Unser täglich Marx
Was die DDR alles aus Karl Marx machte: Blick aus einem Jubiläumsjahr ins andere
Berlin. Ein Dorf in Thüringen im Jahr 1983, zwei Damen in Kittelschürzen unter SED-Propaganda. Und mittendrin: Karl Marx. In jenem Jahr wurde in der DDR sein 100. Todestag begangen, so wie im vereinten Deutschland 2018 sein 200. Geburtstag. Nur eben ganz anders.
Karl Marx war im Alltag der DDR präsent – so sehr, dass einem damals wohl die Ironie, die beim Betrachten des Bildes ins Auge springt, entgangen sein könnte. Man fand ihn zwischen Reizwäsche und leeren Obstregalen ebenso wie auf Briefmarken, Plakaten, Aufstellern. Der präsente Marx war ein ganz bestimmter. Einer, hinter dem der Theoretiker, der Autor, der Kritiker, der Ökonom, der Politiker Karl Marx verborgen blieb. Zumindest auf den ersten Blick. Denn natürlich gab es auch in der DDR längst nicht nur den einen. Es gab einen allgemein akademischen, einen ökonomischen, den man mit dem planwirtschaftlichen nicht verwechseln darf. Es gab einen philosophischen, einen der Herrschaftsideologie im engeren Sinne, einen auf eine noch ganz andere Weise propagandistischen, einen philologischen, einen westlichen, auf den man sich im Kleinen bezog und im Großen vielleicht das Plurale daran ersehnte. Es gab einen biografischen Marx insofern, als dass viele Menschen in der DDR sich berufsmäßig fast ausschließlich mit ihm befassten.
Im Karl-Marx-Jahr 2018 steht jeder Rückblick auf die DDR zwangsläufig im Verhältnis zu den heute wirkenden Klischees der Geschichtsschreibung; der Versuch, der realsozialistischen Wirklichkeit gerecht zu werden, ist nicht leicht.
Lesen Sie über Marx und Damenunterwäsche, eine Büste, die hastig am Strausberger Platz aufgestellt werden musste, und eine besondere Ausgabe von »Neues Deutschland« auf den
I.
Es ist keine einfache Angelegenheit, in einer Weise auf die DDR zurückzuschauen, die der realsozialistischen Wirklichkeit gerecht wird. Was war dieses Land jenseits der politischen Schablonen, abseits der groben Raster? Vielleicht könnte man es so sagen: ein lebendiger Widerspruch vor allem – einer zwischen Idee und Praxis, zwischen Wollen und Können, zwischen autoritärer Herrschaft, industrieller Modernisierung und Alltag in der Nische.
Und was war Karl Marx in dieser Welt? Sich seiner Rolle in dieser DDR zu vergewissern, ist auch kein Spaziergang. Man könnte es sich leicht machen, von »Verfälschung« und »Herrschaftsideologie« sprechen. Aber dann bliebe diese Mischung aus theoretischem Traditionsbezug und politischer Vereinnahmung, fruchtbarer wissenschaftlicher Debatte und säkularer Partei-Religiosität, Legitimation durch Bilder und Alltagspräsenz, zwischen einer Normalität mit Marx und einer Realität ohne ihn unbegriffen.
Das gilt umso mehr, als jeder Rückblick auf die DDR in einem Verhältnis zu den heute wirkenden Klischees der Geschichtsschreibung steht; umso mehr, als dass sich daraus Konsequenzen der Betrachtung, der Einordnung speisen, als dass es zwischen biografischer Erfahrung derer, die »dabei gewesen« sind, und nachträglichem Urteil immer eine konfliktreiche Spannung geben wird.
Insofern auch folgende Anmerkung: Dieser Text könnte durchaus das Prädikat »Thema verfehlt« erhalten, denn am Anfang stand eine ganz andere Bitte – nämlich: einen kurzen Beitrag über die Behandlung von Marx im Zentralorgan der SED beizusteuern. Ein paar Tage im Archiv von »Neues Deutschland« sorgten dann für diverse Abwege. Und für die Idee, das Jahr 1983 als historischen Hintergrund auszuwählen. Der Autor war 1983 neun Jahre alt, er besuchte seinerzeit eine Polytechnische Oberschule im Ostteil Berlins, das Zuhause war »systemloyal« und in der Wohnung standen die »blauen Bände«.
II.
Wie also war das damals mit mir und diesem Karl Marx? Wo fängt man an auf der Suche nach ihm in der DDR? Bei den Bildern?
Es gehört zur Tragik des Realsozialismus, dass er für sein Scheitern schon so viele Bilder gleichsam auf Vorrat produzierte und damit eine Ästhetik des Erinnern mitprägte, in dem schon der abfällige Lacher steckt. Zum Beispiel die lange Schlange der auf knappe Waren Wartenden vor einem Geschäft für Obst und Gemüse in Weimar, in dessen Schaufenster anlässlich des Marx-Jahres 1983 über Pyramiden von Einweckgläsern ein Konterfei des »Begründers des wissenschaftlichen Sozialismus« mit den Worten prangt: »Karl Marx lebt in uns und unseren Taten.« Jaja, spricht da sogleich das verallgemeinerte Urteil über die DDR im Kopf, einen der größten Ökonomen aller Zeiten abfeiern, aber nicht aus der Mangelwirtschaft herauskommen!
Bilder gehören dazu wie auch jenes von den beiden älteren Damen in einem Thüringer Dorf, die sich in Kittelschürzen unter einem Plakat auf einer Bank sitzend unterhalten: »Unter Führung der SED – vorwärts zu neuen Erfolgen im Karl-Marx-Jahr 1983!« Oder jenes vom Schaufenster eines Geschäfts für Damenwäsche, in dem »der größte Sohn des deutschen Volkes« zwischen Unterhöschen drapiert worden war, um die Mitteilung zu machen, dass in der DDR die »Idee von Karl Marx verwirklicht« werden.
Lustig? Nicht unbedingt. Es sind Bilder, die nämlich noch einen anderen Schluss zulassen: dass eine bestimmte Ikonografie von Marx im Alltag als so selbstverständlich erachtet wurde, dass den meisten in der DDR die Ironie solcher Konfigurationen gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Es war normal, den alltäglichen Verrichtungen nachzugehen, während im Hintergrund Propaganda der SED hing. Aus einer bestimmten, der damaligen Zeit entsprechenden Sichtweise hätte man auch gar nicht den Theoretiker, den Autor, den Kritiker, den Philosophen, den Ökonomen, den Politiker Karl Marx auf diesen Plakaten »gesehen«, sondern eine der »üblichen Figuren« jener Symbolik des Status quo, die umso weniger wahrgenommen wurde, je omnipräsenter sie sich gab.
Was da zwischen Reizwäsche und leeren Obstregalen ausgestellt wurde, natürlich auch auf Briefmarken oder riesenhaften Propaganda-Aufstellern, war gewissermaßen ein Nicht-Marx, eine Figur, die zwar diesen Namen trug und so aussah, die aber in Wahrheit keine theoretische, wissenschaftliche, ökonomische Botschaft trug, sondern lediglich die, dass sich die SED auf Marx beruft.
Warum sie das tat, ob das berechtigt war, auf »welchen Marx« sie ihre Politik zu gründen beanspruchte, welchen Widerspruch zur in der DDR realen Praxis es gab – all das war aus dieser Nicht-Person entfernt worden. »Unter dem Banner von Karl Marx für Frieden und gesellschaftlichen Fortschritt.« Oder, je nach aktuellem Bedarf, für etwas anderes.
Dieser Nicht-Marx war natürlich nicht der einzige Marx in der DDR. Es gab ihn darüber hinaus als Bezugspunkt ganz unterschiedlicher Alltagsrealitäten: einen allgemein akademischen, einen ökonomischen, den man mit dem planwirtschaftlichen nicht verwechseln darf, einen philosophischen, einen der Herrschaftsideologie im engeren Sinne, einen auf eine noch ganz andere Weise propagandistischen, einen philologischen, einen westlichen, auf den man sich im Kleinen bezog und im Großen vielleicht das Plurale daran ersehnte, einen biografischen insofern, als dass viele Menschen in der DDR sich berufsmäßig fast ausschließlich mit Marx befassten.
Es gab einen Marx an der Schule, einen für Kinderbücher, einen journalistischen, einen der Produktionsinitiativen und so fort. Ungezählte Ökonomen wurden an Marx geschult, um in der Praxis in den Kombinaten und Planbehörden dann zu erfahren, wie weit die »Verwirklichung« seiner Theorie von der politischen Praxis in der DDR entfernt war.
Zugleich geht die Formel, Marxismus in der DDR sei grosso modo eine Herrschaftsideologie gewesen, dem Zerrbild einer Homogenität auf den Leim, mit der die DDR nicht beschrieben werden kann. Bisweilen wird die Klage über den Umgang mit Marx in der DDR mit der spekulativen Hoffnung versehen, hätten sich die SEDOberen den Alten aus Trier doch anders, kritischer, »richtiger« zu eigen gemacht, dann wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen. Hätte es dann auch andere Bilder von der DDR gegeben?
III.
Aus einem großen Haufen von Exemplaren der Zeitung »Neues Deutschland« würde die Ausgabe vom 12. März 1983 nicht herausstechen. Jedenfalls nicht besonders, das Zentralorgan machte, was es den zeitgenössischen Moden der realsozialistischen Herrschaft entsprechend immer getan hatte: Es stellte die Bilder, die die SED zwecks Untermalung, Legitimierung, Bestätigung ihrer Politik zuvor produziert hatte, ins Schaufenster.
Es ist der Vorabend des 100. Todestags von Marx, dessen »Lehre« die Zeitung in der Schlagzeile als »in der Welt von heute lebendiger denn je« bezeichnet. Die etwas aus dem üblichen Rahmen fallende Gestaltung der ersten Seite zeigt ein großes Foto. Das Konterfei »des größten Sohnes des deutschen Volkes« prangt kugelrund und mehrere Meter im Durchmesser auf einem wallenden Vorhang, darunter die Jahreszahlen 1883 und 1983, und ganz unten auf einer Bühne zu sehen ein Ausschnitt der Tribüne mit dem Präsidium einer »Festveranstaltung«: Die »starken Männer« der SED, Honecker, Axen, Sindermann, Stoph, Herrmann klatschen Beifall. Wem?
Die Inszenierung hat mehrere Ebenen. Natürlich wurde Marx von der SED nicht bloß instrumentalisiert, er war ja tatsächlich ein Traditionen begründender Bezugspunkt. Wie man ihn las oder eben nicht, zu welcher Strömung der mit Marx verknüpften Debatten und Spaltungen der Arbeiterbewegung man sich zugehörig fühlte, wirkte
Karl Marx wäre in diesem Jahr 200 Jahre alt geworden. Schon bald nach seinem Tod wurde sein Portrait zur Ikone und im Laufe der Jahre die Schaustellung von Marx oft auch von politischen Inhalten beraubt. Was da zwischen Reizwäsche und leeren Obstregalen ausgestellt wurde, war gewissermaßen ein Nicht-Marx, eine Figur, die zwar diesen Namen trug und so aussah, die aber in Wahrheit keine theoretische, wissenschaftliche, ökonomische Botschaft trug, sondern lediglich die, dass sich die SED auf Marx beruft.
wirklich identitäts- und legitimitätsbegründend. Marx-Lektüren, jedenfalls die der Hefte mit entsprechenden Bildungsprogrammen der Arbeiterbewegung, gehörten zu den Biografien der Protagonisten dort auf der Bühne.
Der Name Marx war aber darüber hinaus auch so etwas wie eine größtmögliche Komplexitätsreduktion, in der das vielschichtige Ganze, auch die Hoffnung auf das Andere, die sich aus der Kritik am Bestehenden speiste, in einem Wort Platz fand. Insofern wohnte der Ehrung im großen Saal des Palastes der Republik in jenem Frühjahr ein auch subjektives Bedürfnis nach Bewahrung inne – indem man Marx zu dessen Todestag ehrte, ehrte man auch sich selbst als Träger einer Fackel, die von Generation zu Generation weitergereicht werden sollte.
Auf einer anderen Ebene erzählt gerade diese Inszenierung vom März 1983 von einer Ästhetik einer sich selbst unsicheren Macht, die solche Bezugspunkte braucht, um sich zu stützen – und dabei eine Praxis an den Tag legt, die schon beinahe mit jener von Religionen vergleichbar ist oder sogar über sie hinausreicht. Noch einmal zurück zum Foto auf der ND-Titelseite vom 12. März 1983: Der riesige, kreisrund gefasste Kopf von Marx schwebt wie eine Sonne über den irdischen Vertretern eines Denksystems, das eine kritische Skepsis an sich selbst nicht erlaubte, das zu einem Katechismus realsozialistischer Herrschaftsausübung geworden war.
Eine Ironie dabei: Mit der Masse, die das Bild von Marx und den alten Männern nicht zeigt, ist auch das »historische Subjekt« aus der Inszenierung herausgefallen, die Werktätigen, sie werden gar nicht gezeigt.
Also eine Inszenierung? Nicht unbedingt, es ist auf einer anderen Ebene auch das Ergebnis der politischen Realgeschichte des auf Marx zurückgehenden Denkens in der Arbeiterbewegung, die hier in der SED ihren bisherigen »Höhepunkt« sah: von Marx zum »Marxismus«, zu Lenins Avantgarde-Gedanken, zur Spaltung der Arbeiterbewegung, zum Marxismus-Leninismus und einer »Theorie«, die vom gesetzmäßigen Untergang des Kapitalismus ausging und der die DDR als eines der praktizierten Gegenmodelle galt, auf dass die SED dann verwies, wenn sie von der »Verwirklichung« der »Lehren« sprach.
Lehren, hier gemeint nicht als Schlussfolgerungen kritischer Reflexion, sondern als Glaubenssätze, die mit einer Überfigur verknüpft sind: Man wird diese quasireligöse Inszenierung von Marx dennoch nicht einfach der Abteilung »Opium des Volks« zuordnen wollen. Ein »Seufzer der bedrängten Kreatur« war diese Form der politischen Inanspruchnahme aber auf eine gewisse Weise tatsächlich.
Je größer der Marx strahlte, den sie meinten, desto eher konnten sie hoffen, es werde auch Licht auf ihr Tun fallen, dessen Begrenztheit sogar für jene augenfällig gewesen sein muss, die so redeten, als sähen sie es nicht. »Mit dem Werden und Wachsen der DDR wurde auch bei uns das Vermächtnis von Karl Marx erfüllt. Seine Lehre hat bereits auf vier Kontinenten Fuß gefasst und dort starke Bastionen eingenommen«, schrieb das »Neue Deutschland« an jenem 12. März 1983. Und weiter: »Diese Feststellungen bestimmten die Festveranstaltung.«
Eine Feststellungsfestveranstaltung also, die übrigens mit einem Festprogramm endete. Die Führung der führenden Partei sendete von ihr »die herzlichsten Grüße« an alle Werktätigen, von denen es im Zentralorgan dann weiter heißt, diese würden »die Ehrung für Karl Marx zum Anlass nehmen, den ersten Staat der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden allseitig zu stärken«, wobei sie »zu jener besseren Welt« beitragen, »die Karl Marx zeitlebens erstrebte«.
Damit war der Kreis zwischen Avantgarde-Partei, historischem Subjekt und »dem Vermächtnis« dann doch wieder geschlossen, eine symbolpolitische Übung, die auch mit anderen Namen funktionierte, seien es Ernst Thälmann oder Martin Luther. Es kam auf den Jahrestag an und die Umstände.
Die »Tendenz zur Verwandlung der Marxschen Weltanschauung in ein Religionssurrogat« hatte freilich schon lange vor der DDR begonnen. Verschiedene Faktoren wirkten auf diesem Weg, darunter die Verselbstständigung der Theorie gegenüber der Bewegung; die Auffassung, »den Arbeitern« könne nicht die ganze, komplizierte Gedankenwelt von Marx zuge- mutet werden, sie bräuchten stattdessen kurze Lehrsätze; die wachsende Bedeutung von Eigenlogiken wie der Organisationsidentität der kommunistischen und sozialdemokratischen Bewegung; die Transformation von Elementen der Theorie in unhinterfragbare Prämissen und die Rolle der mehr und mehr von ihrer eigentlichen Substanz abgetrennten Marxschen Terminologie, die sich gerade in der SED immer mehr zu einem eigenen, hermetischen Sprachkosmos verwandelte, in dem die »führenden Genossen« kraft der Verwendung bestimmter Formeln zu »Personifikationen des Marxismus« wurden.
»Die Massen wurden in diesen Tendenzen zum Objekt der Belehrung über richtiges Verhalten und konnten sich so den Marxismus nur quasireligiös aneignen«, so formuliert es der Politikwissenschaftler Lutz Brangsch. »Die Sinnsetzung jenseits der menschlichen Emanzipation und das Fehlen einer Vermittlung von Wissensproduktion und den Massen ließen den Marxismus zu einer Äußerlichkeit werden.«
Und doch: Da war eben auch der akademische DDR-Marx, da war eine vielfältige Forschungslandschaft, da waren Debatten, die nicht immer – siehe als schlimmes Beispiel der Fall Peter Ruben – mit autoritärer Unterdrückung des Denkens endeten. Es existierten grenzüberschreitende offizielle Arbeitskontakte in den Westen; es gab dissidente Gruppen, die die neueren Debatten wenigstens in Promilleumfang in jenes Land transformierten, in dem angeblich die Lehre von Marx »verwirklicht« wurde.
Dieser »andere Marx« war in jener Zeit, die hier behandelt wird, gerade ziemlich dicke da. Anfang der 1980er Jahre liefen die Arbeiten an der MEGA, die in den 1970er Jahren in Berlin und Moskau begonnen worden war und international fachliche Anerkennung erhielt. Ungezählte Gesellschaftswissenschaftler der DDR spürten biografischen Details des Lebens von Karl Marx nach, es wurde nach den Wirkungen der politischen Interventionen von Marx zu seiner Zeit gefragt, theoretische Probleme wie die der Wertform oder der Grundrente wurden seziert.
All das geschah nicht im luftleeren Raum, in der Scientific Community wirkten zwar die ideologischen Prämissen, schnürte der politische Wille auch Spielräume ein – aber dennoch gab es ein wissenschaftliches Wechselverhältnis zur vielfältigen Befassung mit Marx im Westen.
V.
Zurück in den Osten, ins Jahr 1983. Damals bildete eine internationale Konferenz den »Höhepunkt im KarlMarx-Jahr«. Und neben vielen anderen Dingen passierte auch dies: Am Strausberger Platz in Berlin wurde eine Marx-Büste des schon in den 1950er Jahren verstorbenen Künstlers Will Lammert aufgestellt.
Der hatte den markanten Kopf bereits für das Marx-Jahr 1953 angefertigt, der erste Abguss der Arbeit stand seither vor dem Senatssaal der Humboldt-Universität. Weil aber das lange geplante Marx-Engels-Forum immer noch noch fertig war, fehlte 1983 ein öffentlicher Ort der Erinnerung an Marx in Berlin – was den damaligen Bezirkschef der SED, Konrad Naumann, zu einer eigenmächtigen Aktion veranlasste: Es wurde ein zweiter Abguss der Marx-Büste von Lammert angefertigt und eilig am Beginn der Karl-Marx-Allee aufgestellt. Die zur Konferenz angereisten internationalen Delegationen konnten ihre Kränze niederlegen.
Offenbar erhielt der Rest der SEDSpitze von der Büste erst dadurch überhaupt Kenntnis, was Folgen haben sollte. Nach Ende der Konferenz kam das Thema auf die Tagesordnung des Politbüros. Das Gremium beschloss, den SED-Vorsitzenden höchstselbst zu beauftragen, mit Naumann »über die ohne Beschluss erfolgte Errichtung … zu sprechen«. Um den SED-Statthalter in der Hauptstadt hatte es schon damals konfliktreiche Diskussionen gegeben, 1985 wurde er schließlich von seiner Position abgesetzt.
Über den Verlauf des Gesprächs zwischen Erich Honecker und Naumann von 1983 ist nichts überliefert. Man weiß nicht einmal, ob es stattgefunden hat. Es mag aber mehr als eine nebensächliche Anekdote sein, dass damals sogar die Aufstellung einer Büste von Marx zu einem Fall für nachträgliche Rügen selbst hochrangiger Funktionäre werden konnte.
Der Lammert-Marx am Strausberger Platz steht noch an seinem etwas versteckten Platz. Das Schicksal des anderen Berliner Marx-Kopfes des Künstlers ist zu einem Fall der Bil- derpolitik nach der Wende geworden – die Büste, die »überragende Intelligenz, Festigkeit des Willens, Klarheit der Gedanken, historische Weitsicht« ausstrahlen sollte, verschwand Anfang der 1990er Jahre aus der Öffentlichkeit der Humboldt-Universität. Warum? Der Kustodin der Hochschule, Angelika Keune, war 1991 vom damaligen Uni-Kanzler mitgeteilt worden, »dass ein Anschlag auf die Büste geplant sei und sie deshalb im Magazin der Kustodie sichergestellt wurde«: Die Hausmeister der HU hatten sie bereits ins Magazin getragen.
Will Lammerts Arbeit am MarxKopf hat übrigens noch einen Jenenser Ableger. An der dortigen Universität war Marx selbst zwar nie, er hatte aber seine Dissertation an der Universität im Thüringischen abgelegt. Anlass für die SED, auch dort 1953 eine Marx-Büste aufzustellen – auf einem recht hohen Sockel vor dem Hauptgebäude der Universität am Fürstengraben. Die heute noch verfügbaren Fotografien legen nahe, dass es sich um einen weiteren Abguss der Lammert-Büste handelt, die 1953 erstmals in Berlin enthüllt wurde.
Auch der Marx von Jena ist nach der Wende aus der Öffentlichkeit entfernt worden. Bemühungen der Linkspartei, eine Wiederaufstellung am alten Ort vor der Universität oder doch wenigstens die öffentliche Zugänglichkeit zu erreichen, scheiterten bisher – ein neuer Anlauf ist erst letzten April unternommen worden.
Kommt der Marx also nach Jena zurück? Man weiß es nicht. Doch selbst die Wiederaufstellung würde eines nicht ungeschehen machen – das Vierteljahrhundert, in dem dieser Marx aus der Öffentlichkeit verbannt war. Man darf sagen: Auch das Verschwindenlassen ist eine Form, auf die DDR zurückzuschauen. Ein Fall von Ikonoklasmus gegen die Bilderproduktion der SED. Beides könnte man Varianten ganz besonders »deutscher Zustände« nennen. Karl Marx hätte vielleicht dazu geschrieben: »Sie stehn unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unter aller Kritik, aber sie bleiben ein Gegenstand der Kritik.«
Doch vielleicht ist das auch nur ein Bild, das man sich nachträglich von Karl Marx macht.
Eine längere Version dieses Textes ist als Mehrteiler auf dem Portal marx200.org erschienen.
Es mag mehr als eine nebensächliche Anekdote sein, dass sogar die Aufstellung einer Büste von Marx zu einem Fall für nachträgliche Rügen selbst hochrangiger Funktionäre werden konnte.