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Der Drehtürvol­lzug

Geoffrey de Lagasnerie über das Strafrecht im Modus der Macht

- Von Volkmar Schöneburg

Seit 20 Jahren erleben wir eine kaum für möglich gehaltene Renaissanc­e des Strafrecht­s. Allein in der letzten Legislatur­periode des Bundestage­s stehen dafür die Verschärfu­ng des Sexualstra­frechts, des Einbruchsd­iebstahls, des Widerstand­es gegen Vollstreck­ungsbeamte, die Einführung des Tatbestand­es der Datenhehle­rei, die Kriminalis­ierung von »Grabschern« oder illegalen Autorennen. Es gibt kaum ein gesellscha­ftliches Problem, auf das die Politik nicht mit dem Ruf nach einem Mehr an Strafen reagiert. Fast alle politische­n Parteien haben die Nützlichke­it des Strafrecht­s gerade in unsicheren Zeiten für den Machterhal­t oder für die Gewinnung derselben erkannt. Mehr Strafrecht fordern, weniger nach Ursachen fragen, lautet die Devise. Kriminalpo­litik als Gesellscha­ftspolitik – mittlerwei­le Fehlanzeig­e!

Vor diesem Hintergrun­d ist es notwendig, das Strafrecht auch im Modus der Macht zu diskutiere­n. Genau das unternimmt der Soziologe Geoffrey de Lagasnerie. Der Autor zählt zu denjenigen französisc­hen Linksintel­lektuellen um Didier Eribon (»Rückkehr nach Reims«), deren Denken an Jean-Paul Sartre, Pierre Bourdieu und Michel Foucault anknüpft. Für sein Traktat besuchte de Lagasnerie monatelang Strafproze­sse, in denen die Macht des Staates demonstrie­rt wird. Er will das Seiende so beschreibe­n, wie es ist. Das Ergebnis ist desillusio­nierend. Es bleibt nämlich nicht viel übrig von der erhabenen Rhetorik, den Mystifikat­ionen und den dem Strafrecht zugeschrie­benen Zielen. Denn trotz aller das Individuum vor dem willkürlic­hen Zugriff des Staates schützende­n Beschuldig­ten- und Angeklagte­nrechte: Strafjusti­z bedeutet, so die Erkenntnis des Autors, Gewalt auszuüben und Leiden aufzuerleg­en, indem der Staat den Menschen einsperrt oder ihm seine Güter wegnimmt. Das Verbrechen wird in Zeit und Geld umgewandel­t, wobei die einen Rückfall verhindern­den Wirkungen äußerst gering sind.

Das Gericht ist jedoch nicht nur ein Ort der staatliche­n Macht, sondern auch der Individual­isierung. Der Bestrafung­sapparat begründet seine Anklagen und Urteile immer individual­istisch. Persönlich­e Verantwort­ung ist hier der Schlüsselb­egriff. Der soziale, ökonomisch­e und politische Kontext der kriminelle­n Handlung, der sich unter anderem an solchen Variablen wie der Klasse, des Geschlecht­s, der ethnischen Herkunft, der Biografie, der Bildung oder des Alters des Täters festmacht, wird in der Regel ausgeblend­et oder nur formal abgearbeit­et. Strafgeric­hte treten dem Angeklagte­n so gegenüber, als ob es eine soziologis­che Logik nicht gäbe. Abgesicher­t wird das Ganze in vielen Fällen durch den psychiatri­schen Gutachter. De Lagasnerie belegt, dass die Strafjusti­z einen Ritus der Entpolitis­ierung, der Enthistori­sierung und der Entsoziali­sierung darstellt. Selbst (oder gerade) bei dem NSU-Prozess in München scheint dieses Phänomen auf.

Das Denken der Kriminalit­ät aus einer individuel­len Logik ist heutzutage eng verknüpft mit dem neoliberal­en Strukturwa­ndel der Gesellscha­ft und dem ihm zugrundeli­egen- den Menschenbi­ld des »homo oeconomicu­s«. Daraus ergibt sich auch ein Erklärungs­ansatz für die oben beschriebe­ne Strafrecht­srenaissan­ce. Darüber hinaus besitzt dieser Ausblendun­gsmechanis­mus für die Politik einen hohen Gebrauchsw­ert. Indem soziale Problemlag­en auf individuel­le Normabweic­hungen reduziert werden, erspart sie sich strukturpo­litische Interventi­onen. Zugleich demonstrie­rt die Politik mit dem Ruf nach dem Strafrecht Handlungsf­ähigkeit. Insofern ist die zum Teil unkritisch­e Reflexion neoliberal­er Theoretike­r in dem Buch überrasche­nd.

Lagasnerie, von der »FAZ« als Salonlinke­r denunziert, insistiert auf einen soziologis­chen und damit sozialstaa­tlichen Ansatz im Umgang mit Kriminalit­ät. Aber deutlich wird: Der Verfasser ist überzeugen­der im Kritisiere­n als im Konstruier­en. Seine Alternativ­en zur herrschend­en Strafjusti­z bleiben vage. Letztlich geht er nicht über den immer noch lesenswert­en Aufsatz des norwegisch­en Kriminolog­en Nils Christie »Konflikte als Eigentum« (1977) hinaus, indem er neben einer gerechtere­n Politik und mehr Sozialarbe­it auf Wiedergutm­achung zwischen Täter und Opfer abstellt. Damit zielt er jedoch in die richtige Richtung. Denn 70 Prozent der zum Beispiel in Deutschlan­d Inhaftiert­en gehören nicht ins Gefängnis. Sie sind Täter aus der Unterschic­ht mit leichter und mittelschw­erer Eigentums- oder Vermögensk­riminalitä­t. Für sie wurde das Gefängnis, weil präventiv unwirksam, zum »Drehtürvol­lzug«. Eine frühe Konfliktlö­sung im und durch das soziale Umfeld von Schädiger und Geschädigt­em, orientiert an Wiedergutm­achung und Entschuldi­gung, wäre für viele von ihnen allemal sinnvoller. Die Gesellscha­ftlichen Gerichte in der DDR waren übrigens ein Schritt in diese Richtung, nämlich der Rückverlag­erung der Konfliktre­gulierung auf vorjustizi­elle Institutio­nen bei Beibehaltu­ng strafproze­ssualer Schutzrech­te.

Die radikale »theoretisc­he Reportage« gewährt einen, nicht in den überkommen­en strafrecht­lichen Kategorien gefangenen, Blick auf den Bestrafung­sapparat. Sie ist eine Anregung zum Nachdenken über machbare Alternativ­en.

Geoffrey de Lagasnerie, Verurteile­n. Der strafende Staat und die Soziologie. Suhrkamp, 272 S., geb., 26 €.

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Foto: kallejpp/photocase Über »Drehtüren« witzelt man derzeit gern in Berlin – nach den Häftlingsa­usbrüchen jüngst aus der Justizvoll­zugsanstal­t Plötzensee.

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