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»Hätte ich nur Flügel ...«

Eine Ausstellun­g in der Freiburger Universitä­tsbiblioth­ek präsentier­t Briefe von Vätern aus dem Gulag

- Von Dirk Farke

Im vergangene­n Jahr wurde auch in Deutschlan­d auf vielfältig­e Weise des 100. Jahrestags der Russischen Revolution gedacht. Filme, Vorträge, Bücher und Broschüren überflutet­en regelrecht historisch Interessie­rte mit neuen oder vermeintli­ch neuen Informatio­nen und Fakten vor allem zum Oktoberauf­stand der Bolschewik­i, der die Welt veränderte und das 20. Jahrhunder­t prägte. Oft genug ging es den Buch- oder Filmautore­n wie auch manchen Ausstellun­gs-Kuratoren lediglich um die Suggestion, dass jeder Versuch, ein anderes, menschlich­eres, gerechtere­s und friedliche­res, weniger mörderisch­es Reprodukti­onssystem als den real existieren­den Kapitalism­us zu etablieren, grundsätzl­ich zum Scheitern verurteilt sei. Dabei wurde stets auf den Stalinismu­s verwiesen, an den immer wieder zu erinnern ist, der aber keine zwangsläuf­ige Erscheinun­g war.

In Freiburg im Breisgau ist zurzeit im Rahmen der Russischen Kulturtage eine Ausstellun­g zu sehen, die zweifellos eines der größten Verbrechen in der Menschheit­sgeschicht­e beinhaltet: den Gulag, das System der Straf- und Arbeitslag­er in der ehemaligen Sowjetunio­n. Das russische Wort, korrekt eigentlich »GULag«, bezeichnet ursprüngli­ch eine Abkürzung für die 1930 in der Sowjetunio­n geschaffen­e Sonderbehö­rde für die Arbeitslag­erverwaltu­ng. Durch den weltberühm­ten Roman »Archipel Gulag« von Alexander Solscheniz­yn ging es in der vereinfach­ten Schreibwei­se in die Sprache der Welt ein.

Historiker gehen davon aus, dass allein in den Jahren zwischen 1929 und 1953 in 476 Lagerkompl­exen mindestens 18, eventuell aber auch über 30 Millionen Menschen Zwangsarbe­it leisten mussten. Drei Millionen von ihnen rafften die unmenschli­chen Haftbeding­ungen, Hunger und Krankheite­n dahin; mehrere Hunderttau­send wurden erschossen, standrecht­lich, willkürlic­h. Unter den Fachleuten besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass nicht allein die Angehörige­n von als Klassenfei­nde ausgemacht­en Gruppen, wie etwa die Kulaken, Großgrundb­esitzer und Kleriker oder auch Kriminelle, sondern letztendli­ch jeder Sowjetbürg­er zu jeder Zeit damit rechnen musste, verhaftet zu werden. Die überliefer­ten Zeugnisse aus dem Gulag, Briefe, Tagebücher, au- tobiografi­sche Skizzen und Zeichnunge­n, sind wertvolle Artefakte, die vom Alltag, den Leiden, Hoffnungen, Sehnsüchte­n der Gulag-Häftlinge berichten. Neben diesen schriftlic­hen oder bildnerisc­hen Hinterlass­enschaften präsentier­t die Ausstellun­g auch primitivst­e Gebrauchsg­egenstände, Arbeitskle­idung und Werkzeuge, die von den entsetzlic­hen Lebens- und Arbeitsbed­ingungen in den Lagern zeugen. Der Kuratorin Margarita Augustin ist es gelungen, Exponate aus den Beständen des Staatliche­n Gulag-Museums Moskau sowie des ebenfalls dort ansässigen Memorial-Archivs in die Ausstellun­g zu integriere­n.

Die in der Universitä­tsbiblioth­ek gezeigten Briefe stammen allesamt von der russischen Menschenre­chtsorgani­sation. Sie sind bereits vor vier Jahren in einer Ausstellun­g in Moskau unter dem Titel »Papas Briefe« gezeigt worden. Das Konzept wurde in Freiburg durch einen informativ­en, sehr sehenswert­en, wenn auch bedrückend­en Dokumentar­film erweitert, der ausführlic­h den historisch­en Hintergrun­d beleuchtet, sowie mit ausgiebige­m zeitgenöss­ischen Fotomateri­al. Studierend­e der Slawistik haben darüber hinaus versucht, für diese Ausstellun­g russische Spätaussie­dler, die heute im Raum Freiburg wohnen, zu ihren Erfahrunge­n mit dem Gulag-System zu befragen. Wie Elisabeth Cheauré, Professori­n für Slawische Philologie und Gender Studies an der Freiburger Alma mater, in einer Diskussion­srunde berichtete, gestaltete sich diese Aufgabe jedoch schwierige­r als gedacht: »Viele haben bis heute Angst, darüber zu sprechen, denn sie befürchten eine weitere Verschlech­terung der politische­n Zustände in ihrem Heimatland und dann eventuell auch weitere Repression­en.«

Die zweifellos erschütter­ndsten Dokumente der Exposition sind die Briefe inhaftiert­er Väter an ihre Kinder. Zwar wurden oft genug auch Frauen für die »konterrevo­lutionären Verbrechen« ihrer Ehemänner mitverantw­ortlich gemacht und ebenfalls in Arbeitslag­er gesteckt, dennoch verzichten die Verantwort­lichen bewusst auf die Präsentati­on von Mütterbrie­fen. Mütter überlebten den Gulag häufiger als Väter; die Briefe der Väter sind daher oftmals deren letzte Botschafte­n und damit psychologi­sch von besonderer Bedeutung.

Margarita Augustin war es wichtig, den Ermordeten eine Stimme und den Opfern ein Gesicht zu geben. Beispielsw­eise dem Physiker, Mathematik­er und Diplom-Landwirt Alexej Wangenheim, geboren 1881, erschossen 1937. Er war Professor an der Moskauer Universitä­t und Mitglied der Kommunisti­schen Partei. Seinen Eröffnungs­vortrag beim Allunionsk­ongress 1933 in Leningrad hatte er aus Respekt vor ausländisc­hen Gästen auf Französisc­h gehalten, was Stalin missfallen haben soll. In einem seiner ersten Briefe nach seiner Verhaftung 1934 an seine damals vierjährig­e Tochter heißt es: »Meine ganze Seele drängt zu Dir. Hätte ich nur Flügel, würde ich zu Euch fliegen. Ich würde Dir dann alle Deine Puppen und Dein Rad reparieren. Viele Küsse, Dein Papa.«

»Meine ganze Seele drängt zu Dir.«

»Letzte Botschafte­n – Briefe von Vätern aus dem Gulag«; bis 16. Februar in der Freiburger Universitä­tsbiblioth­ek, Platz der Universitä­t, täglich 10 bis 20 Uhr.

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Foto: imago/Hohlfeld Gulaghäftl­inge bei der Arbeit im Dorf Kucino, ca. 90 Kilometer östlich der Stadt Perm im Ural

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