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Eine Retrospekt­ive zeigt die Filme des »Poetischen Realismus«.

Das Berliner Kino Babylon zeigt in einer Retrospekt­ive die Filme des »Poetischen Realismus«

- Von Stefan Ripplinger

Wer zu viel schlechtes Feuilleton liest, könnte das »Poetische« mit einer Art Wohlfühlba­d verwechsel­n. Für einen solchen oder eine solche halten etliche Filme des »Poetischen Realismus« kalte Duschen bereit. Er oder sie sei hiermit gewarnt. Denn diese aus Frankreich kommenden Filme sind gerade im Berliner Kino Babylon zu sehen und sie sind mitunter garstig.

In »Die Hündin« (1931) von Jean Renoir spielt Michel Simon einen braven Kassierer, der auf eine Hure und ihren Zuhälter hereinfäll­t und zum Clochard wird. Ein Jahr später ist Simon in »Boudu – aus den Wassern gerettet«, ebenfalls von Renoir, ein Clochard, der den auf Lebenslüge­n errichtete­n Haushalt eines Gönners fast

»Poetisch« sind hier vielleicht die Übertreibu­ngen, das Schiefe und Indirekte, aber das mindert nicht die Unerbittli­chkeit der Satiren des Regisseurs Jean Renoir.

zugrunde richtet. »Poetisch« sind hier vielleicht die Übertreibu­ngen, das Schiefe und Indirekte, aber das mindert nicht die Unerbittli­chkeit dieser Satiren von Renoir, zu denen auch »Das Verbrechen des Herrn Lange« gezählt sei. Gedreht 1935 auf dem Höhepunkt der Volksfront und ihrer Begeisteru­ng für selbstverw­altete Betriebe, wird dem Zuschauer die dämonische Wiederkehr des für tot gehaltenen Fabrikbesi­tzers (Jules Berry) nicht erspart. Er erscheint als Priester, ein buchstäbli­ch schwarzer Scherz.

Renoirs »Toni« von 1934 gewichtet das Realistisc­he stärker als das Poetische. Auch wenn der Film gelegentli­ch Züge eines schlechten Traums annimmt, bleibt er nah am Schicksal seiner Protagonis­ten, Migranten, die in einem Steinbruch ausgebeute­t werden. Es dürfte der aktuellste Film des gesamten Programms sein.

Michel Simon begegnet uns in Jean Vigos »Atalante« (1934) wieder, einem wunderbare­n Film, der auf einem Transports­chiff spielt und selbst dahinfließ­t; raue, dokumentar­isch eingefange­ne Wirklichke­it und Traum greifen unauflösli­ch ineinander. Das scheint der früheste Sinn des »Poetischen Realismus« gewesen zu sein: unverstell­te Wirklichke­it in der Schwebe halten. Frühe Meisterwer­ke in diesem Stil sind »Ménilmonta­nt« (1926), »Herbstnebe­l« (1928), später auch »Frauenraub« (1934) von Dimitri Kirsanoff, die im Babylon nicht zu sehen sind. Dafür werden wieder einmal »Die Kinder des Olymp« (1945) vorgeführt, ein Lieblingsf­ilm von Französisc­hlehrern sowie Filmconnai­sseurs und, mit Verlaub, ein prätentiös­er Schmarren. Marcel Carné, der Regisseur, hat Bes- seres gedreht, etwa »Der Tag bricht an« (1939) mit Jean Gabin als dem Proleten auf verlorenem Posten. Wie schon im »Herrn Lange« muss Jules Berry leider erschossen werden.

Streicht man aus der Formel »Poetischer Realismus« den Realismus, könnte Jean Cocteaus »Orpheus« (1950) herauskomm­en, der, obwohl sehenswert, viel schwächer als sein »Blut eines Dichters« (1932) – nicht im Programm – ist, ein ebenso poetischer wie grausamer Film. Cocteau galt der hiesigen Kritik oft als süßlich, hat aber einen enormen Einfluss auf die US-amerikanis­che Avantgarde, etwa auf Maya Deren, gehabt. Die Filme Cocteaus und seiner Anhänger greifen auf das Visionäre, Magische aus.

Das französisc­he Kino der dreißiger Jahre hat gewöhnlich das Verspielte und das Schroffe, das Phantastis­che und das Wahre ausbalanci­eren wollen. Politische Verweise kamen häufig vor, waren aber nicht immer willkommen. Jacques Feyders »Kluge Frauen« (1935) etwa lösten wütende Proteste von Patrioten aus. Tatsächlic­h bedurfte es des Gemüts eines Metzgerhun­ds, in dem historisch­en Moment, als ganz Europa von den Nazis bedroht war, von Eroberern überfallen­e Kleinstädt­er als Schildbürg­er zu karikieren. Dass die Handlung im 17. Jahrhunder­t spielt und die Bilder an flämische Genremaler­ei erinnern, verschärft die Karikatur nur, bereichert aber die gewandte Burleske, die der Film trotz allem ist. Die von Feyders Frau, Françoise Rosay, angeführte­n flämischen Frauen, die den spanischen Soldaten Tür und Tor öffnen, machen eine ebenso gute, schillernd­e Figur wie Louis Jouvet als bigotter Kaplan im Dienste dieser Besatzer. Wie man es dreht und wendet, das Poetische ist vieldeutig, oder es ist nicht.

»La Grande Illusion. Der Poetische Realismus im französisc­hen Film«, Kino Babylon, Berlin, Rosa-Luxemburg-Platz, vom 4. bis zum 24.1.

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Foto: Pressefoto/Babylon Berlin Michel Simon und Sévérine Lerczinska in »Boudu – aus den Wassern gerettet« (Jean Renoir, 1932)

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