»Es gibt keine besseren Menschen«
Das Wort, das er sagt, heißt »Unglücksglück«. Glück nicht ohne Unglück. So, wie Heimat nicht ohne Verlust denkbar ist. Utopia nicht ohne Irrglaube. Liebe nicht ohne Schmerz. Schreiben und reden? Ja. Aber nicht immer das Bewusstsein anderer Leute kneten wollen. Schreiben, reden nur, »weil ich wissen will, ob ich allein bin mit dem, was ich denke und wie ich denke«. Martin Walser zieht Walter Benjamin heran: »Überzeugen ist unfruchtbar.«
Nie wollte Walser ein gesellschaftskritischer Schriftsteller sein. »Wenn ich einen Roman schreibe, denke ich doch nicht daran, ob ich jetzt ein Linker bin oder ein Halblinker.« Ein gesellschaftskritischer Vorsatz sei »uninteressant«. Sagt er zu Jakob Augstein. Daraufhin wirft der seinem Vater vor, er verhöhne Menschen, die Mühe hätten, Ungerechtigkeit zu ertragen. Walsers Antwort gleicht einem gottvoll provokanten Lächeln: »Ich verhöhne, wie du sagst, höchstens mich selbst. Und solche, die sind, wie ich war. Ich habe erlebt, auch an mir, wie der Linke sich für den besseren Menschen hält. Aber es gibt keine besseren Menschen.« Augstein: »Ich halte mich für links – aber nicht für den besseren Menschen.« – »Das glaube ich dir nicht«, sagt jetzt das gottvoll provokante Lächeln, »du sagst, dass du dich nicht für den besseren Menschen hältst, weil du nicht überführt werden willst.«
Das ist der berückende, perlende Grundton dieses intelligent fühlsamen Gedankenschachspiels: »Das Leben wortwörtlich«, ein Gespräch zwischen Martin Walser, dem Neunzigjährigen, und Jakob Augstein, dem Fünfzigjährigen. Vater und Sohn. Erst 2009 wurde die Gewissheit über ihre Blutsverwandtschaft öffentlich. Nun diese zwölf Kapitel Anfrage und Nachfrage; ein Vorfühlen und Nachfühlen und Mitfühlen. Und tuchfühlen: Wie fühlt sich das an – wir zwei?
Augstein fragt nach Erlösung, nach Reue, nach Altersgeilheit, nach Geld (»Geld ist das Gegenteil von Angst«, sagt Walser), nach deutscher Schuld – jener der Vorfahren und der eigenen (»Meine Mutter war keine Nationalsozialistin. Sie hatte eine Wirtschaft zu führen«). Eine Frage auch danach, wie sich sein Vater die Beerdigung vorstellt: »Morgens um fünf, in Wasserburg, außer Käthe und meinen Kindern keine Zeugen. Beerdigung einer Urne.«
»Ach, Jakob ...« oder »Aber Jakob ...«, sagt Walser mitunter zu Beginn seiner Antworten auf des Sohnes Fragen. Da geschieht Hierarchie: Wer so ansetzt, kommt von oben. Auch wenn Walser von oben antwortet, bleibt er doch sanft. Als sei das Oben nur Wolkenschwung und Sonnenlichtgestöber. Oder einfach nur Lebensklugheit. Der Vater zum Kinde, so ist das nun mal. Augstein – »Freitag«-Chefredakteur, »Spiegel«-Kolumnist, TV-Talker – kennt sich aus im Werk Walsers, er fragt überraschend, mit deutlicher Eigenkontur; das Freche aber verbunden mit feiner Sitte; die Angriffslust kenntlich bepelzt mit Respekt und Heiterkeit. Man darf das Stil nennen. Zuneigung.
Ob über Freundschaft, Liebe, Abhängigkeit, den Literaturbetrieb oder die Religion geredet wird – ablesbar ist immer das Grundmotiv des Schriftstellers: Kitt wegzusprengen. Zwischen dem, was einer anderen Leuten sagen will, und dem, was er von sich selber verschweigt. Ehrlich ist nur jene Überzeugung, die immer auch um ihr Ungenügen weiß – solch Wissen sorgt in den Brusttönen für Einschübe des Leisen. Heilsam. Denn die Hauptkrankheit in den Sprachund Sprechgewerben sieht Walser im dauernden »Rechthabenmüssen«.
Schreiben ist dem Autor das, was einem seiner Bücher den Titel gab: »Die Verwaltung des Nichts«. Nichts – das ist purer Hölderlin. Ist das Ehrlichste, was der Mensch über seine Bestimmung sagen kann. Ankerwürfe in dünnste Luft hinein. Walser sagt: »Ich habe die Angst meiner Mutter geerbt. Sie hatte immer Angst – ich hatte immer Angst. Angst vor der Wirklichkeit.« Schreiben als Glück, solche Leerstellen des Lebens zu füllen – aber nicht dadurch, dass man etwas besser weiß. Sondern? »Man kann die Fülle so feiern, dass man ihr den Mangel, aus dem sie stammt, nicht ansieht.« Auch Augstein öffnet sich – indem er seinen Vater zitiert: »Andauernd bemerken wir, wozu wir imstande sind, und erschrecken viel zu wenig.«
Einmal sagt der Sohn: »Immer steht Auschwitz im Raum.« Sofort kommt das Gespräch auf die Vokabel »Instrumentalisierung«. Und auf die Paulskirchenrede von 1998. Natürlich steht Walser zu seiner Rede. »Aber ich weiß inzwischen, dass ich einen Fehler gemacht habe: Ich wollte über das Gewissen reden und darüber, dass es nicht delegierbar sei. Aber verglichen mit dem Tatbestand Auschwitz ist das alles Quatsch, Quatsch, Quatsch.« Augstein schüttelt den Kopf, wenn ihm der Vater allzu naiv vorkommt, er kennt doch dessen Lust am Reizwort, und also glaubt er ihm nicht jede Verwunderung darüber, dass es Fettnäpfe in der Welt gibt. Aber: Er sieht in jenem öffentlichen Selbst-Gespräch des Vaters in der Paulskirche nach wie vor auch »das ultimative Experiment auf der Suche nach der freien Rede«.
Deutsche Geschichte. Sie wurde Walser zum Roman: »Ein springender Brunnen«, das Buch über die Bodensee-Kindheit. Da war Reich-Ranickis Vorwurf, der peinigen sollte, wehtun wollte: Im Buch käme Auschwitz nicht vor. Aber im Buch kommt ein wunderbarer Satz vor, den Augstein zitiert: »Jetzt sagen wir, dass es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen.« Einer dieser charakteristischen Walser-Hin-und-Herwendungen, die auch in diesem Zwiegespräch hörbar werden. Im Roman hatte sich Walser lediglich geweigert, die Perspektive seiner Kindergestalten zu verlassen. Im Sinne von Thomas Mann, der darauf bestand, »dass ein Erzählen ohne Vor- und Nachwissen, ohne eingeschaltete und steuernde Moral möglich, erlaubt, ja notwendig bleiben muss.«
Walser hat gegen den Vietnamkrieg protestiert, erregt vom Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main berichtet. Bei einer Ausstellung mit Zeichnungen von KZ-Häftlingen betonte er: »Ein einziges Bild aus einem KZ, und wir haben nichts zu sagen.« Ein Sympathisant der DKP, ohne je Parteimitglied zu sein. Das Gefühl, links zu stehen? »Die Linken haben es mir kaputtgemacht.« Er erinnert sich an ein Fußballspiel. »München gegen Moskau. Und plötzlich merke ich, die sind dafür, dass Moskau gewinnt.« Da war ihm klar: Wer so denkt, kommt politisch »nie auf einen grünen Zweig«.
Walser ist einer, der lieber vertrauen möchte, als immer nur misstrauen zu sollen. So vehement wie schlüssig verteidigt er sein »Ge- schichtsgefühl«. Und sein »Deutschlandgefühl«. Er bleibt dabei, dass Auschwitz »nur möglich war unter den Bedingungen dieses Zweiten Weltkrieges«, aber dessen »Anzettelung hat eben nicht im Januar 1933 begonnen, sondern viel früher« – auch Versailles sei »eine der Bedingungen des Hitler-Erfolges« gewesen. Eine! Auch! Zwei wichtige Wörter. Aber wer liest schon so genau. Gesinnungsignoranz gegen sorgfältige Lektüre – Walser kennt das Gefühl, zusammengestaucht zu werden.
Oft ist er radikal selbstbekennerisch gewesen, hat sich freiwillig wehrlos in Widersprüchen bewegt, so dass Angreifbarkeit sein Metier wurde. Er ist dem Vorwurf des Nationalismus ausgesetzt gewesen, etwa durch Jürgen Habermas, und als er die deutsche Teilung öffentlich unerträglich nannte, nannte ihn jeder Linke revanchistisch. Obwohl er nur ausdrücken wollte, dass man nicht jede Folge einer unabweisbaren Ursache akzeptieren muss. Nun ja, den Beißern sind die Zerreißzähne längst ausgefallen. Freilich zweifelt auch Augstein am zukunftsbildenden Wert des Nationalstaats und »allem, was an seelischem Material dazugehört«. »Ach, Jakob ...« – »Aber Martin!«
Spät erst lernten sich Walser und Augstein kennen. »Jakob, wir waren beide zu alt.« Augstein: »Warum müssen die Kinder hinter den Eltern aufräumen?« Ein sehr privater Satz. Und wieder ein Deutschland-Satz. Walser, Vater von vier Töchtern, gesteht: »Ich habe es als gewisse Bequemlichkeit erlebt, dass ich von revoltierenden Söhnen verschont geblieben bin. Töchter revoltieren auch, aber anspruchsvoller. Sie wollen nicht mehr Macht, sondern mehr Wahrheit.«
Zum Schluss ein Austausch über den Wunsch des ewigen Kindseins, »man sucht doch immer den Rückweg in die Verantwortungslosigkeit«. Beide sinnen über die Vorsicht nach. Die einem Neunzigjährigen beim Urteilen über die Welt leichter fällt als einem Jüngeren, aber fest steht auch: Vorsicht dämpft Kraft und Entschlossenheit, ist also »erlebnisschädigend«. Plötzlich stellt sich heraus, nach einem Jahr Begegnungen, dass just dieses letzte Gespräch zwischen beiden so nie stattfand. Walser zu Augstein: »Du hast es dir beinahe ausgedacht. Warum?« Schwebender, nachklingender als mit diesem fragenden Wort konnte das berührende, herzensgebildete Buch nicht enden.
»Ich habe es als gewisse Bequemlichkeit erlebt, dass ich von revoltierenden Söhnen verschont geblieben bin. Töchter revoltieren auch, aber anspruchsvoller. Sie wollen nicht mehr Macht, sondern mehr Wahrheit.« Martin Walser
Martin Walser, Jakob Augstein: »Das Leben wortwörtlich«. Ein Gespräch. Rowohlt, 352 S., geb., 19,95 €.