Das Gesundheitswesen kränkelt
Großbritannien: Ärzte und Pfleger sprechen von der größten Krise des NHS seit Jahrzehnten
In Großbritannien werden Operationen aufgeschoben, Notfallpatienten erst nach stundenlangem Warten behandelt, ein Krankenhauschef trat aus Protest zurück. Doch Theresa May sieht Fortschritte. Die Winterkrise im britischen Gesundheitsdienst ist in diesem Jahr besonders akut. Der National Health Service (NHS) stößt in den kalten Monaten regelmäßig an die Grenzen seiner Kapazität. Aber laut Ärzten und Krankenhausangestellten ist der Druck auf den Notaufnahmen derzeit größer als seit Jahrzehnten. Ein Arzt in der nördlichen Stadt Stoke sprach gar von »Zuständen wie in der Dritten Welt.«
Kaltes Wetter über die Feiertage sowie ungewöhnlich viele Grippefälle haben dazu geführt, dass die Notaufnahmen überlastet sind und Kliniken mit einem Mangel an Betten zu kämpfen haben. In manchen Häusern warten Notfallpatienten bis zu zwölf Stunden, um behandelt zu werden, und Angestellte klagen über riesige Schlangen in den Korridoren. Der NHS England sah sich zu dem ungewöhnlichen Schritt gezwungen, eine Weisung herauszugeben, dass alle nicht akuten Operationen bis Ende dieses Monats aufgeschoben werden sollen – davon werden schätzungsweise über 50 000 Patienten betroffen sein.
Ob diese Maßnahme reichen wird, um die Krise zu entschärfen, ist jedoch fraglich. Mehrere Krankenhäuser haben einen sogenannten schwarzen Alarm herausgegeben – eine Warnung, dass sie den Ansturm an Patienten nicht bewältigen können. Das Krankenhaus von Southend in Essex beispielsweise behandelte am Montag weniger als zwei Drittel der Notfallpatienten innerhalb von vier Stunden, obwohl es laut Vorschriften 95 Prozent sein sollen. Nick Scriven, der Präsident der Gesellschaft für Akutmedizin, sagte, dass die Situation im NHS noch nie so schlimm war wie dieses Jahr; überall fehle es an Krankenschwestern, Betten und Therapeuten.
Die Engpässe kommen kaum überraschend. Bereits im August warnte der Vorsitzende des Ärzteverbands BMA, Chaand Nagpaul, dass die Regierung die Mängel bei der Finanzierung und der Kapazität des NHS dringend angehen müsse, um eine Wiederholung der Probleme vom vergangenen Winter zu vermeiden. Im Kern geht es um eine Finanzierungslücke: Zwar ist das Budget des NHS seit 2010 Jahr für Jahr um knapp ein Prozent erhöht worden, aber das reicht nicht, um mit der steigenden Nachfrage Schritt zu halten. Der Vorsitzende des NHS, Simon Stevens, forderte im Herbst eine Finanzspritze von vier Milliarden Pfund für das kommende Jahr. Finanzminister Philip Hammond stellte jedoch im November weniger als die Hälfte davon bereit, nämlich 1,6 Milliarden Pfund.
Der Vorsitzende des King’s College Hospital in London, Bob Kerslake, legte sein Amt im Dezember nieder, um gegen die Knausrigkeit der Regierung zu protestieren. Wie viele andere Spitäler habe King’s College ver- sucht, mit dem Druck steigender Nachfrage und Kosten für Medikamente fertigzuwerden, aber ohne das nötige Geld sei dies nicht möglich, schrieb Kerslake. »Letzten Endes bin ich zum Schluss gekommen, dass sich die Regierung und die Regulierungsbehörde den riesigen Herausforde- rungen, vor denen der NHS steht, schlichtweg nicht stellen wollen.«
Regierungschefin Theresa May versuchte am Mittwoch, ihr Krisenmanagement zu verteidigen: Der NHS sei diesen Winter dank des zusätzlichen Geldes besser vorbereitet als zuvor, sagte die Premierministerin. Aber auch in konservativen Kreisen wächst jedoch die Kritik: Die Abgeordnete Sarah Wollaston, die im Parlament den Gesundheitsausschuss leitet, forderte die Regierung auf, das Problem der Finanzklemme endlich in den Griff zu bekommen.