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Klippenkoh­l vom roten Felsen

Auf Helgoland begeht 2018 einer der ungewöhnli­chsten Gartenvere­ine seinen 50. Jahrestag

- Von Harald Lachmann

Gut 15 000 Kleingarte­nvereine gibt es hierzuland­e, doch der mit der schönsten Aussicht liegt wohl auf Helgoland. Die Parzellen sind allerdings ziemlich klein – und auch sonst ist manches ungewöhnli­ch.

Deutschlan­d ist Laubenpiep­erland. Mehr als eine Million Kleingärte­n gibt es in der Republik. Zumeist liegen sie inmitten von Städten oder an deren Rand. Zählt man alle Parzellen zusammen, kommt man auf rund 460 Quadratkil­ometer – eine Fläche, die deutlich größer ist als der urbane Raum von Metropolen wie Köln, München oder Dresden.

Gut 15 000 Vereine beackern diese Gartenspar­ten, wie man sie vornehmlic­h im Osten bis 1990 nannte. Die älteste entstand um 1865 in Leipzig, damals noch Schreberve­rein genannt – nach dem Arzt Moritz Schreber, der sich sehr um Volksgesun­dheit gerade in der städtische­n Arbeitersc­haft verdient machte. Den größten Kleingarte­nverein mit insgesamt 1315 Parzellen bewirtscha­ften heute Hobbygärtn­er im schwäbisch­en Ulm, den kleinsten mit gerade fünf Gärtchen Familien im sächsische­n Kamenz. Und selbst dort, wo längst keiner mehr Gemüseanba­u und Blumenzuch­t vermutet, sprießen Kleingarte­ngewächse: auf einem roten Felsen inmitten tosender Hochsee.

Dabei ist der Kleingarte­nverein Helgoland e.V. – im heimischen Platt »Gooarden en Akkers iip Lun« ge- nannt – nicht einmal so klein, jedenfalls wenn man die Anzahl der Gärtchen nimmt: Es sind knapp 80. Doch mit einer durchschni­ttlichen Parzelleng­röße von 60 bis 100 Quadratmet­ern liegt man schon deutlich unter dem bundesweit­en Mittelwert von 370 Quadratmet­ern. Und so entdeckt der Besucher zwischen den Umfriedung­en der Minigärten, die selbst in diesen Wintertage­n recht beschaulic­h wirken, auch keine Bolzplätze, Liegewiese­n oder opulenten Lauben. Klar dominant sind Gemüsebeet­e, Obststräuc­her, Blumenraba­tten. Alles ist auf Zweckmäßig­keit zugeschnit­ten, bis hin zum Komposthäu­fchen oder dem kleinen Geräteschu­ppen.

Dafür ist die Aussicht natürlich atemberaub­end. Zwischen Schnittlau­chstängeln und Lupinenrei­hen hindurch schweift der Blick ungehinder­t hinüber zur Düne. So heißt das brandungsu­mtoste Nachbareil­and, das inzwischen auch wieder gut tausend Kegelrobbe­n beherbergt.

Im Sommer 1968 hatten Enthusiast­en den Verein gegründet. Man habe damit auch an die Geschichte Helgolands anknüpfen wollen, erzählen Ruth Köhn und Kai Lange, zwei der Gartenpäch­ter. Denn Ackerbau und Viehzucht hätten hier schon sehr früh eine Rolle gespielt. So weise bereits eine historisch­e Karte von 1639 Ackerland sowie Weidewiese­n für Kühe, Schafe und Pferde aus. Während die Männer als Fischer oder Lotsen arbeiteten, hätten die Frauen Roggen und Weizen angebaut und so zur Er- nährung der Familien beigetrage­n. In den 1920er Jahren habe sogar eine regelrecht­e »Kartoffela­llee« von der früheren Inselsüdsp­itze quer über das Oberland zu den Wohnhäuser­n im Norden geführt, berichten sie. Die Äcker verliefen damals zwischen diesem Weg und der steilen Felskante, dem Falm. Anfangs wurden hier Kar- toffeln und Kohl angebaut, später kamen weitere Gemüsesort­en, etwa Erbsen, sowie Obst hinzu.

Der Krieg zog dann auch die Äcker arg in Mitleidens­chaft. Aber endgültig den Rest erhielt die einst fruchtbare Südspitze durch jene irrwitzige­n Bombardeme­nts der Engländer, als diese im April 1947 versuchten, ganz Helgoland in der Nordsee zu versenken.

Erst ab Frühjahr 1952 begannen auf dem Eiland die zunächst lebensgefä­hrlichen Räumungsar­beiten – und fünf weitere Jahre später steckten unbeirrte Insulaner wieder die ersten Parzellen für den Anbau von Kartoffeln und Kohl ab. Und auch das habe man nicht als Freizeitsp­aß verstanden, sondern vielmehr als wichtigen Beitrag zur Versorgung der Familien, erinnert sich Ruth Köhn. Verschiede­ne Kohlsorten, vornan natürlich Grünkohl, aber auch Beeren, Kräuter und Rhabarber bilden bis heute das kleingärtn­erische Fundament vieler Pächter. Doch in einigen Gewächshäu­sern und Wintergärt­en gedeihen nun sogar Weintraube­n, Gurken und Tomaten. Und fast jede Parzelle besitzt daneben auch ein oft winziges idyllische­s Eckchen, in dem nach der Arbeit gemütlich gesnackt, gefeiert oder gebrutzelt wird.

Selbst kleine Nebenerwer­be etablierte­n sich mit der Zeit im Kleingarte­nverein. Frauke Heyel etwa zieht Saatgut von Ringelblum­en, Lupinen, Kapuzinerk­resse, Petersilie, Dill, Liebstöcke­l, Schnittlau­ch, Kürbis oder Helgolände­r Klippenkoh­l, eine Wildform des Gemüsekohl­s. Daneben vertreibt die gelernte Köchin, die 1990 nach Helgoland kam und sich hier nicht nur in die Insel, sondern auch in einen ihrer Bewohner verliebte, Ringelblum­envaseline. Das sei gut gegen rissige Haut und hemme Entzündung­en, versichert sie.

Die schmalen Gässchen zwischen den Gärten haben übrigens originelle Namen, etwa Kartoffels­traße, Elefantenp­fad oder Trafalgars­traße. Kleine Schilder nennen zudem die Entfernung nach Dänemark oder Sansibar. Und da echte Helgolände­r ihren eigenen Dialekt haben, ein spezielles Friesisch, nennen sie ihre Kleingärtn­en nach wie vor nicht »Gooar« (Garten), sondern »Akker« – eben in Anlehnung an den einstigen Nutzungszw­eck.

Zwischen Schnittlau­chstängeln und Lupinenrei­hen hindurch schweift der Blick hinüber zur Düne.

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Fotos: Harald Lachmann; dpa/Marcus Brandt Übersichtl­ich: ein Kleingarte­n auf Helgoland (l.). Die Kolonie am Rand des Felsmassiv­s schließt sich direkt an den Ort an.
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