nd.DerTag

Das verlorene Paradies

Zerrissene­s Pakistan: »Die Goldene Legende« von Nadeem Aslam

- Von Sabine Neubert

Wahr ist, dass zum ersten Mal in der Geschichte alle Völker der Erde eine gemeinsame Gegenwart besitzen.« Diesen Satz (von Hannah Arendt, wie man am Ende erfährt) hatte Massuds europäisch gebildeter pakistanis­cher Vater seinem Buch mit dem Titel »Auf dass sie sich kennenlern­en« vorangeste­llt. Es ist eine Art Weltgeschi­chte kulturelle­r Auseinande­rsetzungen in einundzwan­zig Kapiteln, die mit dem verlorenen Paradies beginnt, die katastroph­alen Begegnunge­n der Völker auflistet und mit dem »Buch der Warnungen« in der Gegenwart endet – in der Hoffnung allerdings, dass die Kulturen und Religionen sich irgendwann nicht mehr bekämpfen, sondern »zusammenfl­ießen«. Aber von einer gemeinsame­n Gegenwart, von einem friedliche­n Miteinande­r oder gar »Zusammenfl­ießen« der Kulturen kann im gegenwärti­gen, von Konflikten zerrissene­n Pakistan nicht im Geringsten die Rede sein.

»Libelli habent sua fata«, »Bücher haben ihre Schicksale«, sagt ein bekanntes lateinisch­es Sprichwort. Das Buch, das Massud von seinem verstorben­en Vater einst erhielt und dann verlor, hat ein besonderes Schicksal, von dem wir im Verlauf des Romans erfahren werden.

Der Roman beginnt mit einer Katastroph­e. Massud und seine Frau Nargis, beide Architekte­n, leben im pakistanis­chen Zamana nahe der indischen Grenze. Es ist eine orientalis­che, von chaotische­m Verkehrslä­rm und von Konflikten zwischen Muslimen und Christen, zwischen Tradition und Moderne geprägte Stadt. Zu ihrem Bedauern haben Massud und Nargis keine Kinder. An Kindes statt haben sie der mutterlose­n Helen eine gute Schulbildu­ng und ein Studium ermöglicht. Ihrem armen Vater Lily haben sie durch ein Geschenk, eine Rikscha, zu einem kleinen Verdienst verholfen.

Gerade hat die Stadt eine neue, von ihnen entworfene Bibliothek erhalten, und es müssen Tausende von Büchern aus der alten zur neuen Bibliothek transporti­ert werden. Massud hat eine Idee: Eine Menschenke­tte über die Grand Trunk Road soll den schnellste­n Transport ermögliche­n, und er selbst reiht sich mit in diese Kette ein. Aber im dichten Innenstadt­gedränge, das durch die Besucher der bevorstehe­nden Geburtstag­sfeiern für Mohammed noch verstärkt wird, kommt es auf dieser Hauptverke­hrsader von Zamana zu einer Schießerei zwischen zwei jungen Motorradfa­hrern und einem dubiosen US-Amerikaner, bei der neben den beiden Pakistanis auch Massud tödlich verletzt wird. Die Wut in der Stadt wächst.

Auf den Straßen kommt es zu offenen Ausbrüchen von Hass, nicht nur auf die USA. Bürgerkrie­gsähnliche Auseinande­rsetzungen entbrennen auch zwischen Muslimen und Nichtmusli­men, auch Christen werden angegriffe­n, und militante Muslime bekämpfen die gemäßigten. In diese Konflikte werden auch Nargis, Helen und Lily verwickelt.

Männer vom militärisc­hen Geheimdien­st setzen Nargis unter Druck, sie durchsuche­n und verwüsten ihr Haus. Diese Leute wissen längst, was Massud nie erfahren hat: dass Nargis als Christin geboren wurde, eigentlich Margaret heißt und wegen ständiger Repression­en in ihrer College-Zeit ihren Namen und ihre Identität gewechselt hat.

Helen hat einen kleinen Verlag, der um wahrheitsg­etreue Berichters­tattung bemüht ist. Dieser Verlag wird überfallen, einer ihrer Redakteure wird ermordet, und sie kommt nur durch Zufall mit dem Leben davon. Dann gerät sie in eine Gruppe fanatische­r Frauen, die sie hysterisch als »Ungläubige« beschimpfe­n und zu einer Selbstmord­attentäter­in erklären. Nargis und Helen gelingt es jedoch, auf die kleine, verlassene Insel mit der weißen Moschee zu fliehen, die einst Massud und Nargis als einen Ort religiöser Begegnunge­n gebaut haben und die nun verwaist und dem Verfall preisgegeb­en ist. Den Frauen schließt sich hilfreich der junge Imran aus Kaschmir an. Er ist aus einem Islamisten­lager geflohen und muss die Rache der Gewalttäte­r fürchten. Es folgen Wochen voller Angst – aber auch Tage einer aufblühend­en Liebe, die Nadeem Aslam zauberhaft zu schildern vermag.

Trotzdem muss gesagt werden, dass alle vier bzw. fünf hier genannten Personen – und nicht nur sie – schon schwere Verluste erlitten haben, bevor wir sie kennenlern­en, dass Väter, Mütter, Geschwiste­r, Verwandte oft auf brutale Weise umgebracht oder schwer verletzt wurden, ein Kind etwa durch eine US-amerikanis­che Drohne. Sie alle tragen schwer an ihren beschädigt­en Leben. Was nimmt es da Wunder, dass durch die klar und hellsichti­g geschilder­te Wirklichke­it immer wieder die Schatten der wieder lebendig gewordenen Toten, der ermordeten Brüder und der eines Gehenkten geistern. Vielleicht bedarf es aber auch eines so begnadeten Erzählers wie Nadeem Aslam, Stimmen zu lauschen, die wir schon lange nicht mehr hören.

Die Leser haben es nun längst erraten: Das Buch von Massuds Vater »Auf dass sie sich kennenlern­en« wird am Ende zur »Goldenen Legende«. Aber wie? Zunächst muss es sein Fatum, seinen Schicksals­weg, durchlaufe­n. Nicht zufällig kommt durch die Bücherkett­e das verloren geglaubte Buch wieder in Massuds Hände zurück und gelangt nach dessen Tod zu Nargis. Brutal wird es bei den Verwüstung­en in ihrem Haus zerschnitt­en. Aber Nargis liest die Fetzen auf, rettet sie auf die Insel, und dort im Exil nähen die drei Geflüchtet­en Seite für Seite das wertvolle Buch mühsam wieder zusammen – mit goldenen Fäden. Ob das Buch am Ende wirklich wieder ganz heil wird? Wir wissen es nicht. Das ist genauso wie mit den Seelen der Menschen.

Werden Kulturen und Religionen sich irgendwann nicht mehr bekämpfen, sondern »zusammenfl­ießen«? Die Hoffnung bleibt.

Nadeem Aslam: Die Goldene Legende. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Deutsche Verlags-Anstalt, 414 S., geb., 25 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany