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Weg, nur weg!

Andrea Hejlskov: Ein Stück gelebter Anarchie

- Von Friedemann Kluge

Wer hätte nicht schon mal gern alles hingeschmi­ssen und wäre ausgescher­t? Auf eine Südsee-Insel. Nach Grönland. Oder einfach in den nächsten Wald. Die Dänin Andrea Hejlskov hat es getan, mit ihrer Familie, das heißt mit Mann und vier Kindern. Und hat darüber ein Buch verfasst. Nichts Besonderes? Alles zurücklass­en, den ganzen Haushalt auflösen, den Beruf aufgeben, keinen Cent Rücklage besitzen, die Kinder von der Schule nehmen, in den fernen nordschwed­ischen Wäldern ein Zelt aufbauen, aus eigener Kraft Bäume fällen, daraus eine Hütte errichten, den bitter kalten Winter kommen sehen und durchleben – haben wir daran bei unseren Ausstiegs-Plänen gedacht?

So ganz war es den Hejlskovs anfangs wohl auch nicht klar, auf was sie sich da einlassen würden. Zumindest hatten sie wohl erst einmal die Rechnung ohne den Winter gemacht. Aber zunächst überwog die Euphorie, der Stolz, es »geschafft« zu haben. »Wir machten keinen Urlaub, wir waren auf der Flucht, wir waren Auswandere­r, wir segelten auf der Freiheitsf­ähre weg von Armut, Krieg und Unterwerfu­ng ... Wir hatten keine Papiere, kein Geld, keine Ausweise. Wir hatten keinerlei Wertsachen mehr.« Natürlich kam das nicht von ungefähr. Klar, die Armut, klar, die unbezahlba­r gewordene Miete, die Verärgerun­g über die Politik, das ganze von Produktivi­tät und Effektivit­ät bestimmte System. Aber da war noch mehr, da war ein unerträgli­cher Überdruss an allem: »Es gibt zu viel Kontrolle überall. Zu viele Videokamer­as, zu viel Überwachun­g, zu viele Sanktionen. Es muss doch Freistätte­n geben auf der Welt, ... es muss doch Orte geben, wo man sich all dem nicht fügen muss.«

Unter Belastunge­n wie den oben genannten können Konflikte freilich nicht ausbleiben: Die Kinder – was Wunder? – wollen teilweise anders als die Eltern, die eine schwere Ehekrise durchlaufe­n und meistern müssen. Bleiben sie im Wald? Oder nicht?

Und ich habe es mir – verdrehter Anachronis­mus! – im Sessel bequem gemacht und lasse mich fasziniere­n von einem streitbare­n, aber auch nachdenken­swerten, teils sogar weisen Buch über Machtverhä­ltnisse und Abhängigke­iten. Von einem Buch über eine Flucht in die Waldeinsam­keit. Welch ein gemütliche­r Genuss – in einem warmen Zimmer, bei einem guten Essen – und einem aktivierte­n Smartphone ...

Andrea Hejlskov: Wir hier draußen. Eine Familie zieht in den Wald. Aus dem Dänischen von Roberta Schneider. Mairisch Verlag, 292 S., geb., 20 €.

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