Wie sich Kommunen in der Altmark selbst um schnelles Internet kümmern.
In der Altmark nehmen die Kommunen den Ausbau des schnellen Internets selbst in die Hand
Auf dem Dorf surft man in Deutschland meist im Schneckentempo. Im Norden von Sachsen-Anhalt wollen die Kommunen das Problem selbst lösen – und wecken damit den zuvor schlafenden rosa Riesen. Wenn in Grieben die Schule zu Ende ist, kann der größte Industriebetrieb des Ortes die Kommunikation mit seinen Kunden einstellen. Denn in dem Dorf in der Altmark geht immer nur eines: Entweder schauen die Jugendlichen Videos auf ihren Handys, oder die Firma »Schutzgitteranlagen Krone« kann Mails mit großen Automobilfabriken in Europa austauschen. So lange der Unterricht läuft, ist dazu Gelegenheit; danach ist tote Hose. Dann, sagt der Geschäftsführer Thomas Krone, »sinkt die Internetkapazität bei uns ganz krass«.
Grieben liegt mitten im Industrieland Deutschland und lebt eigentlich auch im 21. Jahrhundert. Wer sich mit Krone über die Arbeitsbedingungen unterhält, den beschleichen freilich Zweifel, ob seit der Gründung durch dessen Großvater Franz tatsächlich 95 Jahre vergangen sind. Krone baut Metallgitter, hinter denen Industrieroboter ungestört rotieren können – Roboter, die in den automatisierten Fabriken der Industrie 4.0 allgegenwärtig sein werden. Krones Kunden, Autohersteller in Deutschland, aber auch Unternehmen in Schweden oder Brasilien, übermitteln ihre Konstruktionswünsche in Form dicker 3-D-Dateien nach Grieben. Um sie abzurufen, muss der Firmenchef mit einem USB-Stick in die Stadt fahren.
Deutschland im Jahr 2017 ist ein geteiltes Land. Die Grenze verläuft nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen Stadt und Land. Wo genau, offenbart der Computer beim Versuch, eine Grafikdatei abzurufen. In Städten ist gutes Internet so selbstverständlich wie geteerte Straßen. Weil die Nachfrage hoch genug ist, buhlen in aller Regel mehrere Anbieter um Kunden und suchen sich in der Kapazität der Anschlüsse zu übertrumpfen. In Regionen wie der Altmark dagegen, wo man viele Kilometer fahren kann, ohne ein Ortsschild zu passieren, gibt es in vielen Dörfern noch nicht einmal DSL-Anschlüsse. Kein Anbieter sah bisher die Notwendigkeit, lange und teure Kabel zu verlegen, um eine Handvoll Häuser anzuschließen. Um überhaupt ins Netz gehen zu können, ist man auf mobile Datenverbindungen angewiesen. Die sind teuer, in der Kapazität begrenzt – und setzen voraus, dass es Handyempfang gibt. Gleich hinter Krones Werkhalle sieht es auch da düster aus. Er habe, räumt der Firmenchef ein, schon ans Abwandern gedacht; nur die örtliche Tradition als Familienbetrieb halte ihn ab.
Andreas Brohm wirbt nicht für Weg-, sondern für Zuzug. Der Bürgermeister von Tangerhütte will junge Familien und Firmengründer in die Altmark locken, damit die strukturschwache, manchmal als abgehängt dargestellte Region mit Leben erfüllt wird. Er ist selbst hier aufgewachsen, hat als Musicalmanager die weite Welt gesehen, ist aber in die Provinz zurückgekehrt – und wirbt nun dafür, dass andere seinem Beispiel folgen. In Berlin oder Hamburg seien die Mieten unerschwinglich; die Metropolen seien laut, die Luft schlecht. In der Altmark gibt es Platz, Ruhe und günstige Immobilien; die Stadt ist per ICE oder auf der Autobahn schnell erreicht. Klingt verführerisch – wenn es nicht einen Pferdefuß gäbe: das lahme Internet. Gut ausgebaute Datenautobahnen, sagt Brohm, seien für das platte Land inzwischen fast wichtiger als »richtige« Autobahnen. Würden sie nicht in absehbarer Zeit geschaffen, gehe die Entleerung der Dörfer weiter – mit all ihren problematischen sozialen und politischen Folgen. »Ohne Digitalisierung«, ist der Bürgermeister überzeugt, »ist der ländliche Raum verloren.«
In der Altmark ist die Erkenntnis schon vor einigen Jahren gereift – ebenso wie die Überzeugung, dass es der Markt nicht richten wird. 20 Gemeinden und die beiden Landkreise im Norden des Landes Sachsen-Anhalt gründeten deshalb den »Zweckverband Altmark« (ZVA) mit dem Ziel, die Region mit schnellem Internet zu versorgen – eine Region, die mit 4700 Quadratkilometern fast so groß ist wie das Saarland und Luxemburg zusammen, in der aber nur 200 000 Menschen leben. Weil in den Ortschaften mit mehr als 2000 Einwohnern private Anbieter aktiv sind, soll sich der Zweckverband um die weit verstreuten Dörfer und Gehöfte kümmern; es geht um rund 33 000 Anschlüsse von Privatpersonen und Firmen. Um sie alle ans Netz zu bringen, müssen 2300 Kilometer Kabel verlegt werden, sagt Andreas Kluge, Geschäftsführer des AZV. Genau genommen geht es um dünne Rohre, in die dann mit Druckluft ein Glasfaserkabel eingeblasen wird. Die Kosten sind beachtlich: Sie liegen bei 141 Millionen Euro. Ziel war es ursprünglich, Ende 2018 fertig zu sein. Es wird allerdings wohl nicht ganz zu halten sein, räumt Kluge ein. Er hofft jetzt auf Mitte 2019 – was freilich »ebenfalls noch sportlich ist«.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer lautet: begrenzte Kapazitäten. In Deutschland kommt inzwischen vielerorts der Breitbandausbau ins Laufen. Der aber besteht »zu 80 Prozent aus Tiefbau«, sagt AZV-Geschäftsführer Kluge: Graben ausschachten, Rohr verlegen, zuschütten. Viele Firmen, die über Erfahrung in dem Geschäft verfügen, haben prall gefüllte Auftragsbücher. Die Baukapazitäten seien inzwischen »äußerst knapp«, stellte unlängst Armin Willingmann, der SPD-Minister für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitalisierung in Sachsen-Anhalt, fest.
Ein weiteres Problem: umständliche Förderverfahren. In der Altmark war man zunächst davon ausgegangen, die Aufgabe aus eigenen Kräften stemmen zu können; nun greift man aber doch auf Hilfe von Bund und Land zurück. Berlin bewilligte im Au- gust 40 Millionen Euro, das Land will weitere 24 Millionen zur Verfügung stellen. Die doppelte Förderung habe für die oftmals klammen Kommunen den Vorteil, das sie bis zu 90 Prozent der Kosten zugeschossen bekämen, sagte Willingmann kürzlich in einem Interview der »Altmark-Zeitung«; der Preis seien »längere, getrennte Antragsverfahren«. Die Einschätzung, ob es dabei eher im Bund oder beim Land klemmt, hängt dabei sehr davon ab, mit wem man gerade redet.
Ein dritter Bremsklotz für die Digitalisierung der Altmark ist schließlich der Umstand, dass sich für diese auf einmal nicht mehr nur der kommunale Zweckverband interessiert. Dessen Aktivitäten haben vielmehr auch den »rosa Riesen« geweckt: die Deutsche Telekom. Die hatte jahrelang wenig bis kein Interesse am Internetausbau in der Altmark gezeigt; Gutachten hatten ein »Marktversagen« konstatiert, was überhaupt die Voraussetzung dafür war, dass die Kommunen selbst aktiv werden durften. Nun aber graben diese, haben die ersten 300 Anschlüsse freigeschaltet – und wecken beim bisherigen Platz- hirsch die Angst, langjährige Kunden zu verlieren. Die Telekom rüstet ihre Anschlüsse nun doch auf – und gerät sich dabei mit dem Zweckverband ins Gehege. Mancherorts ist von regelrechten »Grabenkämpfen« die Rede.
In Magdeburg sieht man den Konflikt entspannt. Es sei, sagt Willingmann, »ein Verdienst« des AZV, so viel Druck erzeugt zu haben, dass »nun auch private Anbieter aktiv geworden sind« – denen jetzt aber das Feld überlassen werden solle; schließlich gehe Privat vor Staat. Das weiß man auch beim Zweckverband. Allerdings geraten dort jetzt die Kalkulationen durcheinander, weil gerade Gebiete, in denen mit etwas weniger Kabel ein paar mehr Nutzer hätten erreicht werden können, nun an die erwachte Konkurrenz verloren gehen. Auch der Verband, der seine Leitungen nach der Errichtung an private Betreiber vermietet, rechnet freilich mit einer gewissen Zahl an Anschlüssen. Kluge spricht daher von »Störeffekten«, andere von »Rosinenpickerei« – hinter der durchaus strategisches Kalkül der Telekom vermutet wird. Wenn man die Arbeit des Zweckverbands torpedieren und damit »den Fortschritt auf dem Land verhindern will«, sagt jedenfalls Bürgermeister Brohm, »dann macht man es genau so.«
Verhindert sieht Brohm den Fortschritt, weil Zweckverband und Telekom nicht das gleiche Ziel verfolgen. Ersterer legt Glasfaserkabel bis in jedes Haus – und ermöglicht damit Internetzugänge mit einer Kapazität von einem Gigabit pro Sekunde. Die Telekom dagegen peppt ihre alten Kupferkabel mit einer Technologie namens »Vectoring« so auf, dass Nutzer danach mit bis zu 50 Megabit pro Sekunde surfen können – maximal ein Zwanzigstel dessen, was per Glasfaser möglich ist. Um Mails abzurufen, mit Verwandten per Skype zu kommunizieren oder Fernsehsendungen in der Mediathek anzuschauen, ist das ausreichend, weshalb, wie Brohm einräumt, viele ältere Privatnutzer durchaus zufrieden seien. Wer Spiele mit aufwendiger Grafik online spielen will, dürfte das anders sehen, und auch Unternehmer sind alles andere als begeistert. »Das ist eine Renovierung, aber keine Investition in die Zukunft«, sagt Thomas Krone in seiner Firma in Grieben. Für eine gewisse Zeit wäre ihm mit der ertüchtigten Leitung geholfen, sagt er. Aber die Konstruktionsprogramme werden immer anspruchsvoller, Videokonferenzen mit Kunden seien schon jetzt Standard, ebenso die Fernwartung von Maschinen über das Internet. »In fünf Jahren«, fürchtet Krone, »reicht es schon wieder nicht mehr.«
Nicht nur Unternehmen auf dem Land wollen mehr, als dass eine alte, lahme Leitung ein wenig frisiert wird. Brohm erinnert an viele der eifrig diskutierten Ideen für das künftige Leben gerade auf dem Land: Telemedizin, die teilweise den Besuch beim Arzt ersetzt, weil Blutdruck auch aus der Ferne gemessen werden kann; digitale Rathäuser, die es erlauben, den Gang zum Amt auch vom heimischen Rechner aus zu erledigen. Bald sollen Kühlschränke selbst einkaufen, Autos autonom fahren und die Heizung von unterwegs geregelt werden können. All das setzt freilich voraus, dass es leistungsfähiges Internet gibt.
Brohm hätte sich gewünscht, dass die Politik solche Entwicklungen im Blick hat und Standards für den Internetausbau festlegt – so wie es Vorgaben für die Breite von Autobahnen gibt. Wie die Verkehrsinfrastruktur gehöre auch das Internet schließlich »zur Daseinsvorsorge«, sagt der Bürgermeister, der entsprechend vorausschauendes Denken jedoch in Berlin wie in Magdeburg vermisst. Womöglich, rätselt er, liegt es daran, dass das schnelle Internet keine der für Politik so wichtigen Bilder ermögliche: »Wie will man ein Gigabit darstellen?!«
Weil aber Glasfaser nicht Pflicht ist, wird der Wettbewerb über den Preis ausgetragen – und da hat die Telekom unbestreitbar die Nase vorn: Ein aufgepeppter Kupferanschluss kostet deutlich weniger als die Hälfte dessen, was für einen Gigabit-Anschluss des Zweckverbandes zu berappen ist. »Da werden wir nachbessern müssen«, räumt Brohm ein. Allerdings ist sich AZV-Geschäftsführer Kluge sicher, dass zunehmend auch private Nutzer die Mehrkosten für die Turboanschlüsse auf sich nehmen, wenn sie feststellen, dass neue TV-Geräte ohne leistungsfähiges Internet nicht mehr laufen: »Der Fernseher wird ihnen sagen, was ihr Bedarf ist.«
Firmenchef Thomas Krone weiß, was er gern hätte; für ihn ist freilich viel entscheidender, wann er es bekommt: »Wir sind gezwungen, den zu nehmen, der als erstes kommt«, sagt er – Hauptsache, die Zeiten sind vorbei, da er sich zwischen einem notwendigen Update für sein Buchhaltungsprogramm und dem Kontakt mit einem Kunden entscheiden muss. »Die fragen nicht, ob ich in der Stadt oder auf dem Land sitze«, sagt er. Und wenn sie Termine vorgeben, seien diese verbindlich: »Da kann ich nicht sagen: Das Internet geht heute nicht.« Und erst recht kann er sich nicht damit entschuldigen, dass die Schulkinder in Grieben gerade mit dem Unterricht fertig sind – und Youtube die lokale Wirtschaft ausbremst.
Der Firmenchef muss vom Altmarkdorf in die nächste Stadt fahren, um die Mails seiner ausländischen Kunden abrufen zu können. Der Bürgermeister hat wohl Recht: Ohne schnelles Internet ist der ländliche Raum verloren.