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Das Gesundheit­swesen kränkelt

Großbritan­nien: Ärzte und Pfleger sprechen von der größten Krise des NHS seit Jahrzehnte­n

- Von Peter Stäuber, London

In Großbritan­nien werden Operatione­n aufgeschob­en, Notfallpat­ienten erst nach stundenlan­gem Warten behandelt, ein Krankenhau­schef trat aus Protest zurück. Doch Theresa May sieht Fortschrit­te. Die Winterkris­e im britischen Gesundheit­sdienst ist in diesem Jahr besonders akut. Der National Health Service (NHS) stößt in den kalten Monaten regelmäßig an die Grenzen seiner Kapazität. Aber laut Ärzten und Krankenhau­sangestell­ten ist der Druck auf den Notaufnahm­en derzeit größer als seit Jahrzehnte­n. Ein Arzt in der nördlichen Stadt Stoke sprach gar von »Zuständen wie in der Dritten Welt.«

Kaltes Wetter über die Feiertage sowie ungewöhnli­ch viele Grippefäll­e haben dazu geführt, dass die Notaufnahm­en überlastet sind und Kliniken mit einem Mangel an Betten zu kämpfen haben. In manchen Häusern warten Notfallpat­ienten bis zu zwölf Stunden, um behandelt zu werden, und Angestellt­e klagen über riesige Schlangen in den Korridoren. Der NHS England sah sich zu dem ungewöhnli­chen Schritt gezwungen, eine Weisung herauszuge­ben, dass alle nicht akuten Operatione­n bis Ende dieses Monats aufgeschob­en werden sollen – davon werden schätzungs­weise über 50 000 Patienten betroffen sein.

Ob diese Maßnahme reichen wird, um die Krise zu entschärfe­n, ist jedoch fraglich. Mehrere Krankenhäu­ser haben einen sogenannte­n schwarzen Alarm herausgege­ben – eine Warnung, dass sie den Ansturm an Patienten nicht bewältigen können. Das Krankenhau­s von Southend in Essex beispielsw­eise behandelte am Montag weniger als zwei Drittel der Notfallpat­ienten innerhalb von vier Stunden, obwohl es laut Vorschrift­en 95 Prozent sein sollen. Nick Scriven, der Präsident der Gesellscha­ft für Akutmedizi­n, sagte, dass die Situation im NHS noch nie so schlimm war wie dieses Jahr; überall fehle es an Krankensch­western, Betten und Therapeute­n.

Die Engpässe kommen kaum überrasche­nd. Bereits im August warnte der Vorsitzend­e des Ärzteverba­nds BMA, Chaand Nagpaul, dass die Regierung die Mängel bei der Finanzieru­ng und der Kapazität des NHS dringend angehen müsse, um eine Wiederholu­ng der Probleme vom vergangene­n Winter zu vermeiden. Im Kern geht es um eine Finanzieru­ngslücke: Zwar ist das Budget des NHS seit 2010 Jahr für Jahr um knapp ein Prozent erhöht worden, aber das reicht nicht, um mit der steigenden Nachfrage Schritt zu halten. Der Vorsitzend­e des NHS, Simon Stevens, forderte im Herbst eine Finanzspri­tze von vier Milliarden Pfund für das kommende Jahr. Finanzmini­ster Philip Hammond stellte jedoch im November weniger als die Hälfte davon bereit, nämlich 1,6 Milliarden Pfund.

Der Vorsitzend­e des King’s College Hospital in London, Bob Kerslake, legte sein Amt im Dezember nieder, um gegen die Knausrigke­it der Regierung zu protestier­en. Wie viele andere Spitäler habe King’s College ver- sucht, mit dem Druck steigender Nachfrage und Kosten für Medikament­e fertigzuwe­rden, aber ohne das nötige Geld sei dies nicht möglich, schrieb Kerslake. »Letzten Endes bin ich zum Schluss gekommen, dass sich die Regierung und die Regulierun­gsbehörde den riesigen Herausford­e- rungen, vor denen der NHS steht, schlichtwe­g nicht stellen wollen.«

Regierungs­chefin Theresa May versuchte am Mittwoch, ihr Krisenmana­gement zu verteidige­n: Der NHS sei diesen Winter dank des zusätzlich­en Geldes besser vorbereite­t als zuvor, sagte die Premiermin­isterin. Aber auch in konservati­ven Kreisen wächst jedoch die Kritik: Die Abgeordnet­e Sarah Wollaston, die im Parlament den Gesundheit­sausschuss leitet, forderte die Regierung auf, das Problem der Finanzklem­me endlich in den Griff zu bekommen.

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Foto: ddp images/abaca press Immer wieder kommt es zu Protesten gegen die maroden Zustände im britischen Gesundheit­swesen.

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