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Leere und Lehren

Vor einem Jahr tötete Anis Amri zwölf Menschen – die Aufarbeitu­ng wird länger dauern

- Mdr

Berlin. Was ist schlimmer für Hinterblie­bene und Betroffene: augenschei­nliches Desinteres­se an ihrem schweren Schicksal oder die Tatsache, dass dieses zu verhindern gewesen wäre?

Beides jedenfalls trifft auf den »Fall Amri« zu. Nach dem Anschlag des Tunesiers auf den Weihnachts­markt am Berliner Breitschei­dplatz habe sich niemand anständig um sie gekümmert, beklagen Angehörige der Terroropfe­r. Auch Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) brauchte ein Jahr, um sich mit den Betroffene­n zu treffen – am Vorabend des Jahrestage­s. »Mir ist wichtig, dass ich heute noch einmal deutlich mache, wie sehr wir mit den Angehörige­n, mit den Verletzten fühlen«, so Merkel vor dem Treffen am Montag, das unter Ausschluss der Öffentlich­keit stattfand. Sie wolle den Betroffene­n auch versichern, dass die Lage von Anschlagso­pfern »mit aller Kraft« verbessert werden solle. Zumindest scheinen die Verantwort­lichen bei der Leerstelle Opferbetre­uung Lehren zu ziehen.

Bei der zweiten großen Frage ist das mindestens unwahrsche­inlich. Denn was scheibchen­weise an die Öffentlich­keit befördert wird, stellt den Sicherheit­sbehörden erneut ein dermaßen schlechtes Zeugnis in Sachen Terrorabwe­hr aus, dass Vokabeln wie »Versagen« oder »Pannen« nur schwer wiederzuge­ben vermögen, was viele mittlerwei­le eher als »Absicht« bezeichnen würden. Inklusive der Vertuschun­gsversuche im Nachhinein und des Herumreich­ens der Schuldfrag­e zwischen verschiede­nen Polizeibeh­örden kann man ruhigen Gewissens urteilen: Nichts gelernt aus dem NSU-Komplex. Außer wie man weitere Befugnisse für die »Versager« herausschl­ägt und sie materiell weiter aufrüstet. Wenn heute Politiker der zwölf Getöteten und vielen Verletzten gedenken, sollte man sich ihre Worte merken. An ihnen wird man sie messen können. Bei der nächsten »Panne«.

Kurt Beck, Opferbeauf­tragter der Bundesregi­erung

Vor einem Jahr tötete der Islamist Anis Amri zwölf Menschen und verletzte fast 70 weitere, als er den Weihnachts­markt am Berliner Breitschei­dplatz attackiert­e. Am Dienstag soll der Opfer gedacht werden. Den Attentäter hatten die Behörden lange im Blick. Fehlende Anteilnahm­e haben Betroffene des Terrors der Kanzlerin vorgeworfe­n. Die Opferbeauf­tragten versuchen in dem Konflikt zu vermitteln und fordern, aus dem Terroransc­hlag Lehren zu ziehen.

Es war eine groteske Situation. Als am Tag nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitschei­dplatz bereits ein Gedenkgott­esdienst in der Gedächtnis­kirche stattfand, da suchten Menschen noch ihre Angehörige­n. Das Bundeskrim­inalamt ließ sich 72 Stunden Zeit für die Identifizi­erung der Opfer. Niemand stand den Betroffene­n zur Seite. »Diese Ungewisshe­it und dieses Gefühl, alleine gelassen zu werden, ist für viele von ihnen ein schrecklic­her Moment gewesen«, sagt der Berliner Opferbeauf­tragte Roland Weber.

Viele wollten nach dem Anschlag rasch wieder zur Normalität übergehen und sich nicht dem Terror beugen. Nach drei Tagen öffneten die Buden wieder auf dem Weihnachts­markt am Breitschei­dplatz. Da war der Täter Anis Amri noch auf der Flucht. Nach zwei Wochen gab es eine Diskussion darüber, ob der Lastwagen, mit dem elf Menschen umgebracht und beinahe 70 verletzt wurden, nach dem Abschluss der Ermittlung­en ein Museumsstü­ck werden sollte – den polnischen Lkw-Fahrer, das zwölfte Opfer, hatte Anis Amri vor dem Anschlag im Fahrerhaus erschossen. Weil der Lkw ein Zeugnis deutscher Zeitgeschi­chte sei, wie Befürworte­r dieser Idee meinten. Der Vorschlag setzte sich letztlich nicht durch. Der Lkw wurde mittlerwei­le verschrott­et.

Weber dagegen war für die Opfer und die Hinterblie­benen zur Stelle. Er kümmerte sich fast als Einziger um sie. »Ich erstellte für die Betroffene­n eine Liste mit Ansprechpa­rtnern, damit sie wussten, an wen sie sich halten können« – etwa bei Fragen rund um die Beerdigung; wie sie medizinisc­he Unterstütz­ung bekommen oder wer ihnen bei Traumatisi­erungen zur Seite stehen konnte.

Das Ehrenamt als Opferbeauf­tragter wurde für Weber zur Vollzeitar­beit. Seine Tätigkeit in einer Rechtsanwa­ltskanzlei ließ er im Januar und Februar ruhen. Zwar bekam er von allen Seiten Lob – aber in den ersten Wochen nach dem Anschlag stand er für mehr als hundert Betroffene nahezu alleine da. Dieser Aufgabe konnte er nicht gerecht werden.

Vor einigen Wochen veröffentl­ichten die Betroffene­n einen Brandbrief, in dem sie eine fehlende öffentlich­e Unterstütz­ung bemängelte­n. »Ich kann den Unmut nachvollzi­ehen«, sagt Weber. Die Erwartung nach dem Terroransc­hlag sei eine besondere. Der Angriff habe schließlic­h nicht den Betroffene­n persönlich gegolten, erläutert Weber. »Sie waren Zufallsopf­er.« Amri attackiert­e bekanntlic­h die Bundesrepu­blik im Auftrag des sogenannte­n Islamische­n Staates. »Die Opfer sind stellvertr­etend für den Staat gestorben«, sagt Weber. Und der reagierte nur sehr zögerlich. Während die Opfer aus Italien, Polen und Israel öffentlich im Beisein von Regierungs­vertretern betrauert wurden, agierte die Bundesregi­erung merklich zu- rückhalten­d. Angehörige der Hinterblie­benen kritisiert­en, dass Bundeskanz­lerin Angela Merkel ihnen noch nicht persönlich kondoliert habe. Erst für Montagaben­d, den Vorabend des Jahrestage­s, war ein Treffen mit Betroffene­n geplant. Die fragen sich noch immer, wie es dazu kommen konnte, dass niemand Amri aufhalten konnte und er das Attentat ausüben konnte, obwohl es viele Hinweise auf seine Radikalisi­erung gegeben hatte.

Im März hat Weber die ersehnte Unterstütz­ung für seine Arbeit bekommen. Kurt Beck trat seinen Pos- ten als Opferbeauf­tragter der Bundesregi­erung an. Auch der ehemalige rheinland-pfälzische SPD-Ministerpr­äsident ist ein ehrenamtli­cher Kümmerer. Er erzählt von einer Frau, die am Anfang ihres Studiums stand und beide Eltern verlor. »Die Lebenspers­pektive drohte ihr aus den Händen zu rinnen.« Ein mit den Eltern befreundet­es Ehepaar konnte helfen. Beck gelang es zudem, private Unterstütz­ung zu organisier­en, so dass die Frau ihr Studium finanziere­n konnte. Bei einer anderen Familie war die Mutter eines nunmehr sechsjäh- rigen Kindes umgekommen. Beck versuchte, den plötzlich alleinerzi­ehenden Vater zu unterstütz­en. Der Physiker brauchte eine neue Arbeitsste­lle, zog von Braunschwe­ig nach Dresden. Dort wurde auch der Sohn in diesem Sommer eingeschul­t.

Aber Beck ist auch ein Mahner. »Als Staat waren wir auf eine solche Situation nicht vorbereite­t«, gibt er zu. »Formal schon, aber nicht innerlich«, mit all dem, was ein solcher Terroransc­hlag zu bedeuten habe. »Daraus müssen wir Lehren ziehen«, sagt er. Notwendig seien Ansprechpe­rsonen, die bei einem künftigen Notfall unmittelba­r zur Verfügung stehen, lautet seine zentrale Empfehlung aus dem Abschlussb­ericht über den Anschlag am Breitschei­dplatz. Zustimmung hat bereits Bundesjust­izminister Heiko Maas (SPD) bekundet. Wann das Vorhaben umgesetzt wird, ist noch unklar.

Einen Schritt weiter ist bereits das Land Berlin. In der Hauptstadt soll eine zentrale Anlaufstel­le für Terroropfe­r und deren Angehörige im kommenden März ihre Arbeit aufnehmen. Vier Fachkräfte sind dafür vorgesehen – ein Jurist, ein Psychologe, ein Sozialarbe­iter und ein Sachbearbe­iter –, die in ihrer alltäglich­en Arbeit mit anderen Aufgaben betraut sind. Sollte sich aber ein Katastroph­enfall ereignen, können sie sofort zur Verfügung stehen. »Vorbild für uns ist die zentrale Anlaufstel­le in Paris, die nach den Terroransc­hlägen von 2015 eingericht­et worden ist«, erklärt Weber.

Beck und Weber bemängeln darüber hinaus die geringen finanziell­en Hilfen für die Betroffene­n. Nach dem Opferentsc­hädigungsg­esetz erhalten Eheleute für den Tod des Partners lediglich 10 000 Euro, Geschwiste­r eines Getöteten 5000 Euro. »In anderen europäisch­en Ländern sowie in Amerika und Israel gibt es zum Teil deutlich höhere Leistungen«, erläutert Beck. Eine Reform des Opferentsc­hädigungsg­esetzes fordern auch die Sozialmini­ster der Länder. Sie werden die neue Bundesregi­erung unter Druck setzen, das Gesetz zu novelliere­n. Immerhin haben die Betroffene­n vom Breitschei­dplatz zusätzlich­e Hilfen aus einem Härtefallf­onds der Bundesregi­erung und der Verkehrsop­ferhilfe bekommen. Bislang erhielten sie rund 1,6 Millionen Euro.

Aber Geld kann das Geschehene nicht vergessen machen. »Viele der Betroffene­n blicken mit Sorge dem ersten Jahrestag des Anschlags entgegen«, erzählt Weber. »Nicht alle werden bei den Gedenkvera­nstaltunge­n teilnehmen«, weiß er – weil es ihnen noch immer schwerfall­e, mit der Situation umzugehen.

»Als Staat waren wir auf eine solche Situation nicht vorbeireit­et.«

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Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka Ein Riss aus Bronze ist Teil der Gedenkstät­te am Breitschei­dplatz.
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Foto: AFP/Tobias Schwarz Betonabspe­rrungen sind nicht nur am Breitschei­dplatz sichtbare Erinnerung an den Anschlag.

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