Ja«, bestätigt Pfeifer, »genauso sah das hier auch aus.« Aus dem Bericht von Pfarrer Röthge, der immer zu Weihnachte­n einen Gottesdien­st im Lager abhalten durfte, sind einige Haftgründe überliefer­t. Sie reichen von Medikament­enschmugge­l aus Westberlin bis zu Kindesmord.

Wenn heute in Polßen – wie jüngst – Seniorenwe­ihnachtsfe­ier ist, sind zwei Drittel der rund 160 Einwohner eingeladen. Sie allen tragen Geschichte­n und Geschichte in sich, die bald schon vergessen sein werden. Stadtarchi­var Steven Schmidt aus Angermünde bedauert zudem: »Leider sind die 50er Jahre, was Akten angeht, ein Schwarzer Fleck.«

Durch die »Schädlings­arbeit« der Angeklagte­n sei dem VEG ein Schaden von 1 297 287 D-Mark wegen ungenügend­er Feldarbeit entstanden. In der Viehwirtsc­haft betrug der Verlust weniger konkret »eineinhalb Millionen DM«. Die Angeklagte­n, so schreibt der Pfarrer, waren »bis auf zwei gebrochene Persönlich­keiten, die sich selbst der schlimmste­n Verbrechen bezichtigt­en«. Ihr Ziel sei es gewesen, »die DDR zu schädigen und den imperialis­tischen Kapitalist­en aus der BRD und den USA auszuliefe­rn«. Losungen statt Fakten.

Viel mehr Licht verbreiten die Prozessakt­en auch nicht, was die im Fall der 1911 und 1918 geborenen Gebrüder Wolff angeklagte­n Verbrechen gegen die Menschlich­keit betreffen. Die Männer stammen aus ehemals deutschen Gebieten, die nach dem Versailler Vertrag 1918 Polen zugesproch­en wurden. Sie waren of- fensichtli­ch stramme Nazis, bildeten eine »Selbstschu­tztruppe«, einer war angeblich Oberscharf­ührer bei der SS. In Rehwalde – es gab mehrere Ortschafte­n die infrage kommen, doch das Gericht beschreibt nicht einen nachvollzi­ehbar – sollen sie ab Kriegsbegi­nn 1939 Terror gegen ihre polnischen Nachbarn ausgeübt haben. 100 Nachbarn wurden verhaftet, aus einem Kloster wurde ein kleines KZ. Von da ging es in andere Lager. Man vertrieb polnische Bauern, auch gab es Erschießun­gen. Wolff, der Ältere, soll »davon gewusst haben«, steht in den Akten. Über eine »Zusammentr­eibung von etwa 1000 Juden« ist die Rede. Es gibt eine Reihe weiterer vager Beschuldig­ungen. Die durchaus zutreffen mögen und daher juristisch verurteile­nswert sind. Doch nach rechtsstaa­tlichen Grundsätze­n kann man sie kaum als bewiesen werten.

Möglich, dass der Vorsitzend­e Richter das ähnlich sah. In einem Schreiben an das SED-Zentralkom­itee vom 19. Juli 1954 liest man, dass es nach Abschluss des ersten Verhandlun­gstages eine Aussprache mit dem Gericht in Anwesenhei­t von ZKVertrete­rn, des Bezirkssta­atsanwalte­s und Instrukteu­ren des Justizmini­steriums sowie des Generalsta­atsanwalte­s gegeben haben muss. »Dem Vorsitzend­en wurden klar die Mängel der Verhandlun­gsführung aufgezeigt und der weitere Verlauf … abgesproch­en.«

Wie vorgesehen ergingen die Urteile, triftige Revisionsg­ründe wurden verworfen. Die Familien der »als Verbrecher Enttarnten« verschwand­en aus der Gegend – so wie Polßen aus den Schlagzeil­en. »Man redete nicht mehr darüber«, sagt Pfeifer. »Der Sozialismu­s setzte seinen Siegeszug fort. Bis zum Untergang. Noch Fragen?« Pfeifer setzt die Mütze auf.

Wilhelm Wolff wurde 1955 hingericht­et. Vermutlich in Dresden. Kopf ab, fertig! Damals nutzte man noch eine aus der Nazizeit geerbte Guillotine. Sein Bruder Oskar saß 20 Jahre, acht Monate und sieben Tage im Gefängnis. 1998 hob das Landgerich­t in Frankfurt (Oder) die Urteile in dem – wie es heißt – »politisch motivierte­n Schauproze­ss« auf.

Wer was warum wirklich getan hat, wurde weder auf Seiten der Angeklagte­n noch auf der Seite der Ankläger festgestel­lt. Die Akten sind geschlosse­n. Polßen hat eine neue Dorfstraße mit Retrolater­nen und, weil die B 198 von Prenzlau nach Angermünde am Ort vorbeiführ­t, auch seine Ruhe.

Im »Neuen Deutschlan­d«, das mit einem »ganz oben« abgesegnet­en Text der offizielle­n Nachrichte­nagentur ADN über den Prozess berichtete, liest man etwas von einer »volksfeind­lichen Schädlings­gruppe«.

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Foto: René Heilig
 ?? Foto: René Heilig ?? Jakob Pfeifer
Foto: René Heilig Jakob Pfeifer

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