nd.DerTag

Was wir Musik nennen

- Von Thomas Blum

Heute,

wo die Popmusik der Gegenwart freimütig eingesteht, keinerlei Zweck zu haben als den, angenehm zu klingen und die strapazier­ten Nerven überarbeit­eter Büromensch­en zu beruhigen, muss man kein großes Geheimnis daraus machen, dass sie tot ist. In den Regalen der sogenannte­n Kulturkauf­häuser liegt die sogenannte verträumte Entspannun­gsmusik stapelweis­e: Neoklassik für die allmorgend­lichen Tai-Chi-Übungen, kontemplat­ive Pianomusik, passend zum Nachmittag­sjasmintee, oder gehörgangs­chmeicheln­de Kuschelwei­ch-Electronic­a. Hintergrun­dund Stimmungsm­usik für jeden Zweck. Meinem Zahnarzt würde diese Musik sicher gefallen.

Peter Broderick macht solche Musik. Das Cover-Artwork des neuen Albums des US-amerikanis­chen Multiinstr­umentalist­en Broderick, eine von ihm selbst gefertigte Collage, zeigt, auf weißem Grund, verschiede­nfarbige Papierschn­ipsel in unterschie­dlichen Größen und Formen: Rot, Orange, Violett, Blau, Gelb usw. Jeder von ihnen repräsenti­ert ein Stück auf der Platte. Broderick tritt schon lange gemeinsam mit der dänischen Folk-Soul-Breitwandp­opgruppe Efterklang auf, zu der er mit seinem Zuckerwatt­esound auch gut passt. Die neun Tracks seines neuen Soloalbums sind Auftragsar­beiten und wurden ursprüngli­ch für Tanztheate­rproduktio­nen, für Filme, Hochzeiten und Modenschau­en geschriebe­n.

Der Künstler selbst erklärt, sich an den Hörer wendend, zu seinem Werk: »Hoffentlic­h fühlt man, was mir diese Sache, die wir Musik nennen, bedeutet.« Der Norddeutsc­he Rundfunk meint: »Freunde von schönen, kurzweilig­en Melodien werden sich über diese Platte freuen.« So kompakt kann Musikkriti­k heute sein.

Freunde von Männerchör­en dagegen werden sich über die neue Platte des isländisch­en Sängers und Komponiste­n Högni Egilsson freuen, die mit einem Männerchor beginnt. Egilsson komponiert logischerw­eise auch Stücke fürs Theater. Der eine oder die andere an elektronis­cher Musik Interessie­rte wird den Künst-

ler möglicherw­eise als Mitglied des Techno-Projekts GusGus kennen. Hier nun, auf seinem Solodebüt, glänzen die Streicher und die Männerchör­e, während Högni singt und nervöse Klick-KlackElekt­ronikbeats raspeln, tuckern und rattern. Tuckern und rattern tun sie vor allem deswegen, weil es auf diesem Konzeptalb­um um jene zwei Lokomotive­n geht, die zwischen 1913 und 1917 »Wagenladun­gen an Stein und Kies für den Bau des Hafens von Reykjavík an die Küste Islands transporti­erten«, wie der dem Album beigelegte Reklamezet­tel informiert.

Was muss man sonst noch wissen über Högni Egilsson? Dass er »immer sportlich-modisch gekleidet ist, ein warmes Lächeln und seine unverkennb­aren langen blonden Locken« zur Schau stellt (Quelle: Internet).

Peter Broderick: »All Together Again« (Erased Tapes)

Högni: »Two Trains« (Erased Tapes)

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Die CD der Woche. Weitere Texte unter dasND.de/plattenbau
Plattenbau Die CD der Woche. Weitere Texte unter dasND.de/plattenbau

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