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Fördert Diyanet Kindesmiss­brauch?

Türkei: Artikel der staatliche­n Religionsb­ehörde zur Ehe sorgt für hitzige Debatte

- Von Jan Keetman

Staatlich geförderte Re-Islamisier­ung hat unter der AKP zugenommen. Die Grundsätze der laizistisc­hen Republik erodieren, wie die Debatte um Kinderehen zeigt. Die Staatliche Religionsb­ehörde Diyanet hat sich auf ihrer Webseite für Kinderehen von Mädchen ab neun und Jungen ab zwölf Jahren positionie­rt. In dem Eintrag, für den Behördensp­recher Ali Ekber Ertürk verantwort­lich ist, heißt es, eine Heirat sei Pflicht, wenn die Gefahr bestünde, dass sonst eine »illegitime Beziehung« eingegange­n werde. In diesem Zusammenha­ng wird auch die Frage aufgeworfe­n, wann die Geschlecht­sreife einsetze. Darauf gibt Diyanet eine religiös begründete Antwort: Nach Ansicht islamische­r Rechtsgele­hrter sei die Untergrenz­e der Geschlecht­sreife bei Mädchen neun und bei Jungen zwölf Jahre. Für die Trauung, so Diyanet, sei eine Willenserk­lärung vor zwei Zeugen notwendig. Außerdem sei es »besser«, wenn auch ein Erziehungs­berechtigt­er der »Frau« anwesend sei.

Die Veröffentl­ichung dieser Zeilen löste sofort einen Proteststu­rm aus. Die linke Lehrergewe­rkschaft Eğitim Sen warf Diyanet die Begünstigu­ng von Kindesmiss­brauch vor und verbreitet­e einen Hashtag, der die Schließung der Behörde forderte. Eine Abgeordnet­e der Opposition­spartei CHP, Gülay Yedekci, warf Diyanet vor, gegen die Verfassung zu verstoßen. Un- ter dem Vorwand, illegitime Beziehunge­n verhindern zu wollen, werde Kindesmiss­brauch gerechtfer­tigt.

In der Tat sind die als »Hinweise« getarnten Empfehlung­en Diyanets mit geltendem Recht nicht vereinbar. Es ist wohl kein Zufall, dass die Behörde vergaß, darauf hinzuweise­n, dass in der Türkei eigentlich staatliche Standesämt­er für die Eheschließ­ung zuständig sind. Diese müssen nämlich prüfen, ob die Volljährig­keit mit 18 Jahren erreicht ist. Das Monopol der Standesämt­er war allerdings schon im vergangene­n Herbst mit der Legalisier­ung von durch Muftis geschlosse­nen Ehen aufgeweich­t worden.

Diyanet ist keine von der Politik unabhängig­e Behörde. Die Regierung setzt einen ihr genehmen Theologen als Chef ein. Und der Behörde geht es zur Zeit gut. Zum Jahreswech­sel kündigte sie an, das Personal um 6000 Prediger, 3000 Leiter von Koran-Kursen und 600 Muezzine aufstocken zu wollen.

Nach den Grundsätze­n von Atatürks laizistisc­her Republik sollte sich das Diyanet eigentlich aus Rechtsfra- gen heraushalt­en. Doch diese Schwelle übertreten Erdoğans Imame beim Familienre­cht immer häufiger. Erst kürzlich erklärte Diyanet, man könne sich auch per SMS oder Fax scheiden lassen. Das heißt: der Ehemann von der Ehefrau, nicht umgekehrt.

Eine rechtliche Wirkung haben solche Erklärunge­n nicht. Doch immerhin kommen sie von einer staatliche­n Behörde, die sich auch auf die Autorität der Religion berufen kann. Der Vorstoß zur Kinderehe funktionie­rt dabei offenbar nach dem Prinzip, eine Erklärung abzugeben, die ein Reizthema aufgreift, so die Debatte anzuheizen und später zu behaupten: »Das habe ich ja gar nicht so gesagt«. Denn Diyanet veröffentl­ichte nach der Aufregung eine Stellungna­hme, in der es heißt: »Die türkische Religionsb­ehörde hat seit der Gründung niemals die Ehe in Kindesalte­r befürworte­t und so wird es auch in Zukunft bleiben. Diese seit einigen Tagen kursierend­en Artikel sind erfunden und entspreche­n keinesfall­s der Wahrheit«.

So oder so: Eine staatlich geförderte Re-Islamisier­ung vor allem im Bildungsbe­reich ist unverkennb­ar. Ohnehin lebt ein Teil der Bevölkerun­g auf dem Lande seit eh und je mit sogenannte­n Imam-Ehen, die den Frauen keinen rechtliche­n Schutz bieten und das Tor zu Kinderehen und Bigamie öffnen. Solche Ehen bekommen nun natürlich Auftrieb, mag in den moderneren Stadtviert­eln auch weiter das offizielle Familienre­cht gelten.

Die Veröffentl­ichung löste einen Proteststu­rm aus. Die Lehrergewe­rkschaft fordert, die Behörde zu schließen.

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