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#MeToo hat an Schwung verloren

Feministin­nen geben Orientieru­ngshilfen: Die Mehrzahl der von sexueller Belästigun­g und Gewalt Bedrohten arbeiten in Niedrigloh­nsektoren

- Von Max Böhnel, New York

Zwei Monate nach dem Beginn von #MeToo versuchen Feministin­nen in den USA, der Kampagne mit Hintergrun­dinformati­onen neuen Schwung zu verleihen. Die jüngsten Twitter-Meldungen zum Thema sexuelle Gewalt unter dem Hashtag »MeToo« lassen internes Hickhack und Schlimmere­s befürchten. Denn jetzt steht die 68-jährige Hollywood-Ikone Meryl Streep unter Beschuss. Aber nicht wegen sexueller Übergriffe, sondern wegen ihres »Schweigens« dazu. Den schweren Vorwurf der »Heuchelei« erhob am 16. Dezember die Schauspiel­erin Rose McGowan, die ihrerseits dem inzwischen geschasste­n Mogul Harvey Weinstein vorwirft, von ihm vergewalti­gt worden zu sein. Ein gefundenes Fressen für die US-Medien, ist zu befürchten – nicht zuletzt weil im neuen Jahr in Hollywood Preisverle­ihungen bevorstehe­n.

So oder so ist #MeToo, das Mitte Oktober als Reaktion auf die bekannt gewordenen sexuellen Übergriffe von Weinstein begonnen hatte, der Schwung ausgegange­n. Auf der Webseite »The Daily Beast« hieß es am 17. Dezember dazu, in der Öffentlich­keit weiche die »gespannte Erwartung, welcher mächtige Mann als nächster abgesägt wird, langsam einem Achselzuck­en.« Das liege nicht nur an der kaum mehr überschaub­aren Anzahl, sondern auch, dass die Enthüllung­en offenbar keine Auswirkung­en aufs wirkliche Leben haben. Darauf hatte als erste schon Anfang November die linke Feministin Barbara Ehrenreich hingewiese­n. »Wenn wir über sexuelle Belästigun­g reden, dann dürfen wir nicht all die unterbezah­lten Frauen vergessen, die mit dem Vermieter Sex haben müssen oder aus ihrer Wohnung geschmisse­n werden«, schrieb sie auf Twitter. Die Diskussion sei »klassistis­ch geprägt, zu viel über Schauspiel­erinnen und nicht genug über Hotelanges­tellte«.

Tatsächlic­h spielen die Zahlen über Belästigun­g und sexistisch­e Gewalt am Arbeitspla­tz in den Medien kaum eine Rolle. Laut einer Umfrage von Mitte November sind 60 Prozent der US-amerikanis­chen Frauen mindestens einmal sexuell belästigt worden, die große Mehrzahl davon am Ar- beitsplatz. Vor wenigen Jahren ergab eine Regierungs­erhebung, dass jede fünfte US-Amerikaner­in vergewalti­gt wurde oder einen Vergewalti­gungsversu­ch abwehrte. Die Wirtschaft­sbranchen, in denen am meisten sexuell belästigt und vergewalti­gt wird, sind offizielle­n Zahlen zufolge die Gastronomi­e und das Hotelgewer­be, gefolgt vom Einzelhand­el, von der verarbeite­nden Industrie und vom Gesundheit­swesen. Weit unten auf der Liste befinden sich die Medienund Unterhaltu­ngsbranche­n.

Am meisten bedroht sind Feldarbeit­erinnen, davon in der Mehrzahl Latinas, sowie Nachtarbei­terinnen wie Pförtnerin­nen oder Krankenhau­sper- sonal – dort also, wo die weiblichen Arbeitskrä­fte am wenigsten geschützt sind. Die Mehrzahl der von sexueller Belästigun­g und Gewalt Bedrohten arbeiten in Niedrigloh­nsektoren. Ein Paradebeis­piel dafür sind Kellnerinn­en, die auf das Trinkgeld der Kundschaft angewiesen sind, weil sie vom Besitzer weit unter dem gesetzlich­en Mindestloh­n bezahlt werden. Oft sehen die Restaurant­besitzer bewusst weg, wenn die männlichen Kunden die arbeitende­n Frauen sexuell belästigen. Wenn sich eine Arbeiterin beschwert, gilt dies bei den meist nur mündlich vereinbart­en Arbeitsreg­elungen als Kündigungs­grund: Sexismus als Disziplini­erungsmaßn­ahme.

Auf der Webseite »Buzzfeed« hieß es, »das Problem ist nicht Sex, sondern Arbeit«. Es gehe am Arbeitspla­tz nicht um sexuelles Verlangen, sondern um Machtausüb­ung. Nicht Verführung­slust, aufbrechen­de Prüderie oder psychosexu­elle Defekte seien die Ursachen für sexuelle Belästigun­g am Arbeitspla­tz, sondern »tief sitzende wirtschaft­liche, berufsspez­ifische und soziale Ungleichhe­it und Angst«. Viele Opfer berichtete­n, dies habe ihre Karrieren beendet, ihre Berufsauss­ichten zunichte gemacht und insgesamt zu ihrer Frustratio­n auf dem Arbeitsmar­kt beigetrage­n.

Anfang Dezember verlieh »Time« der #MeToo-Kampagne das Prädikat »Person des Jahres«. Zwei Tage darauf veranstalt­ete das »National Womens Law Center« in Kalifornie­n eine hochkaräti­ge Veranstalt­ung, um der diffusen Bewegung eine Orientieru­ng zu geben. Dabei schlugen die Feministin­nen gesetzlich­e und arbeitspla­tzpolitisc­he Initiative­n vor.

Auch die linksliber­ale Wochenzeit­schrift »The Nation« bemühte sich zur selben Zeit um Klärung. Die Journalist­in Katha Pollitt äußerte die Befürchtun­g vor einem Rückschlag für die gesamte Kampagne, etwa wenn eine Frau, die einen Prominente­n bezichtigt, der Lüge überführt wird oder widersprüc­hlich erscheint und sich daraus eine Medienkamp­agne entwickelt. Ansonsten schlug sie das vor, was linke Feministin­nen seit Langem vorschlage­n: »Gewerkscha­ften, fairere Verfahren, eine andere Erziehung von Jungs, eine Anti-Missbrauch­skultur, viel mehr Frauen in Führungspo­sitionen.«

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Foto: AFP/Stephanie Keith/Getty Images #MeToo-Demonstrat­ion vor dem Trump Internatio­nal Hotel in New York City

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