Ulbricht hatte eine Nudel im Bart
»Also du bist der, der immer Lieder macht?« – Hartmut König schaut zurück, um wieder nach vorne schauen zu können
Gewiss ist es nicht nur mir in diesem Jahr so ergangen. Ein Lied ließ mich nicht los, von Peter Hacks getextet und von der bekanntesten FDJ-Singegruppe, dem Oktoberklub, intoniert, mit dem eingängigen Refrain: »Und das war im Oktober, als das so war, in Petrograd in Russland im siebzehner Jahr ...« Am 2. Juni dieses Jahres wiederum bekam ich die ebenfalls von dieser Ostberliner Agit-Pop-Gruppe gesungene und von Frontmann Hartmut König verfasste Anklage nicht aus dem Kopf: »Wie starb Benno Ohnesorg, Student in Westberlin. Was wisst ihr über ihn?« Erschüttert über die tödlichen Schüsse während des Schah-Besuchs habe er den Text, inspiriert von Pete Seegers »Who killed Norma Jean?«, innerhalb kürzester Zeit aufs Papier gebracht, berichtet der Autobiograf.
Sie sind fast alle unvergessen, die engagierten Lieder des Oktoberklubs, der aus dem 1966 gegründeten und vom amerikanisch Folksong à la Bob Dylan und Perry Freedman beeinflussten Hootenanny-Klub hervorging. »Hootenanny – das konnten viele nicht aussprechen«, schreibt König. Außerdem tobte damals in der DDR ein Kulturkampf gegen Anglizismen. Der neue Name war zugleich Bekenntnis der Band, deren Mitglieder allesamt – so Reinhold Andert – »hundertprozentig rot, überzeugt, ehrlich« waren. Was auch über die Erinnerungen von Hartmut König zu sagen ist. Bei deren Lektüre der Rezensentin übrigens laufend die Lieder durch den Kopf schwirren. Ein Buch zum mitsummen. Ein echtes Liederbuch. Schade, dass ihm keine CD beiliegt. Selbst das nach Wende und Vereinigung – wegen eines »gewissensausforschenden Kollektivs« – inkriminierte Lied »Sag mir wo du stehst und welchen Weg du gehst«, von König getextet und komponiert, hatte und hat was noch heute. »Auch nickende Masken nützen uns nicht.«
Entsprechend konsequent der erste Satz in der Autobiografie: »Wer nach vorne schauen will, muss sich aufrichten.« Und weiter bekennt König in seinem »Monolog vor dem Spiegel«, in den vergangenen Jahrzehnten »Schmerz, Wut, Angst und Scham« verspürt zu haben. Weil das »Land, das du Heimat nanntest, ein Gespött für die alten Feinde« wurde. Weil der sich selbst kritisch Befragende sehr wohl um die eigenen Irrtümer und Fehler weiß, sich selbst neu orientieren musste und dabei zur Einsicht gelangte, dass sich vieles änderte und vieles nicht: »Die neuen Schiffsführer fälschen die Logbücher und beschwichtigen die Mannschaft, solange der Kahn nicht sinkt. Ihre Funksprüche sind optimistisch und klingen vertraut: Den Kapitalismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf! Doch das Schiff ist leck und das SOS eine Frage der Zeit ... Also spuck deinen alten Traum nicht aus wie Gewölle ...« Da spricht er wieder, der Liedermacher. Und der singende Philosoph.
Dass es in der Bilanz des 1989/90 von Rostock bis Suhl vom Volke abgewählten Staates trotz Schwächen, Unsäglichkeiten und Unerträglichen – die alle benannt werden sollen – auch ein Positivsaldo gibt, das gleichfalls nicht vergessen sei, ist Anliegen der Reflexionen des Hartmut König. Und schon wieder geistert der Leserin ein – indes definitiv überholtes – Lied des Oktoberklubs durch den Kopf, und zwar jenes, dass im Refrain stolz über »Springers Gänsefüßchen-Land zwischen Elb- und Oderstrand« bekundet: »Da sind wir aber immer noch, und der Staat ist noch da, den Arbeiter erbauen. Das Land, es lebt, es lebe hoch, weil Arbeiter sich traun.« Über die trügerisch-heroische Hoffnung kann man heute nur schmunzeln, wie über die ND-Schlagzeile auf Seite 1 des »Zentralorgans« einst, an der man werktags jeden Morgen auf dem Weg in die Redaktion mit dem Paternoster vorbeifährt: »Arbeiterideen zeitnah umsetzen.«
Aber ja doch: »Wo die Mutter Steine klopfte, da war doch so viel Hoffnung.« König resümiert und fragt theotorisch, wie es später zu so viel Missmut und Apathie kam. Er weiß die Antwort: »Weil der Traum vom sich entwickelnden Sozialismus brüchig geworden war.« Und er bekennt, lange noch an eine Genesung und den Wunderheiler aus Moskau geglaubt zu haben. »Wer ahnte denn, wie vergiftet sein letzter Bruderkuss sein würde?« Über den folgenden Erklärungsversuch, den Verkauf der DDR, der mit Wodka besiegelt gewesen sei, lässt sich streiten. Ebenso über seine Einschätzung der Neuen Ostpolitik von Brandt und Bahr, die bedenklich der Mahnung des ehemaligen DDR-Außenministers Otto Winzer von einer »Aggression auf Filzlatschen« ähnelt. Sehr wohl aber kann man Königs Ärger verstehen über eine Indiskretion der »Jungen Welt« im Herbst ’89 über ein Treffen der (so die Titulierung in der DDR) »Unterhaltungskünstler« Toni Krahl, Tamara Danz, André Herzberg und Gerhard Gundermann mit FDJ-Chef Eberhard Aurich; vor den Kopf gestoßen wurden unnötig Menschen, die mit Konzerten »von Hierbleibern für Hierbleiber« Verantwortung übernehmen wollten.
Geboren am 14. Oktober 1947 in der Trümmerwüste Berlin in einer Familie, die vormals Rosa Luxemburg versteckte und in der sich zu Zeiten der Weimarer Republik viele linke Geister trafen, darunter Bruno Apitz, der spätere Ziehvater, der behutsam Einfluss auf sein Denken nahm, wuchs Hartmut König im Prenzlauer Berg auf und war mit Thomas Natschinski befreundet, Sohn des Komponisten und »schaurigen Sängers« Gerd Natschinski. Er begleitet die ersten musikalischen Schritte seines Filius und dessen Kumpel in deren erster eigener Beatband TEAM 4.
Nach einem Volontariat beim »ND« studierte König Journalistik in Leipzig, machte seinen Doktor, arbeitete beim Internationalen Studentenbund in Prag, wurde Sekretär für Internationales und Kultur im FDJZentralrat und zuletzt, 1988, stellvertretender Kulturminister. Interessanter als die Stationen der beruflichen Karriere sind die des Künstlers, der stets zweifelte, ob sein Talent »auf Dauer für einigen Ruhm genügen« würde. Immerhin wurde auf ihn ein jeglichem »Yeah, Yeah, Yeah« abholder Partei- und Staatschef neugierig. Über die Einladung im Oktober 1968 notiert König: »Walter Ulbricht hat eine Nudel im Bart.« Der an einen berühmten Sketch erinnernde Anblick ließ den Youngster die Nachfrage des Alten amüsiert aufnehmen: »Also du bis der, der immer Lieder macht?«
Dieses Buch ist nebenbei ein »Who is who« der DDR sowie internationaler Prominenz, von Mikis Theodorakis bis Miriam Makeba. Der Autor berichtet von seinen Reisen auf fast alle Kontinente. Er weiß um das Privileg, das er genoss. Es führte ihn an Orte, an denen Geschichte geschrieben wurde. Und wieder wird man von Liedern heimgesucht: »Chile tanzt« bejubelte den Wahlerfolg der Unidad Popular unter Salvador Allende in Chile 1970; »Grandola vila morena« war die Erkennungsmelodie der portugiesischen Nelkenrevolutionäre von 1974; »Auf dem Mekong bricht sich Laternenlicht« besang den Sieg der vietnamesischen Befreiungsarmee 1975 ... Es wäre wirklich schön, würde der – derzeit indes finanziell leidende – Verlag der bereits avisierten Nachauflage von Königs Autobiografie eine CD mit »Best of« des Oktoberklubs beigesellen.
Hartmut König: Warten wir die Zukunft ab. Verlag Neues Leben, 560 S., geb., 24,99 €.