nd.DerTag

Weihnachts­botschaft

Netzwoche

- Von Robert D. Meyer

Es ist schon eine Krux mit dieser Nächstenli­ebe: Einer der zentralen Begriffe des Christentu­ms dürfte auch dieses Jahr an Weihnachte­n in kaum einem Gottesdien­st gefehlt haben. Papst Franziskus etwa rief in der Christmett­e an Heiligaben­d dazu auf, Nächstenli­ebe gegenüber Flüchtling­en zu zeigen. Ob diese Botschaft des Pontifex für Ulf Poschardts Geschmack schon zu viele konkrete Handlungse­mpfehlung enthielt, um sich als guter Christ zu beweisen? Der »WeltN24«Chefredakt­eur beschwerte sich am ersten Weihnachts­feiertag via Twitter darüber, was in den Gotteshäus­ern zur Heiligen Nacht gepredigt wird: »Wer soll eigentlich noch freiwillig in eine Christmett­e gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht?«

Es ist anzunehmen, dass ein überzeugte­r Liberaler wie Poschardt weiß, dass einerseits Teile der Bergpredig­t auch unter Linken populär sind, anderseits beim Umgang der Kirchen mit Homosexuel­len, Abtreibung­en oder der Rolle der Frau die Schnittmen­gen rasch erschöpft sind. Um Differenzi­erung ging es dem Journalist­en mit seiner Provokatio­n nicht, der einbrechen­de TwitterShi­tstorm ließ nicht lange auf sich warten. Unter dem Hashtag #Pos- chardtEvan­gelium sprangen selbst jene der Kirche zur Seite, die mutmaßlich schon länger nicht oder noch nie ein Gotteshaus von innen gesehen haben. Doch in Zeiten, in denen auch das unter Poschardts Zuständigk­eit fallende Onlineport­al welt.de mit Texten zu »kriminelle­n oder gewalttäti­gen Flüchtling­en« Stimmungen befeuert, können sich progressiv­e Stimmen ihre Verbündete­n nicht aussuchen. Also betonten Poschardts Kritiker jene Punkte, die sie mit der Kirche verbindet. »Deutet das nicht eher darauf hin, dass christlich­e Werte wie Nächstenli­ebe, Gerechtigk­eit und Umweltschu­tz am ehesten bei der Grünen Jugend und den Jusos vertreten werden? Oder sollte Kirche an Weihnachte­n lieber wie AfD und Junge Union predigen?«, schrieb der Politikber­ater Lucas Gerrits.

Seine Frage zielte auf den Kern der Debatte ab: Wie politisch darf die Kirche sein? Kann sie überhaupt unpolitisc­h sein, wenn Religion doch für sich in Anspruch nimmt, durch die vermittelt­en Werte Gradmesser für Entscheidu­ngen des Alltags zu sein? CDU-Vizin Julia Klöckner verkündete via Bild.de, dass sie es in einer Predigt eher unkonkret mag. Zwar ziele die christlich­e Botschaft auf eine »gesellscha­ftspolitis­che Haltung«, doch die Kirchen dürften dabei »nicht parteipoli­tische Programme übernehmen«. In der Praxis hieße das: Ein Pfarrer dürfte Nächstenli­ebe predigen, was der Begriff in seiner Umsetzung bedeutet, wäre aber jedem selbst überlassen. Dass dies zur Beliebigke­it führt, darauf verweist Tim Hofmann auf

freiepress­e.de. Inzwischen sei die Beschreibu­ng des Christen als »besserer Mensch« inhaltlich so »dehnbar, dass fast jeder mit seinem Wertesyste­m hineinpass­t, der sich nicht ausdrückli­ch distanzier­t: Martin Luther wie Donald Trump, Tom Araya wie Albert Schweitzer, Björn Höcke wie Bodo Ramelow.«

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Foto: photocase/Thomas K. Weitere Beiträge finden Sie unter dasnd.de/netzwoche

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