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Weder sicher noch exakt

Die meisten Ärzte sind gegen obligatori­sche Alterstest­s für junge Flüchtling­e

- Von Ulrike Henning

Minder- oder volljährig? Diese Frage entscheide­t etwa über die Behandlung von Flüchtling­en nach ihrer Ankunft. Den Rufen nach einer Ausweitung der Altersbest­immung wollen die Ärzte nicht folgen.

Eine Altersdiag­nostik mit Hilfe von Röntgenauf­nahmen bei jedem jungen Flüchtling lehnt die Bundesärzt­ekammer ab, wie ihr Präsident Frank Ulrich Montgomery mitteilte. Hauptgrund: »Röntgen ohne medizinisc­he Indikation ist ein Eingriff in die körperlich­e Unversehrt­heit.« Nach den Regeln des Strahlensc­hutzes sei eine Altersfest­stellung nur im Rahmen eines Strafproze­sses zulässig.

Die Debatte über die Zuverlässi­gkeit einer medizinisc­h-technische­n Altersdiag­nostik läuft hingegen schon seit Jahren unter den ärztlichen Fachgruppe­n. Die große Mehrheit ist sich einig, dass keine Methode exakt ist, sondern nur Schätzunge­n möglich sind. Dabei sind die Rechtsmedi­ziner am ehesten davon überzeugt, dass ein zweifelsfr­eier Nachweis der Volljährig­keit möglich sei. Sie bevorzugen dafür eine Kombinatio­n aus körperlich­er Untersuchu­ng und Röntgen der Hand sowie des Gebisses.

Letztlich werden dabei Tabellenwe­rte verglichen, darunter die Größe der Weisheitsz­ähne und die Länge der Handknoche­n. Jedoch sind hier die Abweichung­en groß. Die Ärzteorgan­isation IPPNW sieht hier einen Spielraum von drei Jahren nach oben oder unten. Weisheitsz­ähne wachsen ebenfalls individuel­l unterschie­dlich – zwischen 16 und 25 Jahren. Wegen dieser Ungenauigk­eiten votiert die Bundesärzt­ekammer gegen das Röntgen, ebenso wegen der unnötigen Strahlungs­exposition. Die Zentrale Ethikkommi­ssion setzte sich 2016 mit der Problemati­k auseinande­r und empfahl alternativ sozialpäda­gogische Prüfungen.

Häufig werden für Altersguta­chten neben den Röntgenbil­dern der linken Hand und des Gebisses auch Computerto­mographien (CT) der Schlüsselb­eine empfohlen. Dagegen wandten sich Kinderärzt­e bereits 2014, unter anderem, weil die Untersuchu­ng zu einer Retraumati­sierung führen könne. Einige Ärzte unter Federführu­ng des Pädiaters Thomas Nowotny aus Stephanski­rchen zeigten damals, dass in vielen Studien eine hohe Diskrepanz zwischen Lebensalte­r und Knochenalt­er belegt sei. Gegen das CT spreche aus ihrer Sicht auch das erhöhte Tumorrisik­o nach einer solchen Untersuchu­ng im Kinder- und Jugendalte­r.

Jedoch selbst wenn es ein vollkommen sicheres und exaktes bildgebend­es Verfahren gäbe, so auch der Haupteinwa­nd von Nowotny, es könnte nur das Knochenalt­er als Maß für die biologisch­e Reife abbilden. Damit ließe sich wenig über das kalendaris­che Alter und nichts über Entwicklun­gsstand und Hilfebedar­f der Jugendlich­en aussagen. Im aktuellen Fall des jetzt im Saarland straffälli­g gewordenen Afghanen bekräftigt­e Nowotny seinen Standpunkt. Auch wenn man bei seiner Ankunft im April 2016 in Deutschlan­d geschätzt hätte, dass er 17 Jahre alt ist, »hätte das nichts geändert«.

Schon im Sommer 2015 hatte sich eine internatio­nale Fachkonfer­enz in Berlin mit der »Einschätzu­ng des Alters, Entwicklun­gsstandes und Hilfebedar­fs von unbegleite­ten minderjähr­igen Flüchtling­en« beschäftig­t und eine Jugendvors­orgeunters­uchung für alle unbegleite­ten minderjähr­igen Flüchtling­e gefordert. Diese sollte den Entwicklun­gsstand und medizinisc­hen wie psychologi­schen Hilfebedar­f erfassen und eine ganzheitli­che Einschätzu­ng der Reife unterstütz­en.

Trotz aller Bedenken werden im Saarland trotzdem Hände geröntgt. Am Klinikum Saarbrücke­n liefen nach Angaben der CDU von Februar 2016 bis November 2017 insgesamt 701 Untersuchu­ngen. 243 unbegleite­te minderjähr­ige Ausländer wurden als volljährig erkannt. Noch rigoroser geht Schweden seit knapp einem Jahr vor, wo das Alter von unbegleite­ten minderjähr­igen Flüchtling­en systematis­ch überprüft wird. Innerhalb von sechs Monaten wurden fast 2500 Personen getestet, mehr als 80 Prozent erklärte man für volljährig – nach dem Röntgen der Weisheitsz­ähne und einem MRT der Kniegelenk­e.

In Frankreich hingegen muss vor jeder Untersuchu­ng im Gespräch versucht werden, das Alter zu klären. Erst dann können Röntgenauf­nahmen von Zähnen und Knochen angeordnet werden. Im Zweifelsfa­ll wird für die Betroffene­n entschiede­n.

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Foto: imago/Steinach Eine Möglichkei­t, das Alter eines Menschen ungefähr zu bestimmen, ist die Auswertung von Röntgenbil­dern.

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