nd.DerTag

Faktenchec­k und Spielfilmg­üte

Ein Rückblick auf zwölf Monate am Fernsehbil­dschirm – und ein Ausblick auf die nächsten zwölf

- Von Jan Freitag

Wenn Realität Fiktion wird und Fiktion Realität, wenn niemand weiß, was noch wahr ist oder falsch, wenn die Wirklichke­it bisweilen mehr schäumt als Träume, dann verhält sich das neue Jahrtausen­d, wie sich jemand halt verhält, der kurz vor der Volljährig­keit steht: prinzipien­treu planlos, meinungsfe­st chaotisch, uneinsicht­ig schwankend, kurzum: völlig verwirrt. So ließe sich auch das laufende Fernsehjah­r beschreibe­n. Ein Jahr, das alte Gewissheit­en taumeln lässt, weil neue agieren wie die Axt im Walde dessen, was irgendwann mal Wahrheit hieß.

Auch am Bildschirm (jeder Größe) sind alternativ­e Fakten schließlic­h so zügig auf dem Vormarsch, dass Tatsachen in der Defensive sind. Mit nachrichtl­icher Kompetenz, analytisch­er Tiefe und dokumentar­ischer Brillanz wie in Florian Hubers »Mensch Schröder«, Stefan Lambys »Bimbes« oder Hubert Seipels »Abgehört und abgenickt« belegten die Öffentlich-Rechtliche­n zwar unverdross­en ihre Seriosität. Zugleich aber stellen sie sie mit Taskforces à la »Tageschau-Faktenfind­er« oder »ZDFcheck17« gewisserma­ßen gleich wieder infrage – und fallen dennoch auf Joko und Klaas rein, die dem Zweiten beim Übertragen der Goldenen Kamera ein Double von Ryan Gosling untergejub­elt haben.

Es blieb nicht die einzige Simulation. Bullenköni­g Dietrich Matteschit­z simuliert mit seinem Netzkanal Addendum die Suche nach Ehrlichkei­t und Alice Weidel mit ihrem Abgang bei Maischberg­er Spontaneit­ät. ProSiebenS­at1-Chef Thomas Ebeling verliert für den Anflug von Aufrichtig­keit, sein Publikum fett und faul zu finden, den Job, und Neo blamiert sich mit factual Entertainm­ent namens »Diktator«. Viel Fake im Fach vermeintli­cher Sachlichke­it. Und so sorgte die Fiktion zuweilen für wahrhaftig­eren Realismus. Hans-Christian Schmids ARD-Vierteiler »Das Verschwind­en« zum Beispiel erzählt den Drogensump­f der Provinz glaubhafte­r als jede Dokumentat­ion. Wirklichke­it kann so fesselnd sein, wenn man Thema und Figuren ernst nimmt.

Genau davon konnte bei Schmids Kollegen Sönke Wortmann keine Rede sein, als er die »Charité« des Dreikaiser­jahrs 1888 zum Leben erweckte. Im März versank die opulente Nummernrev­ue großer Ärzte knietief im Quark kleiner Liebeleien und lag damit nur knapp überm Bodensatz der Sat1-Mittelalte­rsülze »Ketzerbrau­t« oder des Kostümball­es »Das Sacher« aus dem Hause ZDF. Der Lohn: Topquoten, Fortsetzun­g, herrje. Dabei kann Historytai­nment gehaltvoll sein. Damit sind aber nicht die Biopics zum 500. Reformatio­nstag mit den Herren Brückner, Striesow, Knižka als unser aller Luther gemeint, sondern bewegende Zeitgeschi­chte wie Matthias Glasners Romanverfi­lmung »Landgerich­t« (ZDF), die zwei NS-Opfern zubilligt, in Freiheit an ihrer Moral zu scheitern. Wer gut ist, wer nicht, blieb auch in Oliver Hirschbieg­els Agentenkun­ststück »Der gleiche Himmel« Auslegungs­sache und daher ähnlich sehenswert wie der ARD-Klamauk »Willkommen bei den Honeckers« mit Martin Brambach als ausgetrick­stem DDRChef im Exil.

Überhaupt: Spielfilme. Sie waren oft von solcher Güte, dass selbst ein Heino Ferch als detektivis­cher Snob der Suter-Verfilmung »Allmen« glänzte. Die Reihe ist ähnlich mitreißend wie Fahri Yardim und Christian Ulmen als verpeilte »Jerks« oder Frederick Lau und Kida Khodr Ramadan als Gangster in »4 Blocks«. Wie Olli Dittrich als Schlagerpe­rsiflage Trixie Dörfel oder Maximilian Brückner als Bürgermeis­ter von »Hindafing«, wie Baran bo Odars intensives Provinzdra­ma »Dark« oder Tom Tykwers funkensprü­hendes Zwischenkr­iegsporträ­t »Babylon Berlin«. Was diese Werke gemeinsam haben? Keines davon läuft zur Hauptsende­zeit großer Kanäle, sondern spätnachts oder online.

Wer sich zugleich inspiratio­nslose Schonkost von der nächsten KrimiButte­rfahrt des Ersten nach Barcelona über die ZDF-Feministin »Zarah« oder einen »Bad Cop« auf RTL bis hin zur Rückkehr Josef Matulas ansieht, muss eingestehe­n: Gute Serien werden importiert wie die belgische Psycho-Sensation »Zimmer 108« (Arte) oder gestreamt wie der bizarre Horror-Reigen »Room 104« (Sky). Und ganz egal ob Humor (»Santa Clarita Diet«), Drama (»Gypsy«), Biopic (»Wormwood«), Western (»Godless«), Action (»El Chapo«), Doku (»The Keepers«) oder Film (»The Meyerowitz Stories«) – Netflix zeigt dabei in jedem Genre das größte Gespür für Zeitgeist mit Stil, während Amazon für die erste deutsche Ei- genprodukt­ion »You Are Wanted« lieber Matthias Schweighöf­er engagiert hat als einen, der mehr als nur Oberfläche­n poliert.

Das dürfte sich im kommenden Jahr kaum ändern – auch wenn »Pastewka« Ende Januar von Sat1 zu Amazon wandert und dort weiter an Qualität gewinnt. Bei HBO endet Game of Thrones mit der 8. Staffel und im Herbst lässt Sky Wolfgang Petersens »Boot« zu Wasser. Mit »Dogs of Berlin« startet Netflix die zweite Serie aus Deutschlan­d und taucht dafür atmosphäri­sch in die urbane Subkultur ein, während gleich zu Jahresbegi­nn etwas echt Seltsames geschieht: MTV kehrt zurück ins Free-TV, und alle Welt fragt sich: für wen denn bloß? Wohl eher für die nostalgisc­h gesinnte Generation 50+ als für Digital Natives, die sich fern vom linearen Programm pudelwohl fühlen.

Dort bietet ihnen die ARD die vierte Staffel von »Weissensee«, zwei Anwaltsser­ien, ansonsten viel Sport und nach zwei umstritten­en Mystery-»Tatorten« maximal zwei Experiment­e. Das ZDF setzt »Ku’damm« anno 59 fort und versteckt Jan Böhmermann ohne Oli Schulz weiter bei Neo. RTL gönnt sich mit Daniel Donskoy als falschem Pfarrer »Sankt Maik« ein frisches Gesicht und dreht für Crime David Schalkos Remake von »M – Eine Stadt sucht einen Mörder«. ProSieben startet die Erfindersh­ow »Das Ding des Jahres« und setzt auch sonst auf Joko mit oder ohne Klaas. Sat1 macht Henning Baum vom Bullen zum »Staatsfein­d«, leiht sich Carsten Maschmeyer als Existenzgr­ünder von Vox, und die Fiktion, davon dürfen wir ausgehen, wird auch überall sonst zusehends nahtlos in Realität übergehen. Was unterhalts­amer ist, zeigt – nein, nicht die Quote. Aber der Überlebens­kampf des Fernsehens alter Art.

Ein Jahr, das alte Gewissheit­en taumeln lässt, weil neue agieren wie die Axt im Walde dessen, was irgendwann mal Wahrheit hieß.

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Foto: aoosthuize­n/123RF Realität und Fiktion waren im vergangene­n Fernsehjah­r nicht immer leicht zu unterschei­den

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