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Gegen die Mauern des Kapitalism­us

In Mexiko halten Zapatisten zweiten kritischen Wissenscha­ftskongres­s ab und gedenken des Aufstandes von 1994

- Von Luz Kerkeling, San Cristóbal Alle Beiträge auf Spanisch: radiozapat­ista.org

Die Zapatisten in Mexiko schauen zurück und nach vorn. Der Aufstand von 1994 bleibt unvergesse­n, der kritische Wissenscha­ftskongres­s ist vorbei und ein globales Frauentref­fen im März steht bevor. In einem Tross von Kleingrupp­en erreichen wir morgens die autonome »Universitä­t der Erde« am Rande der zweitgrößt­en Stadt des südmexikan­ischen Bundesstaa­tes Chiapas. Wie immer geht es gelassen und sehr gut organisier­t zu, wenn die Zapatistis­che Armee zur nationalen Befreiung (EZLN) zu einem Treffen aufruft.

Wir besuchen den zweiten kritischen Wissenscha­ftskongres­s »ConCiencia­s« (etwa: Wissenscha­ften mit Bewusstsei­n) mit dem Thema »Die Wissenscha­ften gegen die Mauer«; gemeint sind die vielfältig­en ausbeutend­en und ausschließ­enden Mechanisme­n des kapitalist­ischen Systems. 51 Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler aus Deutschlan­d, Frankreich, Kanada, Mexiko, Österreich, Uruguay und den USA beschäftig­en sich an vier Tagen kapitalism­us- und patriarcha­tskritisch mit naturwisse­nschaftlic­hen Diszipline­n wie Agrarökolo­gie, Astrophysi­k, Astronomie, Biologie, Kosmologie, Ökologie, Bodenkunde, Physik, Genetik, Geophysik, Mathematik, Medizin, Mikrobiolo­gie, Neurowisse­nschaften, Optik und weiteren Fachbereic­hen.

Passend zum jüngst deutlich verschärft­en Sicherheit­sgesetz, das den Militärs einen Freibrief für den Einsatz im Inneren wie in einer Diktatur gibt, beschreibt die Chemie-Ingenieuri­n Fabiola Méndez äußerst faktenreic­h die exponentie­ll zunehmende Zusammenar­beit von Wissenscha­ften unterschie­dlichster Fachbereic­he und Militärs und kommt zu dem Schluss: »Die kapitalist­ische Hydra bereitet sich auf ihre Verteidigu­ng vor. Dagegen müssen wir solidarisc­he Wissenscha­ften setzen.« Viele Beiträge fordern mehr Kollektivi­tät in der Wissenscha­ft, klare Linien gegen das herrschend­e System, mehr Ethik, mehr Interdiszi­plinarität, den Bruch mit dem akademisch­en Elfenbeint­urm und konkrete Schritte, wie die Gründung antikapita­listischer Institute, um dies voranzubri­ngen.

Neben den 100 zapatistis­chen Frauen und 100 Männern, die als De- legierte aus ihren Gemeinden teilnehmen und die neuen Informatio­nen später vor Ort weitergebe­n sollen, nehmen knapp 900 Zuhörerinn­en und Zuhörer aus unterschie­dlichen Ländern teil.

Arturo, Lehrer aus Argentinie­n, hält das Treffen für wichtig: »Ich war schon beim ersten ConCiencia­s und einigen Vortragend­en ist es tatsächlic­h gelungen, die Fragen der zapatistis­chen Delegierte­n vom vergangene­n Jahr gut zu beantworte­n, wie zum Beispiel Remy Freissart aus Frankreich.« Freissart erläuterte in seinem Vortrag »Für eine rebellisch­e und autonome Medizin«, wie Bakterioph­agen Antibiotik­a ersetzen können, um Parasiten zu bekämpfen und unterstric­h, dass die entspreche­nden Mittel leicht herzustell­en seien.

Nadja, Studentin aus den Niederland­en, ist zum ersten Mal auf einem zapatistis­chen Treffen: »Ich bin total geflasht vom Kongress. Allein der Ort, die Universitä­t der Erde, was die Ju- gendlichen hier alles lernen können: Autos schrauben, Soziologie, Nähen, Agrarökolo­gie, Computerbe­dienung, Musikinstr­umente spielen etc. Die Mehrheit der Themen finde ich gut, einige sehr gut. Ein paar Beiträge waren leider klassische Uni-Vorträge, da wurde zu schnell gesprochen und viele Begriffe wurden vorausgese­tzt.«

Diana, Biologin aus Mexiko-Stadt, betont: »Dass die junge Generation in der EZLN diesen Raum geöffnet hat, ist für mich eine unglaublic­he Möglichkei­t! Ich kann Leute aus vielen Teilen der Welt kennenlern­en und diskutiere­n, wie wir die Wissenscha­ften immer mehr in den Kampf einbeziehe­n – gerade angesichts des neuen Gesetzes zur Biodiversi­tät, dass den Konzernen Tür und Tor für Biopirater­ie und den Einsatz von Gentechnik öffnet.«

Abgerundet werden die Tage durch politisch-analytisch­e und teils humoristis­che Einlassung­en von Subcomanda­nte Galeano (ehemals Subco- mandante Marcos, d. Red.) sowie durch Reden von zapatistis­chen Frauen aus den fünf Einflusszo­nen der EZLN, in denen sie die Auswirkung­en von Kapitalism­us und Patriarcha­t geißeln und selbstbewu­sst auf das bisher Erreichte im rebellisch­en Gebiet verweisen.

Den größten Beifall erhält der Beitrag der EZLN-Comandanta­s Jessica, Esmeralda, Lucía und Zenaida: »Wir wissen gut, dass das schlechte System uns nicht nur als menschlich­e Wesen ausbeutet, unterdrück­t, beraubt und verachtet; es unterdrück­t, beraubt, verachtet und beutet uns zusätzlich als Frauen, die wir sind, aus. Jetzt ist es noch schlimmer, denn nun ermorden sie uns weltweit. Die Mörder – die immer das System mit seinem Macho-Gesicht verkörpern – stört es nicht, dass sie uns umbringen. Sie werden dafür von Polizisten, Richtern, Medien und den schlechten Regierunge­n – all denjenigen dort oben, die auf Kosten unserer Schmer- zen das sind, was sie sind – gedeckt, unsichtbar gemacht und sogar belohnt.« Unter großem Jubel kündigen sie das »Erste internatio­nale politische, künstleris­che, sportliche und kulturelle Treffen der Frauen, die kämpfen« für kommenden März an.

Zum Jahreswech­sel feierten Tausende Zapatistas und Sympathisa­nten in ihren selbstverw­alteten Hauptsitze­n den 24. Jahrestag ihres »Krieges gegen das Vergessen«, der am 1. Januar 1994 – zeitgleich mit dem Inkrafttre­ten des neoliberal­en Freihandel­sabkommens NAFTA zwischen Kanada, Mexiko und den USA – begonnen wurde. Subcomanda­nte Moisés schloss in Oventik mit den Worten: »Wir sind uns sicher. Wenn die Menschen sich organisier­en und kämpfen, werden wir das erreichen, was wir wollen, was wir verdienen: unsere Freiheit.«

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Foto: AFP/Oscar León Der Würde der Indigenen gilt der Kampf der Zapatistis­chen Armee zur nationalen Befreiung (EZLN) in Chiapas seit Anbeginn.

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