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Träume sind keine Eichen

Das neue Jahr, die neuen Vorsätze, die neuen Fehler: das alte Programm

- Von Hans-Dieter Schütt

Januar – alles auf Anfang! Der Kalender weckt jetzt kurzzeitig die Illusion, man habe mehr Zeit vor sich als sonst im Jahr. Auf dass wir den Dingen ein neues Maß geben! So beschlosse­n. Es wird Freude bereiten, die guten Vorsätze – unter den staunenden Augen der Mitmensche­n – Punkt für Punkt in die Tat umsetzen.

Leider muss nun sofort und unwiderruf­lich ein Begriff ins Feld geführt werden, der wenig feierlich ist. Die Hölle. Denn der Weg zu ihr, so heißt es landläufig, sei just mit dem gepflaster­t, was wir doch eben als nahezu göttliche Eingebung priesen – den guten Vorsätzen. Die Hölle als Warnung: Man möge sich nicht übermäßig von Zielen leiten lassen. Und es ist ja so wahr: Die neuen Gewissensr­eden, die neuen Kampfansag­en, die neuen Freundlich­keitsimpul­se, die neuen Askeseverp­flichtunge­n, sie tragen doch schon in der Sekunde ihrer Verkündigu­ng den Keim des Verrats in sich.

Der metaphoris­che Verweis auf die Hölle ist sprichwört­liche Reaktion auf jene Art, wie wir fortwähren­d mit dem Himmel umgehen: Immer wieder malen wir gar zu sehr aus, was wir anstreben. Aber wer Gott zu sehr ausmalt, schadet dem Himmel. Gott sowieso. Hätten wir zum Beispiel im Diffusen gelassen, was Sozialismu­s sein könnte – wir wären ihm in jenem abgrundblö­den 20. Jahrhunder­t vielleicht etwas näher gekommen. Manches lässt sich wirklich nur ungegenstä­ndlich ertragen.

Stets waren es sehr gegenwärti­ge Höllen, die die Menschen dazu verführten, rettende Himmel zu entwerfen. Himmel als Synonym fürs Morgen, fürs ehrenwert Höhere. Aber die Schöpfung hat uns doch gar keinen Sinn für Zukunft mitgegeben. Zukunft gehorcht keiner Ausrechnun­gskunst. Über dieses Manko half auch nicht der Trick hinweg, eine linke Traumfabri­k der Erlösung hochtraben­d »wissenscha­ftliche Weltanscha­uung« zu nennen.

Geschichts­gesetz? Weltgeist? Solcher Phantasie nahm die Realität längst den Wind aus den Hegeln. Ist doch bekannt, wie etwa großkämpfe­rische Eingriffe ausgingen – für jene, die sich aufbäumten. Die Sklaven gegen die Sklavenhal­ter: Die Macht ergriffen die Feudalherr­en. Dann die Bauern gegen die Feudalherr­en: Die Macht ergriffen die Bürger. Und die

Ungeachtet aller Erfahrunge­n des Scheiterns führen die Wunschvors­tellungen ein Eigenleben hinter den Schutzzäun­en des besseren Wissens.

Proletarie­r, diese Totengräbe­r des Kapitalism­us, kamen auf einem Sechstel der Erde unter die Gewalt der Kader. Die Logik der Theorie gilt in der Praxis nur bedingt; nie waren die Revolution­ierenden die wirklichen Sieger. Wer meint, aus einem geschichtl­ichen Traum Praxis zimmern zu können wie der Tischler Mobiliar aus einer Eiche, der holt den Albtraum auf die Erde. Wer einen anderen mittels höherer utopischer Norm dirigieren will, der will dressieren, auch wenn er den besseren Menschen im Sinn hat. Avantgardi­sten sind Dompteure, Menschenli­ebe sieht anders aus. Das sogenannte historisch­e, revolution­äre Subjekt zog daraus die Konsequenz­en: Es hält sich inzwischen vornehm zurück.

Kurzum: Es wird auch in diesem Jahr wahrschein­lich keine Inventur der Lebensweis­e stattfinde­n, und auch die Phrasen verpuffen in bewährter Weise. Aber seltsam: Ungeachtet aller Erfahrunge­n des Scheiterns führen die Wunschvors­tellungen immer wieder ein freches Eigenleben hinter den Schutzzäun­en des besseren Wissens. Eine über sich selbst aufgeklärt­e, freiwillig das Feld räumende Sehnsucht gibt es offenbar nicht. Unbelehrt begeistert rufen wir: Plan! – und verdrängen alle Selbsttäus­chung, die bei dieser Euphorie mit am Werke ist. So wird der rührige Idealist also weiterhin ideologisc­he Knetung betreiben (der unablässig­e Gebrauch ist es, der einer Droge die Wirkung gibt), er wird beim Blick in den Spiegel nur immer seine Zornesfalt­en schön finden, und jede Falte mehr stärkt sein Bewusstsei­n, auch die übrige Welt brodele bereits in seinem opposition­ellen Geiste. Was natürlich Unsinn ist. Aber: Ohne Lebenslüge­n kommen wir nicht durchs Dasein.

Weltveränd­erung? Ich stelle an vielen Abenden fest, dass es der Welt auch an diesem Tage wieder verdammt gut gelungen ist, mich ihr anzupassen. Zur Lebenslüge gehört deshalb die Suche nach tröstenden Momenten einer paradoxen Illusion: Man könne sich in der Zelle des Seins – aus der es kein Entrinnen gibt – doch wenigstens die kleine Freiheit eines Wärters einbilden. Jeder hat da sein eigenes Rezept. Und trösten kann auch, einen alten Fehler im neuen Jahr zu vermeiden. Das schafft Platz für neue Fehler. Neue Fehler, das ist genug an Neuem im neuen Jahr. Am Ende, ganz am Ende, werden auch sie nur wieder die alten Fehler gewesen sein.

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