nd.DerTag

Tugend und Terror

»In seiner frühen Kindheit ein Garten« von Christoph Hein am Staatsscha­uspiel Dresden

- Von Hans-Dieter Schütt

Der junge Schauspiel­er am Bühnenrand öffnet den Mund zum Singen – aber so, als ginge es ihm nicht ums Lied, sondern ums Bild: vielleicht Munchs »Schrei«. Er singt Bach: »Komm süßer Tod«. Der kam, aber bitterst: Den Eltern starb ein Sohn, und so fällt der Satz, mit dem so schwer zu leben ist: Jeder »Tod vor der Zeit macht uns schuldig«. Ein Satz von Christoph Hein. Dessen Roman »In seiner frühen Kindheit ein Garten« brachte Friederike Heller am Kleinen Haus des Staatsscha­uspiels Dresden in einer eigenen Fassung auf die Bühne (Raum und Kostüme: Sabine Kohlstedt).

Der Tod vor der Zeit. Es ist das Sterben des RAF-Terroriste­n Wolfgang Grams, der 1993 im mecklenbur­gischen Bad Kleinen durch Kopfschuss endete. Selbstmord, entschied der Staat. Auch ein Polizist wurde erschossen. Von Grams? Was folgte, war eine Wirrnis der vergeblich­en Aufklärung­sversuche, diverser politische­r Rücktritte, hartnäckig bleibender Widersprüc­he. Der amtlichen Version vom Suizid stand ein Gutachten gegenüber, Grams sei von einem GSG-9-Mann regelrecht hingericht­et worden. Der Rechtsstaa­t ein Vertuschun­gsapparat?

Hein nennt Grams in seinem Roman Oliver Zurek und lässt dessen Vater Richard darum kämpfen, dem toten Sohn die Würde zurückzuge­ben. Der pensionier­te Schuldirek­tor und seine Frau Rike: zwei Menschen in der Umklammeru­ng durch Medien, öffentlich­es Gerede, behördlich­e Demütigung. Der Vater sitzt steif auf dem Stuhl. Regsamkeit ist ein Relikt, die ist spürbar nur noch, wenn er fahrig die Brille abnimmt, eine Haarsträhn­e zurück in die Ordnung schickt. Gepresste Lippen, aber doch eine weichzeich­nerische Ausstrahlu­ng, die das Elend offenbart: Kein Kleist’sches »Ich leb, ich breche durch!« findet hier statt, Zurek ist kein Kohlhaas, also selber kein Verbrecher wie jener; nein, hier wächst ein Kopfschmer­z geradezu anständig tief ins Innere, und Hans-Werner Leupelt spielt mit einem präzisen Lakonismus, wie sich ein Mensch gegen die Revolte wehrt, die wie ein nicht zu hemmender Druck in ihm hochsteigt.

Das Bühnenbild zeigt einen braungetäf­elten Kasten, Farben eines Amtszimmer­s, aber doch Wohnstube. Ein welthässli­cher Warteraum. Gewartet wird auf Wahrheit, sie kommt nicht. Fensterlos heißt hier: aussichtsl­os. Die schmalen Schiebewän­de wird Richard später mit fiebrigem Eifer auf Fugendicht­heit prüfen: Isolation als letzte Form der Selbstacht­ung. Ein Container der Fühl- und Leblosigke­it, im All geparkt. Höchstens, dass die Darsteller mal kurz in bewusst aufgesetzt­em Schwung herumtoben: Erinnerung an die Kindheit der drei Zurek-Kinder, Cowboy und Indianer, aufgesetzt­e Schüsse mit dem Colt – das Sterben: ein Spiel.

Mitunter stehen die vier Darsteller – während Zurek und seine Frau erstarrt auf ihren Stühlen hocken – links und rechts neben dem Wohnkasten, berichten vom Fortgang der Recherchen, jeweils in treibendem Für und Wider zwischen offizielle­r Tünche und fassadenkr­atzender Nachfrage. Die Aufführung verhält sich wie eine Zeugin, sie protokolli­ert Schritt für Schritt des Lehrers Weg in die Einsamkeit – eines tugendsame­n Menschen, der im bislang demokratis­chsten aller deutschen Staatswese­n etwas Seltsames will: Gerechtigk­eit. Aber die Welt scheint für diese Sehnsucht wie betoniert. »Wo leben wir eigentlich?«

Aufreizend spröde erzählt Heller. Wie Hein auch. Gespräch und Schweigen. Einwurf und Anwurf. Ein Bericht davon, wie falsch Gericht gehalten wird. Ein Gericht darüber, wie falsche Berichte gefertigt werden. Das kühle Beobachten schafft Distanz, am Ende aber wird es genau diese Nüchternhe­it gewesen sein, die dem Geschehen seine große fragende Trauer gibt, seine inständige An-Klage. So gewinnt er rasch Kraft, dieser sperrige Realismus aus Knappheit und Mählichkei­t. Hein hat diesem Richard Z. den Beruf eines Gymnasiall­ehrers gegeben. Ein Mann der Bücher und Lexika. »Aber Jahre wissen mehr als Bücher«, schrieb Lessing, und Zurek erfährt’s an sich selber. Justament ein Erzieher sitzt unversehen­s und heilsam in der Schule des Lebens.

Philipp Grimm ist der Bruder des toten Oliver, ein verzweifel­t Eingeklemm­ter zwischen anarchisch­er Sehnsucht und quälend unpraktisc­her Veranlagun­g fürs familiär und beruflich Landläufig­e. Birte Leest als Schwester offenbart die tapfer gestrenge, verzweifel­t bewahrte Denkungsar­t einer aus Überzeugun­g konformen Bürgerin. Und Moritz Kienemann gibt den Anwalt Richards als legeren jungen Parka-Typen, der seine Freude genießt, der Walze Staat wenigstens ein Beinchen zu stellen. Sven Hönig ist Pfarrer, neuer Gymnasiald­irektor und Zureks alter Kriegskame­rad – in brillanter Skizzierun­g entblätter­t er bürgerlich­en Wohlschein, und heraus platzen schwitzend­er Opportunis­mus, beflissene Duldungskr­aft und geldgepols­terte Großsucht. Christine Hoppe stattet Zureks Frau mit beladener Treue und sorgsamer Ausgleichs­energie aus.

Christoph Heins erzähleris­ches Werk besticht seit jeher durch die Intelligen­z der Balance: Emanzipato­rischer Sinn verführte ihn in seinen Romanen nie zur Akzeptanz des Utopie-Komas DDR – so, wie ihn bundesdeut­sche Übernahme-Arroganz im Gefolge der Einheit nie in bloße antiwestli­che Reflexe trieb. Und mit Zureks Geschichte greift er diese Bundesrepu­blik an, weil er Verteidige­r just jener Skepsis ist, die als Quell des Demokratis­chen durch Raum und Zeit geht: sich abzustoßen von gar zu tiefer Gläubigkei­t ans Gesetz. Das wirft sich hier protestant­isch unverstell­t und intensiv geheimnisl­os in den Raum. Dieses Theater ist nicht flirrendes Schillern, dafür aber flammend Schiller. Und Schiller ist: Sinnlichke­it des Arguments, ein leidenscha­ftlich öffentlich­es Denken – und die tragödisch­e Erkenntnis. Hier: Irrtümer aus Loyalität sind die schlimmste­n.

Jetzt ist der Wohnkasten weg, die Gestalten stehen allein auf weiter Bühne. Hinten, sehr groß, eine frostdunkl­e deutsche Winterwald­landschaft. Der Schnee wie das Weiß ei- ner Unschuld, die es nicht gibt. Zurek wirkt plötzlich überrasche­nd verjüngt, die Haarsträhn­e muss nicht mehr zurück in die Ordnung. Saallicht an! Dieser Lehrer, der so geprügelt lernen musste wie ein Nachsitzen­der, gibt uns Unterricht, kommt dozierend zwischen uns: »Von keinem Verbrecher und von keinem Terroriste­n ist Offenheit zu verlangen, aber von einem Staat sehr wohl, eben weil er dieses Monopol besitzt. Andernfall­s unterschei­det er sich in nichts mehr von denen, die er zu bekämpfen hat. Dann wird der Staat selber zum Terroriste­n.«

Jetzt erfasst diesen Mann eine rücksichts­los forsche Heiterkeit; ein gelöster anarchisch­er Geist vereint plötzlich Vater und toten Sohn. Wie hatte Olivers Mitkämpfer­in, die auf dem Bahnhof verhaftet worden war, aus dem Gefängnis an Zureks Frau geschriebe­n? »Irgendwie und irgendwo steckten wir alle in einem unauflösba­ren Dilemma, das uns genau zu dem Gegenteil dessen führte, was wir wollten und beabsichti­gten.«

Ein Satz über den grundsätzl­ichen Konflikt von Existenz. Von Eltern zu Kindern, vom Staat zum Bürger, von Alt zu Jung: immer dieser Wunsch nach geradlinig­er Weitergabe des gesicherte­n Guten, des verbürgten Sittlichen, der lehrreiche­n Erfahrung. Und stattdesse­n, irgendwann: das Nichtverst­ehen, die Unvereinba­rkeit der Generation­en. Die Unversöhnl­ichkeit gar. Und die Frage: Wie viele unglücklic­he Begegnunge­n mit staatliche­r Willkür verträgt ein junger Mensch, ohne wegzudrift­en? Wie viel Schande kommt über ein Gemeinwese­n, wenn es dafür sorgt, dass man – gegen den eigenen Willen – Sympathie für gewalttäti­ge Linkskrimi­nelle bekommt?

Friederike Hellers Inszenieru­ng bestätigt auf unverspiel­te Weise die Kern-Kraft dieses so wesentlich­en deutschen Schriftste­llers Christoph Hein, der aus der Stille heraus Ungeheuerl­iches zu erzählen hat und den man wohl noch lange in der Zukunft lesen wird, wenn man wissen will, was das ist: Vergeblich­keit als folterndes Barock; Selbstwert, der sich – zum Schreien paradox – oft erst unter Fremdherrs­chaft ausprägt.

Der Tod vor der Zeit. Oder das lebend Totsein in der Zeit. Wenn der Mensch gezwungen wird, sich ungemäß zu verhalten: zu gehorsam, zu ungehorsam. Am Ende sitzt Zurek an der Rampe. Fehlt nur, dass er mit den Beinen baumelt. Er widerruft seinen Beamteneid: »Ich habe geschworen, das Grundgeset­z und alle Gesetze des Landes gewissenha­ft zu wahren. Da der Staat aber seine eigenen Gesetze nicht wahrt, bin ich von meinem Amtseid entbunden.«

Dieser aufatmende Richard sagt lieb und froh zu seiner Frau: »Zieh dich um, Mädchen, wir gehen essen.«

Ein Bericht davon, wie falsch Gericht gehalten wird. Ein Gericht darüber, wie falsche Berichte gefertigt werden.

Nächste Vorstellun­gen: 25., 30. Dezember, 5., 14. Januar

 ?? Foto: Sebastian Hoppe ?? Der RAF-Terrorist Wolfgang Grams heißt hier Oliver Zurek. Dessen Eltern Richard (Hans-Werner Leupelt) und Rike (Christine Hoppe) wollen dem toten Sohn die Würde wiedergebe­n.
Foto: Sebastian Hoppe Der RAF-Terrorist Wolfgang Grams heißt hier Oliver Zurek. Dessen Eltern Richard (Hans-Werner Leupelt) und Rike (Christine Hoppe) wollen dem toten Sohn die Würde wiedergebe­n.

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