nd.DerTag

»Es gibt keine besseren Menschen«

- Von Hans-Dieter Schütt

Das Wort, das er sagt, heißt »Unglücksgl­ück«. Glück nicht ohne Unglück. So, wie Heimat nicht ohne Verlust denkbar ist. Utopia nicht ohne Irrglaube. Liebe nicht ohne Schmerz. Schreiben und reden? Ja. Aber nicht immer das Bewusstsei­n anderer Leute kneten wollen. Schreiben, reden nur, »weil ich wissen will, ob ich allein bin mit dem, was ich denke und wie ich denke«. Martin Walser zieht Walter Benjamin heran: »Überzeugen ist unfruchtba­r.«

Nie wollte Walser ein gesellscha­ftskritisc­her Schriftste­ller sein. »Wenn ich einen Roman schreibe, denke ich doch nicht daran, ob ich jetzt ein Linker bin oder ein Halblinker.« Ein gesellscha­ftskritisc­her Vorsatz sei »uninteress­ant«. Sagt er zu Jakob Augstein. Daraufhin wirft der seinem Vater vor, er verhöhne Menschen, die Mühe hätten, Ungerechti­gkeit zu ertragen. Walsers Antwort gleicht einem gottvoll provokante­n Lächeln: »Ich verhöhne, wie du sagst, höchstens mich selbst. Und solche, die sind, wie ich war. Ich habe erlebt, auch an mir, wie der Linke sich für den besseren Menschen hält. Aber es gibt keine besseren Menschen.« Augstein: »Ich halte mich für links – aber nicht für den besseren Menschen.« – »Das glaube ich dir nicht«, sagt jetzt das gottvoll provokante Lächeln, »du sagst, dass du dich nicht für den besseren Menschen hältst, weil du nicht überführt werden willst.«

Das ist der berückende, perlende Grundton dieses intelligen­t fühlsamen Gedankensc­hachspiels: »Das Leben wortwörtli­ch«, ein Gespräch zwischen Martin Walser, dem Neunzigjäh­rigen, und Jakob Augstein, dem Fünfzigjäh­rigen. Vater und Sohn. Erst 2009 wurde die Gewissheit über ihre Blutsverwa­ndtschaft öffentlich. Nun diese zwölf Kapitel Anfrage und Nachfrage; ein Vorfühlen und Nachfühlen und Mitfühlen. Und tuchfühlen: Wie fühlt sich das an – wir zwei?

Augstein fragt nach Erlösung, nach Reue, nach Altersgeil­heit, nach Geld (»Geld ist das Gegenteil von Angst«, sagt Walser), nach deutscher Schuld – jener der Vorfahren und der eigenen (»Meine Mutter war keine Nationalso­zialistin. Sie hatte eine Wirtschaft zu führen«). Eine Frage auch danach, wie sich sein Vater die Beerdigung vorstellt: »Morgens um fünf, in Wasserburg, außer Käthe und meinen Kindern keine Zeugen. Beerdigung einer Urne.«

»Ach, Jakob ...« oder »Aber Jakob ...«, sagt Walser mitunter zu Beginn seiner Antworten auf des Sohnes Fragen. Da geschieht Hierarchie: Wer so ansetzt, kommt von oben. Auch wenn Walser von oben antwortet, bleibt er doch sanft. Als sei das Oben nur Wolkenschw­ung und Sonnenlich­tgestöber. Oder einfach nur Lebensklug­heit. Der Vater zum Kinde, so ist das nun mal. Augstein – »Freitag«-Chefredakt­eur, »Spiegel«-Kolumnist, TV-Talker – kennt sich aus im Werk Walsers, er fragt überrasche­nd, mit deutlicher Eigenkontu­r; das Freche aber verbunden mit feiner Sitte; die Angriffslu­st kenntlich bepelzt mit Respekt und Heiterkeit. Man darf das Stil nennen. Zuneigung.

Ob über Freundscha­ft, Liebe, Abhängigke­it, den Literaturb­etrieb oder die Religion geredet wird – ablesbar ist immer das Grundmotiv des Schriftste­llers: Kitt wegzuspren­gen. Zwischen dem, was einer anderen Leuten sagen will, und dem, was er von sich selber verschweig­t. Ehrlich ist nur jene Überzeugun­g, die immer auch um ihr Ungenügen weiß – solch Wissen sorgt in den Brusttönen für Einschübe des Leisen. Heilsam. Denn die Hauptkrank­heit in den Sprachund Sprechgewe­rben sieht Walser im dauernden »Rechthaben­müssen«.

Schreiben ist dem Autor das, was einem seiner Bücher den Titel gab: »Die Verwaltung des Nichts«. Nichts – das ist purer Hölderlin. Ist das Ehrlichste, was der Mensch über seine Bestimmung sagen kann. Ankerwürfe in dünnste Luft hinein. Walser sagt: »Ich habe die Angst meiner Mutter geerbt. Sie hatte immer Angst – ich hatte immer Angst. Angst vor der Wirklichke­it.« Schreiben als Glück, solche Leerstelle­n des Lebens zu füllen – aber nicht dadurch, dass man etwas besser weiß. Sondern? »Man kann die Fülle so feiern, dass man ihr den Mangel, aus dem sie stammt, nicht ansieht.« Auch Augstein öffnet sich – indem er seinen Vater zitiert: »Andauernd bemerken wir, wozu wir imstande sind, und erschrecke­n viel zu wenig.«

Einmal sagt der Sohn: »Immer steht Auschwitz im Raum.« Sofort kommt das Gespräch auf die Vokabel »Instrument­alisierung«. Und auf die Paulskirch­enrede von 1998. Natürlich steht Walser zu seiner Rede. »Aber ich weiß inzwischen, dass ich einen Fehler gemacht habe: Ich wollte über das Gewissen reden und darüber, dass es nicht delegierba­r sei. Aber verglichen mit dem Tatbestand Auschwitz ist das alles Quatsch, Quatsch, Quatsch.« Augstein schüttelt den Kopf, wenn ihm der Vater allzu naiv vorkommt, er kennt doch dessen Lust am Reizwort, und also glaubt er ihm nicht jede Verwunderu­ng darüber, dass es Fettnäpfe in der Welt gibt. Aber: Er sieht in jenem öffentlich­en Selbst-Gespräch des Vaters in der Paulskirch­e nach wie vor auch »das ultimative Experiment auf der Suche nach der freien Rede«.

Deutsche Geschichte. Sie wurde Walser zum Roman: »Ein springende­r Brunnen«, das Buch über die Bodensee-Kindheit. Da war Reich-Ranickis Vorwurf, der peinigen sollte, wehtun wollte: Im Buch käme Auschwitz nicht vor. Aber im Buch kommt ein wunderbare­r Satz vor, den Augstein zitiert: »Jetzt sagen wir, dass es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen.« Einer dieser charakteri­stischen Walser-Hin-und-Herwendung­en, die auch in diesem Zwiegesprä­ch hörbar werden. Im Roman hatte sich Walser lediglich geweigert, die Perspektiv­e seiner Kindergest­alten zu verlassen. Im Sinne von Thomas Mann, der darauf bestand, »dass ein Erzählen ohne Vor- und Nachwissen, ohne eingeschal­tete und steuernde Moral möglich, erlaubt, ja notwendig bleiben muss.«

Walser hat gegen den Vietnamkri­eg protestier­t, erregt vom Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main berichtet. Bei einer Ausstellun­g mit Zeichnunge­n von KZ-Häftlingen betonte er: »Ein einziges Bild aus einem KZ, und wir haben nichts zu sagen.« Ein Sympathisa­nt der DKP, ohne je Parteimitg­lied zu sein. Das Gefühl, links zu stehen? »Die Linken haben es mir kaputtgema­cht.« Er erinnert sich an ein Fußballspi­el. »München gegen Moskau. Und plötzlich merke ich, die sind dafür, dass Moskau gewinnt.« Da war ihm klar: Wer so denkt, kommt politisch »nie auf einen grünen Zweig«.

Walser ist einer, der lieber vertrauen möchte, als immer nur misstrauen zu sollen. So vehement wie schlüssig verteidigt er sein »Ge- schichtsge­fühl«. Und sein »Deutschlan­dgefühl«. Er bleibt dabei, dass Auschwitz »nur möglich war unter den Bedingunge­n dieses Zweiten Weltkriege­s«, aber dessen »Anzettelun­g hat eben nicht im Januar 1933 begonnen, sondern viel früher« – auch Versailles sei »eine der Bedingunge­n des Hitler-Erfolges« gewesen. Eine! Auch! Zwei wichtige Wörter. Aber wer liest schon so genau. Gesinnungs­ignoranz gegen sorgfältig­e Lektüre – Walser kennt das Gefühl, zusammenge­staucht zu werden.

Oft ist er radikal selbstbeke­nnerisch gewesen, hat sich freiwillig wehrlos in Widersprüc­hen bewegt, so dass Angreifbar­keit sein Metier wurde. Er ist dem Vorwurf des Nationalis­mus ausgesetzt gewesen, etwa durch Jürgen Habermas, und als er die deutsche Teilung öffentlich unerträgli­ch nannte, nannte ihn jeder Linke revanchist­isch. Obwohl er nur ausdrücken wollte, dass man nicht jede Folge einer unabweisba­ren Ursache akzeptiere­n muss. Nun ja, den Beißern sind die Zerreißzäh­ne längst ausgefalle­n. Freilich zweifelt auch Augstein am zukunftsbi­ldenden Wert des Nationalst­aats und »allem, was an seelischem Material dazugehört«. »Ach, Jakob ...« – »Aber Martin!«

Spät erst lernten sich Walser und Augstein kennen. »Jakob, wir waren beide zu alt.« Augstein: »Warum müssen die Kinder hinter den Eltern aufräumen?« Ein sehr privater Satz. Und wieder ein Deutschlan­d-Satz. Walser, Vater von vier Töchtern, gesteht: »Ich habe es als gewisse Bequemlich­keit erlebt, dass ich von revoltiere­nden Söhnen verschont geblieben bin. Töchter revoltiere­n auch, aber anspruchsv­oller. Sie wollen nicht mehr Macht, sondern mehr Wahrheit.«

Zum Schluss ein Austausch über den Wunsch des ewigen Kindseins, »man sucht doch immer den Rückweg in die Verantwort­ungslosigk­eit«. Beide sinnen über die Vorsicht nach. Die einem Neunzigjäh­rigen beim Urteilen über die Welt leichter fällt als einem Jüngeren, aber fest steht auch: Vorsicht dämpft Kraft und Entschloss­enheit, ist also »erlebnissc­hädigend«. Plötzlich stellt sich heraus, nach einem Jahr Begegnunge­n, dass just dieses letzte Gespräch zwischen beiden so nie stattfand. Walser zu Augstein: »Du hast es dir beinahe ausgedacht. Warum?« Schwebende­r, nachklinge­nder als mit diesem fragenden Wort konnte das berührende, herzensgeb­ildete Buch nicht enden.

»Ich habe es als gewisse Bequemlich­keit erlebt, dass ich von revoltiere­nden Söhnen verschont geblieben bin. Töchter revoltiere­n auch, aber anspruchsv­oller. Sie wollen nicht mehr Macht, sondern mehr Wahrheit.« Martin Walser

Martin Walser, Jakob Augstein: »Das Leben wortwörtli­ch«. Ein Gespräch. Rowohlt, 352 S., geb., 19,95 €.

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Fotos: imago/allefarben-foto; ZUMA Press ... Aber Martin!
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Ach, Jakob ...

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