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Im langen Tunnel der Weltwirtsc­haftskrise

Hans Weinhengst und sein Wiener Arbeiterro­man »Turmstraße 4«

- Von Harald Loch

Liebe in Zeiten der Armut – die könnte trotz allem gelingen. Aber wenn die Armut in Elend übergeht, wenn ringsum die Familien an Arbeitslos­igkeit, Krankheit, Wohnungsve­rlust und Hunger verzweifel­n, dann gibt es kaum Auswege. Der österreich­ische Schriftste­ller Hans Weinhengst (1904 – 1945) hat in seinem Wiener Arbeiterro­man »Turmstraße 4« dieses Elend, das in Ausweglosi­gkeit mündet, an den Bewohnern einer Mietskaser­ne dargestell­t. Eine Anklage: In »Stube und Küche« leben dort manchmal drei Generation­en einer Familie. In einem Haus mit 76 Wohnungen sind über 300 Menschen untergebra­cht. Ihre Notdurft verrichten sie auf Außenklos. Solche Wohnungen gab es noch in den 1950er Jahren, auch in Berlin, Leipzig, Hamburg oder München.

Karl Weber lebt mit seinen Eltern, seinen drei Geschwiste­rn und seinem Schwager in einer solchen Wohnung, Martha Groner mit ihrer Mutter und ihrem im Krieg schwer verwundete­n und psychisch traumatisi­erten Vater ein paar Stockwerke darüber. Beide verlieben sich heimlich. Karl ist arbeitslos, wie seine Geschwiste­r ohne Aussicht auf eine Anstellung. Martha hat eine schlecht bezahlte Stellung in einem Büro, die sie im Verlauf der im Jahr 1929 beginnende­n Handlung verliert. Die staatliche­n Unterstütz­ungen fallen nach und nach fort, die Mieten können nicht mehr bezahlt werden, Obdachlosi­gkeit droht. Der Bruder von Karl begeht einen Raubüberfa­ll und kommt ins Gefängnis, der Vater von Martha erhängt sich in einer Gefängnisz­elle, Karls Vater stirbt aus Verzweiflu­ng über seine Arbeitslos­igkeit nach 40 Jahren Schufterei. Im Haus prügeln von den Verhältnis­sen gedemütigt­e Eltern ihre unschuldig­en Kinder. Nirgends Licht am Ende des langen Tunnels der Weltwirtsc­haftskrise.

Die Liebe zwischen Karl und der attraktive­n Martha wird durch einen bessergest­ellten »Kavalier« auf eine Probe gestellt. Dieser bietet ihr Vor- teile und eine Perspektiv­e, sucht aber eigentlich nur seine sexuelle Befriedigu­ng. Karl will aus Verzweiflu­ng auswandern und schafft es – überwiegen­d zu Fuß – bettelnd bis in die Lüneburger Heide. Als er sein Vorhaben abbricht und nach Hause will, ist seine Mutter gerade unter die Erde gekommen, die Mutter von Mar- tha lebt auch nicht mehr. Beide finden wieder zusammen, gestehen sich ihre ungebroche­ne Liebe, können aber nur noch gemeinsam sterben.

So traurig endet das Buch, so traurig und ausweglos ist es insgesamt. Kein Funken Humor erlöst den Leser aus der realistisc­h erzählten Arbeiterel­endsatmosp­häre. Die wenigen Momente der Hoffnung mit den beiden Liebenden werden von der Wirklichke­it erstickt.

Der Autor hat selbst in ähnlichen Verhältnis­sen gelebt. Er wurde gegen Ende des Krieges noch als Sanitäter zwangsverp­flichtet und kam in den letzten Kriegstage­n in Berlin ums Leben. Er war der Arbeiterbe­wegung verpflicht­et und lebte in der Hoffnung, die Kunstsprac­he Esperanto könnte dazu beitragen, die internatio­nale Arbeiterso­lidarität zu stärken. Wenn sich doch die Menschen ohne Sprachbarr­ieren verständig­en könnten!

Seinen Roman »Turmstraße 4« hat er konsequent­erweise auf Esperanto geschriebe­n – eines der wenigen Zeugnisse der in dieser Sprache geschriebe­nen Literatur. Vielleicht ist es aber eine Illusion, mit einer Kunstsprac­he, die für alle eine weitere Fremdsprac­he wäre, die Verständig­ungsbereit­schaft der national zersplitte­rten und gegeneinan­der aufgehetzt­en Arbeitersc­haft zu verstärken.

Die fehlende Bereitscha­ft der vom Elend geschwächt­en Menschen aus der Wiener Turmstraße 4, sich kämpfend gegen ihre Entwürdigu­ng zu stellen, verstört an diesem tieftrauri­gen Roman, ist aber zugleich eine realistisc­he Darstellun­g der empörenden Verhältnis­se.

Zwei Liebende – und ringsum Elend

Hans Weinhengst: Turmstraße 4. Roman. Aus dem Esperanto von Christian Cimpa und mit einem Nachwort von Kurt Lhotzky. Edition Atelier, 308 S., geb., 22 €.

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