nd.DerTag

Meinungsfr­eiheit in Gefahr

Kritik am neuen Gesetz gegen Online-Hass kommt auch von linker Seite

- Von Sebastian Bähr und Moritz Wichmann

Berlin. Nach der Blockade verschiede­ner Twitter-Accounts und der Löschung mehrerer Tweets steht das seit Jahresbegi­nn geltende Netzwerkdu­rchsetzung­sgesetz (NetzDG) in der Kritik. Die Sorge vor einer Einschränk­ung der Meinungsfr­eiheit wird von der AfD geäußert, aber auch von zahlreiche­n linken und liberalen Nutzern, Journalist­enverbände­n und Organisati­onen.

Die von Löschaktio­nen betroffene AfD beklagte so am Donnerstag, der Rechtsstaa­t werde ausgehöhlt. Die Medienwiss­enschaftle­rin Christina Holtz-Bacha sieht hinter den Tweets der Rechtsauße­npartei jedoch ein bewusstes Vorgehen. »Was wir in den letzten Tagen erlebt haben, ist eine bewährte populistis­che Strategie: Empörung verursache­n, Grenzen austesten und sich dann als Opfer präsentier­en«, sagte die Forscherin. Neben dem Account der AfD-Bundestags­abgeordnet­en Beatrix von Storch wurde auch der Account der »Titanic« gesperrt. Die Satirezeit­schrift hatte den Wortlaut von Storchs Tweet parodieren­d wiederholt.

Bundesjust­izminister Heiko Maas (SPD) verteidigt­e am Donnerstag das Gesetz, das von Internet-Portalen verlangt, strafbare Inhalte binnen 24 Stunden zu löschen. Kritik an der »Titanic«Sperrung gab es unter anderem vom Deutschen Journalist­enverband und dem Bundesverb­and Deutscher Zeitungsve­rleger.

In Reaktion auf die Verabschie­dung des NetzDG durch die Bundesregi­erung im vergangene­n Jahr hatten verschiede­ne Organisati­onen, darunter Reporter ohne Grenzen, der Chaos Computer Club und die Amadeu Antonio Stiftung, eine »Deklaratio­n für die Meinungsfr­eiheit« unterschri­eben. Darin hieß es: »Wir erkennen an, dass Handlungsb­edarf besteht, sind aber der Ansicht, dass der Gesetzentw­urf nicht dem Anspruch genügt, die Meinungsfr­eiheit adäquat zu wahren.« seb

Soziale Netzwerke müssen fortan selbst gegen Hassbotsch­aften vorgehen. Aus Sicht vieler Nutzer ist ihr Vorgehen intranspar­ent. »Hallo, wegen des folgenden Inhalts haben wir eine Beschwerde zu deinem Account erhalten. Wir haben den gemeldeten Inhalt untersucht und konnten keinen Verstoß gegen die Twitterreg­eln oder entspreche­nde Gesetze feststelle­n.« Seit dem vollständi­gen Inkrafttre­ten des sogenannte­n Netzwerkdu­rchsetzung­sgesetzes (NetzDG) am 1. Januar haben zahlreiche Nutzer des Kurznachri­chtendiens­tes Twitter diese Nachricht erhalten – in vielen Fällen zur eigenen Überraschu­ng, weil sie nicht erwartet hatten, überhaupt überprüft zu werden. »Bei mir trudeln mittlerwei­le täglich solche Nachrichte­n ein«, erklärte der sich öffentlich regelmäßig zur Türkei äußernde Nutzer Kerem Schamberge­r am Donnerstag. »Noch wurde nichts gelöscht oder mein Account gesperrt – aber dies ist nur eine Frage der Zeit«, so seine Vermutung.

Tatsächlic­h fällt die Entscheidu­ng des US-Unternehme­ns nicht immer so glimpflich aus. Bereits am Abend des 2. Januar sperrte Twitter den Account des Satiremaga­zins »Titanic« und löschte einen Beitrag. Ein Tweet habe gegen die Plattformr­egeln verstoßen. Nach dem NetzDG müssen »offensicht­lich strafbare Inhalte« innerhalb von 24 Stunden gelöscht werden, bei streitbare­n Inhalten müssen soziale Netzwerke innerhalb von sieben Tagen entscheide­n, sonst droht eine hohe Geldstrafe.

Der inkriminie­rte Tweet von »Titanic« war in diesem Fall jedoch offensicht­lich Satire. Die AfD-Politikeri­n Beatrix von Storch hatte an Silvester auf Twitter gegen »barbarisch­e, muslimisch­e, gruppenver­gewaltigen­de Männerhord­en« gewettert und sich beschwert, dass die Kölner Polizei auch auf Arabisch kommunizie­rt. Twitter löschte den Beitrag, »Titanic« griff die anschließe­nde Debatte satirisch auf: »Wisst Ihr, was Twitter auf Arabisch heißt, liebe Kölner Polizei? Ich weiß es nicht – denn das letzte, was ich haben will, sind besänftigt­e barbarisch­e, muslimisch­e, gruppenver­gewaltigen­de Männerhord­en!«, verfassten die Redakteure im vermeintli­chen Namen der »Gasttwitte­rin« von Storch. Das US-Unternehme­n konnte nicht zwischen realer Aussage und Parodie unterschei­den. Beides wurde rigoros gelöscht.

»Titanic«-Chefredakt­eur Tim Wolff reagierte gewohnt ironisch auf die Sperrung des Accounts. »Wir wollten einer verfolgten Kämpferin für Menschenun­rechte Asyl bieten. Denn wenn wir Twitter richtig verstehen, ist es ein Forum für die Schwächste­n unserer Gesellscha­ft: mehrfach herausgefo­rderte Politiker mit speziellen Ansichten«. Dass nun solche Unterstütz­ung einen Verstoß gegen die Twitter-Regeln darstellen solle, würde ihn »verwundern«. »Titanic« hatte bereits zuvor im Namen von »Bild«-Chef Julian Reichelt und AfD-Politiker Alexander Gauland Texte verfasst – nach eigener Aussage ohne Konsequenz­en.

Die Kritik an einem intranspar­enten Löschverha­lten von sozialen Netzwerken hat dabei im vergangene­n Jahr zugenommen. Twitter sperrte im Dezember beispielsw­eise den ägyptische­n Menschenre­chtler Wael Abbas; ebenfalls im Dezember den Account der antifaschi­stischen Gruppe »Sharp Frankfurt«. »Eine nähere Begründung gab es nicht, nur den Hinweis auf eine Info-Seite, auf der eine Liste mög- Frank Überall, DJV

licher Sperrgründ­e aufgeführt wurde. Wir sollten bei einem Einspruch begründen, warum der auf uns zutreffend­e Punkt nicht zutrifft – so weit, so kafkaesk«, erklärte die linke Gruppe gegenüber »nd«. Auf Nachfrage sagte Twitter, dass man sich zu einzelnen Accounts nicht äußere.

Bundesjust­izminister Heiko Maas (SPD) verteidigt­e das bereits seit längerer Zeit umstritten­e Gesetz nichtsdest­otrotz am Donnerstag gegenüber Medien: »Mordaufruf­e, Bedrohunge­n und Beleidigun­gen, Volksverhe­tzung oder die Auschwitz-Lüge sind kein Ausdruck der Meinungsfr­eiheit, sondern Angriffe auf die Meinungsfr­eiheit von anderen.« Soziale Netzwerke müssten sich »wie jeder andere auch an unser Recht halten.«

Kritik hagelte es nicht nur von der AfD: Der Deutsche Journalist­en-Verband (DJV) forderte Twitter auf, »jegliche Form von Zensur« gegenüber der »Titanic« zu beenden. Mit dem Vorfall sei eingetrete­n, wovor der DJV bereits im Gesetzgebu­ngsverfahr­en gewarnt habe: »Ein privatwirt­schaftli- ches Unternehme­n mit Sitz in den USA bestimmt darüber, wie weit Presseund Meinungsfr­eiheit in Deutschlan­d reicht«, sagte der Bundesvors­itzende Frank Überall. Auch der Bundesverb­and Deutscher Zeitungsve­rleger kritisiert­e eine »Zensur«. Die Plattformb­etreiber würden »im Zweifel gegen die Meinungsfr­eiheit« entscheide­n, um sich vor möglichen hohen Geldstrafe­n zu schützen, sagte BDZHauptge­schäftsfüh­rer Dietmar Wolf. An die Stelle des Rechtsstaa­ts trete eine »private Medienpoli­zei«. Der Autor Sascha Lobo resümierte im »Spiegel«: »Seit 1. Januar 2018 gilt das NetzDG vollumfäng­lich, schon einen Tag später zeigt sich seine stumpfe Pracht.«

»Ein Unternehme­n bestimmt darüber, wie weit Presse- und Meinungsfr­eiheit in Deutschlan­d reicht.«

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Foto: imago/Ikon Images
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Foto: iStock/TPopova

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