Er war. Er ist. Er bleibt?
Antisemitismus tritt in Deutschland wieder offen zutage – weg war er nie
Berlin. »Diese abscheuliche Attacke macht erneut deutlich, dass Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und mittlerweile offen und unverblümt artikuliert wird.« In dem Satz des Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, den er am Donnerstag gegenüber der »Jüdischen Allgemeinen« äußerte, umreißt ein kleines, unscheinbares Wort das größte Problem: erneut.
Der Hass auf Juden, der sich in nicht digitalen Zeiten etwa in Droh- und Beschimpfungsbriefen an jüdische Einrichtungen oder im unmittelbaren persönlichen Umfeld Bahn brach, füllt heute im Internet Kommentar- spalten, Foren und ganze Blogs. Weltweit und ohne Chance, dem Treiben Einhalt zu gebieten. Mit der AfD ist eine Partei in die Parlamente gezogen, die ungeniert die antisemitische Rechte mit Geschichtsrevisionismus und NS-Verharmlosung bedient. Auf Demonstrationen von Palästinensern werden Israel-Fahnen verbrannt, die deutsche Linke streitet um Antisemitismus in den eigenen Reihen ...
»In der jüdischen Gemeinschaft besteht die Sorge, dass Antisemitismus zu einer echten Bedrohung für jüdisches Leben in Deutschland werden könnte.« Dass Josef Schuster diesen Befund im Jahr 2017 in Deutschland äußern muss, angesichts einer auf Video dokumentierten minutenlangen Verbalattacke eines Deutschen gegen einen jüdischen Restaurantbetreiber auf offener Straße, zeigt: Zu lange wollte man hier an vermeintliche Erfolge des bundesrepublikanischen Aufarbeitungsweltmeisters glauben. Doch allein mit demokratischem Schulterklopfen und dem Aufstellen von Mahnmalen ist nichts gewonnen, wenn die Male einen nicht auch daran gemahnen, dass Antisemitismus nicht von alleine verschwindet, dass Erinnern auch Kämpfen heißt. Erneut. Immer noch.
Über 300 000 Nutzer sahen, wie ein 60-Jähriger gegen Juden hetzt und den Betreiber eines Restaurants beleidigt. Inzwischen ermittelt der Staatsschutz. Yorai Feinberg bleibt ganz ruhig. »Ich gehe nur ein Stück zurück, weil Sie spucken«, sagt er seinem Gegenüber, als der auf ihn zugeht. Sein Gegenüber, das ist ein 60-jähriger Mann, überzeugt davon, dass Feinbergs Restaurant in Berlin nichts zu suchen hat. Wenige Minuten später wird er von einem Polizisten gefesselt auf die Wache gebracht werden, festgenommen wegen antisemitischer Hetze. Jetzt aber steht er noch gestikulierend vor dem Restaurant und zeigt wütend auf die Menora, den jüdischen Leuchter im Fenster: »So was hier will ich hier nicht haben!« Er wird noch bedrohlichere Sätze von sich geben. »Was wollt ihr nach '45 hier«, etwa, oder: »Ihr kommt alle wieder zurück in eure blöde Gaskammer. Keiner will euch hier.«
Dieser antisemitische Vorfall ereignete sich am vergangenen Dienstag in Schöneberg. Feinbergs Freundin Kamila nahm die Hetze per Handy auf und stellte sie ins Netz, über 300 000 Nutzer sahen sich den Antisemitismus des Deutschen seither an. Am Ende des Clips ist noch zu sehen, wie der Wirt einen Streifenwagen anhält, der zufällig vorbeikommt. Der Beamte fordert seine Freundin dazu auf, das Filmen zu beenden. Wie die Polizei am Mittwoch vermeldet, fesselten die Beamten den aufgebrachten Mann und nahmen ihn mit zur Wache. Was das Video nicht mehr zeigt: die »Judenschweine«-Rufe während der Festnahme. Über die berichtet Feinberg dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Nach Angaben der Polizei wurde der Mann zu einer Gefangenensammelstelle gebracht, wo ihm Blut entnommen wurde. Inzwischen hat der Staatsschutz des Landeskriminalamtes die Ermittlungen wegen Volksverhetzung aufgenommen – und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.
»Deutschland nimmt keine gute Entwicklung«, sagte der Restaurantchef Feinberg nach dem Vorfall dem RND. »Es wird immer weniger gegen Antisemiten vorgegangen. Immer mehr gilt als legitime Israel-Kritik. Und dann passiert so etwas. Der Mann fühlte sich völlig sicher.« Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) zeigte sich auf Twitter betroffen. »Auch dieser völlig unfassbare und unentschuldbare Vorfall in Berlin zeigt: Wir alle müssen uns antisemitischer Hetze engagiert und mutig entgegenstellen«, schreibt Maas. Und: »Den Brandstiftern dürfen wir nie das Feld überlassen. Denn erst kommen die Worte, dann die Taten.« Der jüngste antisemitische Vorfall geschah vor dem Hintergrund einer neu entbrannten Debatte über Antisemitismus in Deutschland. Anders als bei der Verbrennung einer Israelfahne auf palästinensischen Demonstrationen gegen die Ankündigung Donald Trumps, die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, ging diese Hetze jedoch von einem deutschen Mann aus, der augenscheinlich keinen Migrationshintergrund aufweist. Der Schöneberger Vorfall entspricht damit deutschen Realitäten: Zuletzt wurden mehr als 90 Prozent der antisemitischen Straftaten von deutschen Staatsangehörigen verübt.
Für Empörung hatte daher die Äußerung des CDU-Politikers Jens Spahn gesorgt, »neuer Antisemitismus« sei mit der Migration nach Westeuropa gekommen. Die jüngsten Vorfälle hätten »auch mit der Zu-
Heiko Maas (SPD), Bundesjustizminister
wanderung aus einem Kulturraum zu tun, in dem man mit Juden oder Schwulen nicht zimperlich umgeht«, hatte Spahn dem »Spiegel« gesagt.
Das linke Aktionsbündnis Blockupy, das sich mit europäischen Sparmaßnahmen auseinandersetzt, kritisierte Spahns Fokus auf arabisch geprägten Antisemitismus vor dem Hintergrund des jüngsten Hetzvideos. »Nicht wahr, Herr @jensspahn, schon wieder ein krasser Fall dieses von Muslimen ›importierten Antisemitismus‹«, schrieb das Bündnis sarkastisch auf Twitter: »Mitten am Tag, mitten in Berlin und ohne Bart – was erlauben sich diese getarnten Flüchtlinge eigentlich noch alles ...?«
Unterstützung für sein mutiges Engagement gegen antisemitische Hetze bekam der betroffene Gastronom jetzt von dem israelischen Botschafter Jeremy Issacharoff, der dem Restaurant am Donnerstag einen Besuch abstattete. Issacharoff lobte Feinberg für seine im Video dokumentierte Reaktion. Er habe großen Mut an den Tag gelegt, sich gegen diese Anfeindung zu wehren.
Nachdem die Freundin des Wirts das Video auf Facebook postete, wurde es übrigens gesperrt. Als Begründung gab der Socialmedia-Konzern einen »Verstoß gegen die Gemeinschaftsstandards« an. Facebook entschuldigte sich am Donnerstag jedoch für diesen »Fehler«, der »frustrierend sein kann«.
»Den Brandstiftern dürfen wir nie das Feld überlassen. Denn erst kommen die Worte, dann die Taten.«