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Reformiert

Die Reform des Pflegesyst­ems vor einem Jahr brachte Verbesseru­ngen für Patienten, löste viele Probleme aber nicht

- Von Ulrike Henning

Die neuen Pflegestuf­en haben längst nicht alle Probleme gelöst.

Im Pflegebere­ich tut sich was: Das Beurteilun­gssystem wurde geändert, die Ausbildung wird reformiert. Allerdings muss in Finanzfrag­en einiges bewegt werden und der Personalno­tstand bleibt akut. Pflegekass­en, Medizinisc­he Dienste und der Spitzenver­band der Gesetzlich­en Krankenver­sicherung klopfen sich auf die Schulter: Der Systemwech­sel in der Pflege ist geglückt. Vor einem Jahr wurden die bis dahin gültigen drei Pflegestuf­en durch fünf Pflegegrad­e ersetzt, drei Millionen Menschen mit ihren Ansprüchen wurden nach dem Zweiten Pflegestär­kungsgeset­z (PSG II) beurteilt. Darin ist ein neuer Begriff von Pflegebedü­rftigkeit festgelegt, der sich daran orientiert, wie stark die Selbststän­digkeit im Alltag eingeschrä­nkt und in welchem Maße Hilfe notwendig ist. Die Zeit des in Minuten gemessenen Hilfebedar­fs sei vorbei, heißt es. Neu ist auch, dass seit 2017 körperlich­e, kognitive und psychische Beeinträch­tigungen sowie gesundheit­liche bedingte Belastunge­n gleichgest­ellt werden. Konkret brachte das Verbesseru­ngen für Menschen mit Demenz. Für die Begutachtu­ng wurde ein neues Verfahren eingeführt.

Ein erstes Zwischener­gebnis: Durch die niedrigere­n Schwellenw­erte der Pflegegrad­e 1 und 2 erhalten deutlich mehr Menschen Leistungen aus der Pflegevers­icherung als unter dem früheren System. Und mit den hohen Pflegegrad­en 4 und 5 sind viele Menschen besser versorgt als mit der früher höchsten Pflegestuf­e 3 und Härtefälle­n. Allerdings heißt es in der Praxis immer wieder, wenn die Unterstütz­ung ambulant erbracht werden soll: »Tut uns Leid, wir haben leider kein Personal.« Tatsächlic­h fehlen aktuell etwa 30 000 Fachkräfte in der Pflege. »Die Schere zwischen dem steigenden Bedarf an Pflegeleis­tungen und dem immer weniger ausreichen­den Personal geht weiter auf«, beschreibt Rainer Kleibs, Geschäftsf­ührer der Sozialstif­tung Köpenick in Berlin, die Situation. Die gemeinnütz­ige Stiftung bietet unter anderem stationäre Dauer- und Kurzzeitpf­lege an. Zwar konnten Kleibs und sein Team bisher genug Mitarbeite­r gewinnen, aber: »Seit dem vergangene­n Jahr ist der Mangel an Arbeitskrä­ften auch spürbar bei uns angekommen.«

Unter anderem die Pflegekass­en haben erkannt, dass der Fokus viel stärker auf die zu richten ist, die die Leistungen erbringen sollen. Das betrifft die häufig zu schlecht entlohnten Profis, aber durchaus auch die Angehörige­n, die immer noch für die zwei Drittel der Bedürftige­n, die zu Hause leben, alleine da sind.

Eine höhere Attraktivi­tät des Berufs bedeutet mehr als eine bessere Entlohnung, aber sie ist letztlich entscheide­nd. Schon jetzt werben einige Anbieter mit freier Schichtwah­l oder zusätzlich­en Sozial- und Gesundheit­sleistunge­n. Auf einem leer gefegten Markt ist aber auch das oft nicht ausreichen­d. In die Lücke stoßen Personalle­asing-Unternehme­n, deren Mitarbeite­r zu Lasten der Stammbeleg­schaften ihre Wünsche, etwa die Arbeitszei­ten betreffend, durchsetze­n können. »Diese sind jedoch als Dauerlösun­g viel zu teuer«, merkt Kleibs an. Zwar fließe mit der neuen Gesetzgebu­ng deutlich mehr Geld in den gesamten Bereich. Auch ein einheitlic­her Eigenantei­l, unabhängig vom Pflegegrad, sei eingeführt worden. Aber es gebe Finanzieru­ngslücken: So wird laut Kleibs die medizinisc­he Be- handlungsp­flege in Altersheim­en nicht rückvergüt­et, das sei schon seit 20 Jahren der Fall.

Die absehbaren Finanzieru­ngsproblem­e lassen sich nicht mehr lange mit der bestehende­n TeilkaskoP­flegeversi­cherung lösen – auch in der Pflege wird der Ruf nach Einführung einer solidarisc­hen Bürgervers­icherung laut, in die auch Beamte und Selbststän­dige einzahlen sowie Einkünfte aus Kapital oder Vermietung mit einbezogen werden. Zumin- dest ist vielen klar, dass das vorhandene System so angepasst werden muss, dass Betroffene oder deren Familien nicht mehr von Armut bedroht werden.

Zu den insgesamt neun neuen Pflegegese­tzen seit 2014 gehört auch das zur Reform der Pflegeberu­fe. Sie beinhaltet eine sogenannte generalist­ische Ausbildung, die für alle Bereiche von der Kranken- und Kinder- bis zur Altenpfleg­e zunächst einheitlic­h ist; erst relativ spät wählen die künftigen Pflegekräf­te dann ihre Spezialisi­erung. Zwar greift das erst ab 2020, erste Auswirkung­en zeigen sich aber bereits: »Die Praxisträg­er wollen die Schüler schon jetzt an sich binden«, berichtet Christine Vogler, Leiterin des Pflegebere­ichs des Ausbilders Wannseesch­ule e. V. in Berlin, der die generalist­ische Ausbildung schon 2004 als Modellproj­ekt einführte. »In Not sind sie alle: Pflegedien­ste, Pflegeheim­e und Krankenhäu­ser.« Die jetzt verstärkte Konkurrenz der Träger findet Vogler kontraprod­uktiv: »Sie müssten eher kooperiere­n.«

Die Praktikeri­n weist darauf hin, dass die Schulen die künftige Prüfungs- und Ausbildung­sverordnun­g rasch benötigen, um sich auf die neue Situation vorzuberei­ten. Vogler kann deshalb nicht verstehen, warum das offenbar schon fertige Regelwerk nicht endlich von den beteiligte­n Bundesmini­sterien herausgege­ben wird. Dass die Länder die bisher in den Ressorts Bildung (Altenpfleg­e) und Gesundheit (Krankenpfl­ege) angesiedel­ten Schulen in einem Bereich zusammenfü­hren müssen, lässt weitere Verzögerun­gen befürchten.

Am Ende muss sich zeigen, ob der Berufsnach­wuchs die generalist­ische Ausbildung oder die klassische­n Ausbildung­sgänge vorzieht. Gewiss ist aber: Die Ausbildung­szahlen müssen schon viel eher erhöht werden – danach sieht es bisher nicht aus.

»In Not sind sie alle: Pflegedien­ste, Pflegeheim­e und Krankenhäu­ser.« Christine Vogler, Wannseesch­ule e. V.

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Foto: dpa/Sebastian Willnow Gesundheit­sfördernde Angebote wie hier im Christoph-Buchen-Pflegeheim in Weißenfels (Sachsen-Anhalt) gibt es nicht überall.

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