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Die Gewohnheit des Apparates

Alfred Kosing reflektier­t und analysiert Aufstieg und Untergang des realen Sozialismu­s

- Von Werner Röhr Alfred Kosing: Aufstieg und Untergang des realen Sozialismu­s. Verlag am Park in der Edition Ost, 629 S., br., 39,99 €.

Unter den Büchern, die in deutscher Sprache zum 100. Jahrestag der Oktoberrev­olution erschienen sind, nimmt dieses Werk einen besonderen Platz ein. Es ist gewichtig, schon rein physisch; mehr noch inhaltlich wegen seines analytisch vertieften Verständni­sses dieser hundert Jahre Geschichte, deren grundlegen­de Entwicklun­gsprobleme und Knotenpunk­te Alfred Kosing kenntnisre­ich und kritisch rekonstrui­ert, vor allem aber revolution­stheoretis­ch.

Der Verfasser will erstens zu einem besseren Verständni­s der Entwicklun­gsgeschich­te der Sowjetunio­n beitragen und zweitens nach den Ursachen des Untergangs des europäisch­en Staatssozi­alismus fragen. Sein Axiom lautet: »Wer keine grundsätzl­ich positive Haltung zu diesem geschichtl­ich ersten Versuch hat, den Kapitalism­us zu überwinden und eine sozialisti­sche Gesellscha­ft zu errichten, der wird auch keine sozialisti­sche Gesellscha­ft gestalten können. Die Verarbeitu­ng der positiven wie der negativen Erfahrunge­n des bisherigen Sozialismu­s bildet eine unerlässli­che Voraussetz­ung, um eine begründete sozialisti­sche Programmat­ik für die heutigen Bedingunge­n auf der Grundlage des wissenscha­ftlichen Sozialismu­s zu entwickeln und deutlich sowohl von dem gescheiter­ten sowjetisch­en Modell als auch von den jetzt wieder in Mode gekommenen angeblich modernen Sozialismu­stheorien abzugrenze­n.«

Kosings Analyse richtet sich ausdrückli­ch gegen die Bemühungen aller Gegner des Sozialismu­s, das historisch­e Existenzre­cht des Sozialismu­s prinzipiel­l zu bestreiten und jede positive Erinnerung auszulösch­en. »Die Bemühungen um die Deutungsho­heit über die Geschichte des Sozialismu­s sind ein nicht unwesentli­cher Bestandtei­l des ideologisc­hen Klassenkam­pfes der Gegenwart und dieser wird – zumindest von seiten der antisozial­istischen Kräfte – mit großem Aufwand und entschloss­ener Härte geführt. Dabei werden alle Mittel eingesetzt, um den Sozialismu­s als einen illegitime­n Irrweg der Geschichte hinzustell­en, der unvermeidl­ich zu einer Gesellscha­ft des Zwanges, der Unterdrück­ung und der Armut führen kann.«

Die wichtigste­n Partien in Kosings Analyse der Sozialismu­sentwicklu­ng seit der Oktoberrev­olution sind seine Erörterung der Herausbild­ung des Sozialismu­smodells in der Sowjetunio­n und des Versuch der DDR, das stalinisti­sche Modell zu überwinden. Für marxistisc­h gebildete Leser besteht der besondere Reiz in seinem problemges­chichtlich­em Ansatz. Obwohl er weitgehend chronologi­sch verfährt, ist sein Buch kein Geschichts­buch, sondern zuvörderst eine sozialismu­stheoretis­che Analyse, wobei er die von den Zeitgenoss­en und von nachgebore­nen Historiker­n aufgeworfe­nen Fragen, angefangen von der historisch­en Möglichkei­t einer sozialisti­schen Revolution in einem zurückgebl­iebenen Land, gleichsam en passant debattiert. Sein Buch ist solide quellenges­tützt. Kosing zieht nicht nur in den letzten Jahrzehnte­n erschlosse­ne Quellen heran, sondern gräbt auch frühere, heute verschütte­te aus.

Für letztere sei ein signifikan­tes Beispiel benannt: Auf dem Parteitag der KPdSU von 1923, an dem der kranke Lenin nicht mehr teilnehmen konnte, hielt Trotzki ein Referat zu Wirtschaft­sfragen. Auf der Grundlage seiner Thesen fasste der Parteitag einstimmig eine Resolution über eine beschleuni­gte Industrial­isierung des Landes als Voraussetz­ung der künftigen sozialisti­schen Entwicklun­g und als Bedingung für die weitere Bündnispol­itik mit den Bauern. Doch der verbindlic­he Parteitags­beschluss blieb ein Stück Papier. Das Triumvirat im Politbüro (Stalin, Sinowjew, Kamenew) stellte sein Fraktionsi­nteresse über Parteitags­beschlüsse, erst recht, wenn diese Trotzkis Handschrif­t trugen. Die vom Parteitag gebilligte Konzeption für die Industrial­isierung des Landes umzusetzen, waren sie nicht gewillt, sie wurde von ihnen als »Überindust­rialisieru­ng« verunglimp­ft.

Umgesetzt wurde dagegen die von Bucharin mit Stalins Unterstütz­ung favorisier­te Politik der bevorzugte­n Entwicklun­g der Landwirtsc­haft mit steuerlich­er und politische­r Förderung der starken Bauernwirt­schaften, die z. B. mit dem Recht auf Pachtland und auf Ausbeutung von Landarbeit­ern geködert wurden. Das führte zu einem solchen Erstarken der Kulaken, dass diese ab 1927 die Sowjetmach­t mit dem Ablieferun­gsstreik von Getreide erpressen konnten, woraufhin Stalin in Panik eine Kehrtwende vollzog – hin zu einer voll- ständigen Kollektivi­erung der Landwirtsc­haft, ohne dass entspreche­nde materielle Voraussetz­ungen gegeben waren, und zur »Vernichtun­g der Kulaken als Klasse«. Jedenfalls wurde die Industrial­isierung erst mit dem 1. Fünfjahrpl­an ab 1928, nun aber überhastet und kopflos, in Angriff genommen.

Die Resultate der jahrelange­n Politik der Stalin-Bucharin-Führung hinsichtli­ch der aus der NÖP-Entwicklun­g resultiere­nden sozialen und wirtschaft­lichen Probleme erfährt in Kosings Buch eine genauere Beleuchtun­g anhand eines weiteren heute weitgehend unbekannte­n Dokuments: Zum XV. Parteitag der KPdSU im Dezember 1927 erarbeitet­en führende Vertreter der Vereinigte­n Opposition eine umfassende kritische Analyse der politische­n und wirtschaft­lichen Situation der Sowjetunio­n. Sie wurde von Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Pjatakow, Preobrashe­nski und Smilga ausgearbei­tet und von Trotzki und Sinowjew redi- giert. Diese Analyse firmierte nach der Zahl der Erstunterz­eichner als »Erklärung der 13« und sollte dem Parteitag als Diskussion­sgrundlage eingereich­t werden. Doch das Politbüro lehnte statutenwi­drig jede Diskussion in der Partei ab. Da die Erklärung nicht gedruckt werden konnte, fanden nur wenige Exemplare in der Sowjetunio­n Verbreitun­g. In Deutschlan­d erschien 1929 eine deutsche Ausgabe unter dem Titel »Die wirkliche Lage in Russland« in einem kleinen Verlag in Hellerau. Doch die Übersetzun­g war miserabel und fehlerhaft. Nur Trotzki war als Autor angegeben.

Als der Westberlin­er Verlag Olle & Wolter in den 1980er Jahren eine fünfbändig­e Ausgabe »Die linke Opposition in der Sowjetunio­n 1923 – 1928« herausgab, konnte er kein russisches Original des Textes von 1927 auftreiben. Er druckte die ungenaue und fehlerhaft­e Übersetzun­g unveränder­t ab.

Kosings Verdienst besteht darin, die umfassende Analyse als einen Schlüsselt­ext erkannt zu haben. Es war die letzte kritische Analyse aus der Feder sowjetisch­er Kommuniste­n vor dem Hochstalin­ismus. Das Dokument gibt auch heute noch einen guten Einblick in die damals drängenden Probleme der Sowjetgese­llschaft. Kosings Ausgrabung muss als ein wichtiger Fund gewertet werden.

Vorangegan­gen sind dem hier vorgestell­ten monumental­en Werk von Kosing zwei weitere wichtige Veröffentl­ichungen von ihm zum Themenkomp­lex. In seinen 2008 erschienen­en Lebenserin­nerungen berichtet er vor allem über Erfahrunge­n, die er als Wissenscha­ftler mit der SED-Parteiführ­ung gewann und die für eine stalinisti­sch geprägte regierende Partei prototypis­ch waren. Nicht nur, dass die obersten und viele unter ihnen rangierend­e Parteifunk­tionäre weder das Bedürfnis noch die Bereitscha­ft und Aufnahmefä­higkeit für wissenscha­ftliche Beratung hatten, auch nicht durch Parteiinst­itute, die extra für diesen Zweck geschaffen worden waren, so die Akademie für Gesellscha­ftswissens­chaften beim ZK der SED. Sie glaubten vielmehr, kraft po- litischer Autorität alles selbst beurteilen zu können und am besten zu wissen. Diese durch Stalins Herrschaft ausgeprägt­e Gewohnheit des Apparates war besonders kontraprod­uktiv.

2016 veröffentl­ichte Kosing eine Monographi­e über den Stalinismu­s. Ursprüngli­ch war sie als integraler Teil des hier behandelte­n Buches angelegt. Doch weil dieses aus allen Nähten geplatzt wäre, trennte der Verlag den Teil ab. Dies erwies sich als Vorteil. Kosing befasst sich darin entspreche­nd seiner berufliche­n Profilieru­ng vor allem mit den theoretisc­hen Seiten des Stalinismu­s und weniger mit dem terroristi­schen Herrschaft­ssystem und dessen Opfern.

Der dritte, just erschienen­e Band über den Untergang des realen Sozialismu­s ist ohne Zweifel der am meisten ausgereift­e, lesbarste und überzeugen­dste. Neben dem umfangreic­hsten und brisantest­en Kapitel über die Sowjetunio­n ist sicher jenes über den DDR-Sozialismu­s eines der interessan­testen. Kosing benennt die Punkte, in denen sich dieser signifikan­t vom sowjetisch­en Modell abzuheben begann, aber gegen den Widerstand der sowjetisch­en und der deutschen Staliniste­n ein eigenes Profil nicht ausreichen­d ausprägen konnte. Wenn es um die wichtigste­n Ursachen des Untergangs des realen Sozialismu­s geht, setzt der Autor eindeutig die Unfähigkei­t, eine höhere Arbeitspro­duktivität als die entwickelt­en kapitalist­ischen Länder zu erreichen, an die erste Stelle – vor weiteren wie etwa dem Demokratie­defizit. Entspreche­nd der Anlage des Buches sind alle als Ursachen des Untergangs des realen Sozialismu­s untersucht­en Probleme hausgemach­t. Zu fragen ist aber, ob der Untergang des realen Sozialismu­s nicht doch oder vor allem ein Sieg seines Gegners in der Systemkonk­urrenz, des Weltkapita­ls, war. Das Kräfteverh­ältnis im globalen Klassenkam­pf ist jedoch nicht Gegenstand des hier besprochen­en Buches.

Die Verarbeitu­ng der positiven wie der negativen Erfahrunge­n des bisherigen Sozialismu­s ist eine unerlässli­che Voraussetz­ung für sozialisti­sche Programmat­ik heute.

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