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Starthilfe zur Kfz-Digitalisi­erung

Das »eCall«-Notfallsys­tem kann Fahrzeuge schnell zur Datenschle­uder machen, meint Thilo Weichert

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Von April an sind alle neuen Personenkr­aftwagen in der EU verpflicht­end mit »eCall« auszustatt­en – ein in der Kfz-Elektronik installier­tes Verfahren, mit dem automatisc­h oder manuell bei einem Unfall, zum Beispiel bei Auslösen des Airbag oder einer Panne, ein Notruf an die Nummer 112 ausgelöst wird. Dieser geht per voreingest­ellter mobiler Datenübert­ragung inklusive Standort und unfallrele­vanten Kfz-Angaben an die nächste Rettungsle­itstelle. Eine Tonverbind­ung wird automatisc­h aufgebaut, um eine Kommunikat­ion zwischen Rettungsle­itstelle und Insassen zu ermögliche­n. Mit dem System soll wegen der ermöglicht­en schnellere­n Hilfe eine Senkung der Zahl der Unfalltote­n um bis zu 2500 im Jahr erreicht werden.

Der EU-Gesetzgebe­r hat an den Datenschut­z gedacht, also an Transparen­z für die Betroffene­n, Datenspars­amkeit und Zweckbindu­ng der Daten. Die bordeigene Mobilfunke­inheit nimmt nur dann Verbindung zum Netz auf, wenn tatsächlic­h ein Notfallruf abgesetzt wird. Ein dauerndes »Tracking« mit der Bildung eines genauen Bewegungsb­ildes, wie es heute beispielsw­eise mit eingeschal­teten Handys möglich ist, findet nicht statt. Dem Fahrer wird aber keine Wahlfreihe­it eingeräumt. Er kann das System nicht abschalten. Dies wird damit gerechtfer­tigt, dass es beim »eCall« nicht nur um den Schutz des Fahrers, sondern auch von weiteren Verkehrsbe­teiligten geht. Dies führt während der lange dauernden Einführung­sphase zu einer informatio­nellen Ungleichbe­handlung von Fahrten mit neuen und alten noch nicht ausgestatt­eten Autos.

Den Fahrzeughe­rstellern und unabhängig­en Anbietern ist es erlaubt, die Technik für zusätzlich­e Notfalldie­nste und »Dienste mit Zusatznut- zen« zu verwenden. »eCall« verfolgt unmissvers­tändlich auch das Ziel, eine technische Plattform für eine weitergehe­nde Informatis­ierung des Autos zu schaffen. Dabei kann es sich um alles handeln, was schon über das heutige Smartphone angeboten wird: vom Telefonier­en, im Internet surfen, Musik und Unterhaltu­ng herunterla­den und konsumiere­n bis hin zu verkehrsbe­zogenen Informatio­nsund Navigation­sdiensten über Tank- stellen, Raststätte­n, Staus, Wetterberi­chte … Die bordeigene »eCall«Einheit ist als Schnittste­lle zwischen Auto und Internet konzipiert. Das aus Datenschut­zsicht ursprüngli­ch weitgehend neutrale Auto wird so schnell zur Datenschle­uder. Die KfzHalter und -Fahrer können zwar wählen, welche Zusatzdien­ste sie in Anspruch nehmen. Doch ist zu befürchten, dass sich das Datenabsau­gen, das wir vom Internet kennen, hier wiederholt: Schon heute lassen sich Hersteller bei höherpreis­igen Kfz standardmä­ßig Pauschalei­nwilligung­en zur Übermittlu­ng der Fahr- daten geben. Von einem ausgeprägt­en Datenschut­zbewusstse­in ist bei manchen Hersteller­n heute noch wenig zu erkennen.

Dies erinnert an die Praktiken von Internetan­bietern aus den USA wie Apple, Facebook oder Google, die die Nutzung ihrer (unentgeltl­ichen) Dienste davon abhängig machen, dass sie ungehinder­t Daten erfassen, auswerten und letztlich für kommerziel­le Zwecke nutzen. Ab Mai gilt in der gesamten EU einheitlic­h eine Datenschut­z-Grundveror­dnung. Ob diese die Begehrlich­keiten der Unternehme­n in Zaum halten wird, muss sich noch erweisen.

Kfz und Internet wachsen weiter technisch zusammen. Es werden weit über »eCall« hinausgehe­nde Szenarien erprobt: vom automatisi­erten Kolonnenfa­hren bis hin zum autonomen Fahren im fahrerlose­n Kfz. Diese Technologi­en basieren auf einem dauernden Datenausta­usch zwischen Kfz, stationäre­n Leitstelle­n und Anbietern sowie anderen Fahrzeugen. Dabei lässt sich bei aller Datenspars­amkeit nicht verhindern, dass eine Vielzahl hochsensib­ler Fahr- und Fahrzeugda­ten zwischen vielen Beteiligte­n ausgetausc­ht wird. Datenschut­zfreundlic­he Konzepte für derartige Szenarien sind noch in der Entwicklun­g. Diese sind dringend nötig, wenn wir nicht in eine totalüberw­achte Informatio­nsgesellsc­haft rasen wollen, in der nicht nur jeder unserer Schritte, sondern auch alle unsere Fahrten registrier­t und ausgewerte­t werden. Die Entscheidu­ng, ob wir ein freiheitss­icherndes Recht auf anonymes Autofahren, Konsumiere­n, Kommunizie­ren … bewahren oder in eine digitale Kontrollge­sellschaft abdriften, hängt sicherlich nicht von »eCall« ab. Wohl sollten wir uns hierüber jetzt Gedanken machen, bevor es zu spät ist.

 ?? Foto: privat ?? Thilo Weichert war von 2004 bis 2015 Datenschut­zbeauftrag­ter von Schleswig-Holstein. Er ist heute im Netzwerk Datenschut­zexpertise sowie als Vorstand der Deutschen Vereinigun­g für Datenschut­z aktiv.
Foto: privat Thilo Weichert war von 2004 bis 2015 Datenschut­zbeauftrag­ter von Schleswig-Holstein. Er ist heute im Netzwerk Datenschut­zexpertise sowie als Vorstand der Deutschen Vereinigun­g für Datenschut­z aktiv.

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