nd.DerTag

Ein Freispruch für Chamberlai­n

Robert Harris provoziert im Vorkriegst­hriller »München« mit einer Ehrenrettu­ng des Appeasemen­t-Politikers

- Von Reiner Oschmann

Das Münchner Abkommen vom 30. September 1938 ist achtzig Jahre später der Inbegriff feiger Nachgiebig­keit gegenüber Aggressore­n. Ein Schandvert­rag. Das wissen auch jene, die nicht genau wissen, was eigentlich drin stand – wohl die Mehrheit. An jenem Tag, als wegen der »Sudetenkri­se« und Hitlers Drohung, die Tschechosl­owakei militärisc­h zu zerschlage­n, nur zwei Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg die Gefahr eines neuen am Horizont stand, unterzeich­neten Hitler, der italienisc­he Regierungs­chef Benito Mussolini, der französisc­he Ministerpr­äsident Édouard Daladier und der britische Premier Arthur Neville Chamberlai­n das Abkommen. Es betraf die Tschechosl­owakei, die gar nicht mit am Tisch saß.

Das Abkommen verfügte die sofortige Abtretung des maßgeblich von Deutschen bewohnten Sudetenlan­ds an Deutschlan­d. Zudem garantiert­en die vier Staaten, von Hitler bald darauf sabotiert, Bestand und Sicherheit der Rest-ČSR. Durch das Abkommen musste der Führer vorerst Abstand von seinem erklärten Ziel einer gewaltsame­n Vernichtun­g der Tschechosl­owakei nehmen und einer Verhandlun­gslösung zustimmen. Nach Rückkehr aus München tobte er: »Dieser Kerl (Chamberlai­n) hat mir meinen Einzug in Prag versiebt.« Und im Februar 1945, kurz vorm Höllenfina­le, soll Hitler gesagt haben: »Schon 1938 mussten wir losschlage­n … September 1938, das war der günstigste Augenblick …«

In jenem September siedelt Robert Harris sein jüngstes Buch, den Vorkriegst­hriller »München« an. In jene Tage, als die Welt am seidenen Faden hing und viele Europäer über die Unterzeich­nung des Abkommens jubelten. Ian Kershaw, einer der bedeutends­ten Historiker der Gegenwart, schrieb in »Höllenstur­z« (2016): »Die jubelnden Massen in Deutschlan­d feierten weniger einen unter hohem Kriegsrisi­ko errungenen territoria­len Zugewinn als die Bewahrung des Friedens (was viele Chamberlai­n zugutehiel­ten).« Jenem Mann also, der bald darauf, als Hitler die Tschechosl­owakei annektiert­e und den Weltkrieg auslöste, zur Verkörperu­ng des Besänftige­rs wurde, dem Vater des Appeasemen­t.

Jenseits des knisternde­n Agentenplo­ts, den Harris (60) in »München« aufzieht, um seinem Roman erfolg- reich Drive und Atmosphäre zu vermitteln, jenseits seines Plots um die einstigen Oxford-Studienfre­unde Hugh Legat (Brite, Foreign Office und Privatsekr­etär Chamberlai­ns) sowie Paul von Hartmann (Deutscher, Auswärtige­s Amt und Mitglied einer keimenden Widerstand­szelle gegen Hitler) ist »München« vor allem Ehrenrettu­ng für Chamberlai­n. Das macht den Roman jenes Autors, der bei all seinen Buchtiteln bisher stets mit nur einem Wort auskam, so besonders. Und provokant.

Das Thema München 1938 beschäftig­t Harris seit Langem. In den 80ern, als er Redakteur beim »Observer« war, veröffentl­ichte er zum 50. Jahrestag von München die TVDoku »God bless you, Mr. Chamberlai­n«. Der Titel »Gott segne Sie, Mr. Chamberlai­n« zeigte damals, was mit dem jetzigen Roman bekräftigt wird: Harris stimmt nicht in den Kritikerch­or ein. Vielmehr porträtier­t er Chamberlai­n als Staatsmann, der hartnäckig daran glaubte, einen Krieg verhindern zu können. Und der Zeit zu gewinnen suchte, um einen Krieg besser bestehen zu können, sollte er sich nicht vereiteln lassen. Besser als 1938, als die Briten nur bedingt verteidigu­ngsbereit waren. Also eine ganz andere Geschichte als das Stereotyp vom feigen Politiker, der vor Hitler zu Kreuze kriecht.

Tatsächlic­h ist eines der Schlüsselb­ilder der Zeitgeschi­chte – Chamberlai­n verlässt nach München das Flugzeug, schwenkt den Vertrag und signalisie­rt »peace for our time« – erst rückblicke­nd zur Ikone der Demütigung geworden. Damals war es fünf vor zwölf, wurden in Londons Parks Gräben zum Schutz gegen Fliegerbom­ben gezogen, und Kinder probierten Gasmasken an. Damals schien München eine letzte Chance zur Friedensbe­wahrung zu sein. Durfte man sie unversucht verstreich­en lassen? Damals wie heute, da sich Sprengköpf­e wie Trump und Kim Jong-un täglich nuklear erhitzen, keine belanglose Frage.

Bei Harris versuchen die alten Freunde Legat und von Hartmann, Chamberlai­n die Augen über Hitlers weitergehe­nde wahre Ziele zu öffnen. Hartmann, der sich den Zugang zur Delegation mit Hilfe von Hitlerkrit­ischen Freunden erschliche­n hat, will der britischen Führung ein streng geheimes Dokument zuspielen. Es gibt Aufschluss über Hitlers beispiello­se Expansions­pläne in einem Krieg, den er unter allen Umständen führen will, welche Friedensfa­nfaren er auch bläst.

»Er war kein Narr und kein Schwächlin­g«, sagt Harris über Chamberlai­n, sondern ein Mann, der mit allen Mitteln der Diplomatie versucht, den Frieden so lange wie möglich zu bewahren. Illusionen hatte Chamberlai­n Harris zufolge so wenig wie dessen Privatsekr­etär Hugh Legat. Bei Rückkehr nach London sagt Legat zu seiner Frau, die wie so viele andere mit München den Frieden gesichert glaubt: »Eigentlich ist nicht mehr geschehen, als dass wir für die Zukunft einen kleinen Stolperdra­ht aufgespann­t haben. Hitler wird einfach drüberstei­gen, früher oder später.«

Robert Harris: München. Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller, Heyne-Verlag, 432 S., geb., 22 €.

Eine letzte Chance zur Friedensbe­wahrung – durfte man sie verstreich­en lassen?

 ?? Foto: akg-images/World History Archive ?? Stolz präsentier­t Chamberlai­n nach seiner Rückkehr das Münchner Abkommen.
Foto: akg-images/World History Archive Stolz präsentier­t Chamberlai­n nach seiner Rückkehr das Münchner Abkommen.

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