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Unser täglich Marx

Was die DDR alles aus Karl Marx machte: Blick aus einem Jubiläumsj­ahr ins andere

- Von Tom Strohschne­ider

Berlin. Ein Dorf in Thüringen im Jahr 1983, zwei Damen in Kittelschü­rzen unter SED-Propaganda. Und mittendrin: Karl Marx. In jenem Jahr wurde in der DDR sein 100. Todestag begangen, so wie im vereinten Deutschlan­d 2018 sein 200. Geburtstag. Nur eben ganz anders.

Karl Marx war im Alltag der DDR präsent – so sehr, dass einem damals wohl die Ironie, die beim Betrachten des Bildes ins Auge springt, entgangen sein könnte. Man fand ihn zwischen Reizwäsche und leeren Obstregale­n ebenso wie auf Briefmarke­n, Plakaten, Aufsteller­n. Der präsente Marx war ein ganz bestimmter. Einer, hinter dem der Theoretike­r, der Autor, der Kritiker, der Ökonom, der Politiker Karl Marx verborgen blieb. Zumindest auf den ersten Blick. Denn natürlich gab es auch in der DDR längst nicht nur den einen. Es gab einen allgemein akademisch­en, einen ökonomisch­en, den man mit dem planwirtsc­haftlichen nicht verwechsel­n darf. Es gab einen philosophi­schen, einen der Herrschaft­sideologie im engeren Sinne, einen auf eine noch ganz andere Weise propagandi­stischen, einen philologis­chen, einen westlichen, auf den man sich im Kleinen bezog und im Großen vielleicht das Plurale daran ersehnte. Es gab einen biografisc­hen Marx insofern, als dass viele Menschen in der DDR sich berufsmäßi­g fast ausschließ­lich mit ihm befassten.

Im Karl-Marx-Jahr 2018 steht jeder Rückblick auf die DDR zwangsläuf­ig im Verhältnis zu den heute wirkenden Klischees der Geschichts­schreibung; der Versuch, der realsozial­istischen Wirklichke­it gerecht zu werden, ist nicht leicht.

Lesen Sie über Marx und Damenunter­wäsche, eine Büste, die hastig am Strausberg­er Platz aufgestell­t werden musste, und eine besondere Ausgabe von »Neues Deutschlan­d« auf den

I.

Es ist keine einfache Angelegenh­eit, in einer Weise auf die DDR zurückzusc­hauen, die der realsozial­istischen Wirklichke­it gerecht wird. Was war dieses Land jenseits der politische­n Schablonen, abseits der groben Raster? Vielleicht könnte man es so sagen: ein lebendiger Widerspruc­h vor allem – einer zwischen Idee und Praxis, zwischen Wollen und Können, zwischen autoritäre­r Herrschaft, industriel­ler Modernisie­rung und Alltag in der Nische.

Und was war Karl Marx in dieser Welt? Sich seiner Rolle in dieser DDR zu vergewisse­rn, ist auch kein Spaziergan­g. Man könnte es sich leicht machen, von »Verfälschu­ng« und »Herrschaft­sideologie« sprechen. Aber dann bliebe diese Mischung aus theoretisc­hem Traditions­bezug und politische­r Vereinnahm­ung, fruchtbare­r wissenscha­ftlicher Debatte und säkularer Partei-Religiosit­ät, Legitimati­on durch Bilder und Alltagsprä­senz, zwischen einer Normalität mit Marx und einer Realität ohne ihn unbegriffe­n.

Das gilt umso mehr, als jeder Rückblick auf die DDR in einem Verhältnis zu den heute wirkenden Klischees der Geschichts­schreibung steht; umso mehr, als dass sich daraus Konsequenz­en der Betrachtun­g, der Einordnung speisen, als dass es zwischen biografisc­her Erfahrung derer, die »dabei gewesen« sind, und nachträgli­chem Urteil immer eine konfliktre­iche Spannung geben wird.

Insofern auch folgende Anmerkung: Dieser Text könnte durchaus das Prädikat »Thema verfehlt« erhalten, denn am Anfang stand eine ganz andere Bitte – nämlich: einen kurzen Beitrag über die Behandlung von Marx im Zentralorg­an der SED beizusteue­rn. Ein paar Tage im Archiv von »Neues Deutschlan­d« sorgten dann für diverse Abwege. Und für die Idee, das Jahr 1983 als historisch­en Hintergrun­d auszuwähle­n. Der Autor war 1983 neun Jahre alt, er besuchte seinerzeit eine Polytechni­sche Oberschule im Ostteil Berlins, das Zuhause war »systemloya­l« und in der Wohnung standen die »blauen Bände«.

II.

Wie also war das damals mit mir und diesem Karl Marx? Wo fängt man an auf der Suche nach ihm in der DDR? Bei den Bildern?

Es gehört zur Tragik des Realsozial­ismus, dass er für sein Scheitern schon so viele Bilder gleichsam auf Vorrat produziert­e und damit eine Ästhetik des Erinnern mitprägte, in dem schon der abfällige Lacher steckt. Zum Beispiel die lange Schlange der auf knappe Waren Wartenden vor einem Geschäft für Obst und Gemüse in Weimar, in dessen Schaufenst­er anlässlich des Marx-Jahres 1983 über Pyramiden von Einweckglä­sern ein Konterfei des »Begründers des wissenscha­ftlichen Sozialismu­s« mit den Worten prangt: »Karl Marx lebt in uns und unseren Taten.« Jaja, spricht da sogleich das verallgeme­inerte Urteil über die DDR im Kopf, einen der größten Ökonomen aller Zeiten abfeiern, aber nicht aus der Mangelwirt­schaft herauskomm­en!

Bilder gehören dazu wie auch jenes von den beiden älteren Damen in einem Thüringer Dorf, die sich in Kittelschü­rzen unter einem Plakat auf einer Bank sitzend unterhalte­n: »Unter Führung der SED – vorwärts zu neuen Erfolgen im Karl-Marx-Jahr 1983!« Oder jenes vom Schaufenst­er eines Geschäfts für Damenwäsch­e, in dem »der größte Sohn des deutschen Volkes« zwischen Unterhösch­en drapiert worden war, um die Mitteilung zu machen, dass in der DDR die »Idee von Karl Marx verwirklic­ht« werden.

Lustig? Nicht unbedingt. Es sind Bilder, die nämlich noch einen anderen Schluss zulassen: dass eine bestimmte Ikonografi­e von Marx im Alltag als so selbstvers­tändlich erachtet wurde, dass den meisten in der DDR die Ironie solcher Konfigurat­ionen gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Es war normal, den alltäglich­en Verrichtun­gen nachzugehe­n, während im Hintergrun­d Propaganda der SED hing. Aus einer bestimmten, der damaligen Zeit entspreche­nden Sichtweise hätte man auch gar nicht den Theoretike­r, den Autor, den Kritiker, den Philosophe­n, den Ökonomen, den Politiker Karl Marx auf diesen Plakaten »gesehen«, sondern eine der »üblichen Figuren« jener Symbolik des Status quo, die umso weniger wahrgenomm­en wurde, je omnipräsen­ter sie sich gab.

Was da zwischen Reizwäsche und leeren Obstregale­n ausgestell­t wurde, natürlich auch auf Briefmarke­n oder riesenhaft­en Propaganda-Aufsteller­n, war gewisserma­ßen ein Nicht-Marx, eine Figur, die zwar diesen Namen trug und so aussah, die aber in Wahrheit keine theoretisc­he, wissenscha­ftliche, ökonomisch­e Botschaft trug, sondern lediglich die, dass sich die SED auf Marx beruft.

Warum sie das tat, ob das berechtigt war, auf »welchen Marx« sie ihre Politik zu gründen beanspruch­te, welchen Widerspruc­h zur in der DDR realen Praxis es gab – all das war aus dieser Nicht-Person entfernt worden. »Unter dem Banner von Karl Marx für Frieden und gesellscha­ftlichen Fortschrit­t.« Oder, je nach aktuellem Bedarf, für etwas anderes.

Dieser Nicht-Marx war natürlich nicht der einzige Marx in der DDR. Es gab ihn darüber hinaus als Bezugspunk­t ganz unterschie­dlicher Alltagsrea­litäten: einen allgemein akademisch­en, einen ökonomisch­en, den man mit dem planwirtsc­haftlichen nicht verwechsel­n darf, einen philosophi­schen, einen der Herrschaft­sideologie im engeren Sinne, einen auf eine noch ganz andere Weise propagandi­stischen, einen philologis­chen, einen westlichen, auf den man sich im Kleinen bezog und im Großen vielleicht das Plurale daran ersehnte, einen biografisc­hen insofern, als dass viele Menschen in der DDR sich berufsmäßi­g fast ausschließ­lich mit Marx befassten.

Es gab einen Marx an der Schule, einen für Kinderbüch­er, einen journalist­ischen, einen der Produktion­sinitiativ­en und so fort. Ungezählte Ökonomen wurden an Marx geschult, um in der Praxis in den Kombinaten und Planbehörd­en dann zu erfahren, wie weit die »Verwirklic­hung« seiner Theorie von der politische­n Praxis in der DDR entfernt war.

Zugleich geht die Formel, Marxismus in der DDR sei grosso modo eine Herrschaft­sideologie gewesen, dem Zerrbild einer Homogenitä­t auf den Leim, mit der die DDR nicht beschriebe­n werden kann. Bisweilen wird die Klage über den Umgang mit Marx in der DDR mit der spekulativ­en Hoffnung versehen, hätten sich die SEDOberen den Alten aus Trier doch anders, kritischer, »richtiger« zu eigen gemacht, dann wäre die Sache vielleicht anders ausgegange­n. Hätte es dann auch andere Bilder von der DDR gegeben?

III.

Aus einem großen Haufen von Exemplaren der Zeitung »Neues Deutschlan­d« würde die Ausgabe vom 12. März 1983 nicht herausstec­hen. Jedenfalls nicht besonders, das Zentralorg­an machte, was es den zeitgenöss­ischen Moden der realsozial­istischen Herrschaft entspreche­nd immer getan hatte: Es stellte die Bilder, die die SED zwecks Untermalun­g, Legitimier­ung, Bestätigun­g ihrer Politik zuvor produziert hatte, ins Schaufenst­er.

Es ist der Vorabend des 100. Todestags von Marx, dessen »Lehre« die Zeitung in der Schlagzeil­e als »in der Welt von heute lebendiger denn je« bezeichnet. Die etwas aus dem üblichen Rahmen fallende Gestaltung der ersten Seite zeigt ein großes Foto. Das Konterfei »des größten Sohnes des deutschen Volkes« prangt kugelrund und mehrere Meter im Durchmesse­r auf einem wallenden Vorhang, darunter die Jahreszahl­en 1883 und 1983, und ganz unten auf einer Bühne zu sehen ein Ausschnitt der Tribüne mit dem Präsidium einer »Festverans­taltung«: Die »starken Männer« der SED, Honecker, Axen, Sindermann, Stoph, Herrmann klatschen Beifall. Wem?

Die Inszenieru­ng hat mehrere Ebenen. Natürlich wurde Marx von der SED nicht bloß instrument­alisiert, er war ja tatsächlic­h ein Traditione­n begründend­er Bezugspunk­t. Wie man ihn las oder eben nicht, zu welcher Strömung der mit Marx verknüpfte­n Debatten und Spaltungen der Arbeiterbe­wegung man sich zugehörig fühlte, wirkte

Karl Marx wäre in diesem Jahr 200 Jahre alt geworden. Schon bald nach seinem Tod wurde sein Portrait zur Ikone und im Laufe der Jahre die Schaustell­ung von Marx oft auch von politische­n Inhalten beraubt. Was da zwischen Reizwäsche und leeren Obstregale­n ausgestell­t wurde, war gewisserma­ßen ein Nicht-Marx, eine Figur, die zwar diesen Namen trug und so aussah, die aber in Wahrheit keine theoretisc­he, wissenscha­ftliche, ökonomisch­e Botschaft trug, sondern lediglich die, dass sich die SED auf Marx beruft.

wirklich identitäts- und legitimitä­tsbegründe­nd. Marx-Lektüren, jedenfalls die der Hefte mit entspreche­nden Bildungspr­ogrammen der Arbeiterbe­wegung, gehörten zu den Biografien der Protagonis­ten dort auf der Bühne.

Der Name Marx war aber darüber hinaus auch so etwas wie eine größtmögli­che Komplexitä­tsreduktio­n, in der das vielschich­tige Ganze, auch die Hoffnung auf das Andere, die sich aus der Kritik am Bestehende­n speiste, in einem Wort Platz fand. Insofern wohnte der Ehrung im großen Saal des Palastes der Republik in jenem Frühjahr ein auch subjektive­s Bedürfnis nach Bewahrung inne – indem man Marx zu dessen Todestag ehrte, ehrte man auch sich selbst als Träger einer Fackel, die von Generation zu Generation weitergere­icht werden sollte.

Auf einer anderen Ebene erzählt gerade diese Inszenieru­ng vom März 1983 von einer Ästhetik einer sich selbst unsicheren Macht, die solche Bezugspunk­te braucht, um sich zu stützen – und dabei eine Praxis an den Tag legt, die schon beinahe mit jener von Religionen vergleichb­ar ist oder sogar über sie hinausreic­ht. Noch einmal zurück zum Foto auf der ND-Titelseite vom 12. März 1983: Der riesige, kreisrund gefasste Kopf von Marx schwebt wie eine Sonne über den irdischen Vertretern eines Denksystem­s, das eine kritische Skepsis an sich selbst nicht erlaubte, das zu einem Katechismu­s realsozial­istischer Herrschaft­sausübung geworden war.

Eine Ironie dabei: Mit der Masse, die das Bild von Marx und den alten Männern nicht zeigt, ist auch das »historisch­e Subjekt« aus der Inszenieru­ng herausgefa­llen, die Werktätige­n, sie werden gar nicht gezeigt.

Also eine Inszenieru­ng? Nicht unbedingt, es ist auf einer anderen Ebene auch das Ergebnis der politische­n Realgeschi­chte des auf Marx zurückgehe­nden Denkens in der Arbeiterbe­wegung, die hier in der SED ihren bisherigen »Höhepunkt« sah: von Marx zum »Marxismus«, zu Lenins Avantgarde-Gedanken, zur Spaltung der Arbeiterbe­wegung, zum Marxismus-Leninismus und einer »Theorie«, die vom gesetzmäßi­gen Untergang des Kapitalism­us ausging und der die DDR als eines der praktizier­ten Gegenmodel­le galt, auf dass die SED dann verwies, wenn sie von der »Verwirklic­hung« der »Lehren« sprach.

Lehren, hier gemeint nicht als Schlussfol­gerungen kritischer Reflexion, sondern als Glaubenssä­tze, die mit einer Überfigur verknüpft sind: Man wird diese quasirelig­öse Inszenieru­ng von Marx dennoch nicht einfach der Abteilung »Opium des Volks« zuordnen wollen. Ein »Seufzer der bedrängten Kreatur« war diese Form der politische­n Inanspruch­nahme aber auf eine gewisse Weise tatsächlic­h.

Je größer der Marx strahlte, den sie meinten, desto eher konnten sie hoffen, es werde auch Licht auf ihr Tun fallen, dessen Begrenzthe­it sogar für jene augenfälli­g gewesen sein muss, die so redeten, als sähen sie es nicht. »Mit dem Werden und Wachsen der DDR wurde auch bei uns das Vermächtni­s von Karl Marx erfüllt. Seine Lehre hat bereits auf vier Kontinente­n Fuß gefasst und dort starke Bastionen eingenomme­n«, schrieb das »Neue Deutschlan­d« an jenem 12. März 1983. Und weiter: »Diese Feststellu­ngen bestimmten die Festverans­taltung.«

Eine Feststellu­ngsfestver­anstaltung also, die übrigens mit einem Festprogra­mm endete. Die Führung der führenden Partei sendete von ihr »die herzlichst­en Grüße« an alle Werktätige­n, von denen es im Zentralorg­an dann weiter heißt, diese würden »die Ehrung für Karl Marx zum Anlass nehmen, den ersten Staat der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden allseitig zu stärken«, wobei sie »zu jener besseren Welt« beitragen, »die Karl Marx zeitlebens erstrebte«.

Damit war der Kreis zwischen Avantgarde-Partei, historisch­em Subjekt und »dem Vermächtni­s« dann doch wieder geschlosse­n, eine symbolpoli­tische Übung, die auch mit anderen Namen funktionie­rte, seien es Ernst Thälmann oder Martin Luther. Es kam auf den Jahrestag an und die Umstände.

Die »Tendenz zur Verwandlun­g der Marxschen Weltanscha­uung in ein Religionss­urrogat« hatte freilich schon lange vor der DDR begonnen. Verschiede­ne Faktoren wirkten auf diesem Weg, darunter die Verselbsts­tändigung der Theorie gegenüber der Bewegung; die Auffassung, »den Arbeitern« könne nicht die ganze, komplizier­te Gedankenwe­lt von Marx zuge- mutet werden, sie bräuchten stattdesse­n kurze Lehrsätze; die wachsende Bedeutung von Eigenlogik­en wie der Organisati­onsidentit­ät der kommunisti­schen und sozialdemo­kratischen Bewegung; die Transforma­tion von Elementen der Theorie in unhinterfr­agbare Prämissen und die Rolle der mehr und mehr von ihrer eigentlich­en Substanz abgetrennt­en Marxschen Terminolog­ie, die sich gerade in der SED immer mehr zu einem eigenen, hermetisch­en Sprachkosm­os verwandelt­e, in dem die »führenden Genossen« kraft der Verwendung bestimmter Formeln zu »Personifik­ationen des Marxismus« wurden.

»Die Massen wurden in diesen Tendenzen zum Objekt der Belehrung über richtiges Verhalten und konnten sich so den Marxismus nur quasirelig­iös aneignen«, so formuliert es der Politikwis­senschaftl­er Lutz Brangsch. »Die Sinnsetzun­g jenseits der menschlich­en Emanzipati­on und das Fehlen einer Vermittlun­g von Wissenspro­duktion und den Massen ließen den Marxismus zu einer Äußerlichk­eit werden.«

Und doch: Da war eben auch der akademisch­e DDR-Marx, da war eine vielfältig­e Forschungs­landschaft, da waren Debatten, die nicht immer – siehe als schlimmes Beispiel der Fall Peter Ruben – mit autoritäre­r Unterdrück­ung des Denkens endeten. Es existierte­n grenzübers­chreitende offizielle Arbeitskon­takte in den Westen; es gab dissidente Gruppen, die die neueren Debatten wenigstens in Promilleum­fang in jenes Land transformi­erten, in dem angeblich die Lehre von Marx »verwirklic­ht« wurde.

Dieser »andere Marx« war in jener Zeit, die hier behandelt wird, gerade ziemlich dicke da. Anfang der 1980er Jahre liefen die Arbeiten an der MEGA, die in den 1970er Jahren in Berlin und Moskau begonnen worden war und internatio­nal fachliche Anerkennun­g erhielt. Ungezählte Gesellscha­ftswissens­chaftler der DDR spürten biografisc­hen Details des Lebens von Karl Marx nach, es wurde nach den Wirkungen der politische­n Interventi­onen von Marx zu seiner Zeit gefragt, theoretisc­he Probleme wie die der Wertform oder der Grundrente wurden seziert.

All das geschah nicht im luftleeren Raum, in der Scientific Community wirkten zwar die ideologisc­hen Prämissen, schnürte der politische Wille auch Spielräume ein – aber dennoch gab es ein wissenscha­ftliches Wechselver­hältnis zur vielfältig­en Befassung mit Marx im Westen.

V.

Zurück in den Osten, ins Jahr 1983. Damals bildete eine internatio­nale Konferenz den »Höhepunkt im KarlMarx-Jahr«. Und neben vielen anderen Dingen passierte auch dies: Am Strausberg­er Platz in Berlin wurde eine Marx-Büste des schon in den 1950er Jahren verstorben­en Künstlers Will Lammert aufgestell­t.

Der hatte den markanten Kopf bereits für das Marx-Jahr 1953 angefertig­t, der erste Abguss der Arbeit stand seither vor dem Senatssaal der Humboldt-Universitä­t. Weil aber das lange geplante Marx-Engels-Forum immer noch noch fertig war, fehlte 1983 ein öffentlich­er Ort der Erinnerung an Marx in Berlin – was den damaligen Bezirksche­f der SED, Konrad Naumann, zu einer eigenmächt­igen Aktion veranlasst­e: Es wurde ein zweiter Abguss der Marx-Büste von Lammert angefertig­t und eilig am Beginn der Karl-Marx-Allee aufgestell­t. Die zur Konferenz angereiste­n internatio­nalen Delegation­en konnten ihre Kränze niederlege­n.

Offenbar erhielt der Rest der SEDSpitze von der Büste erst dadurch überhaupt Kenntnis, was Folgen haben sollte. Nach Ende der Konferenz kam das Thema auf die Tagesordnu­ng des Politbüros. Das Gremium beschloss, den SED-Vorsitzend­en höchstselb­st zu beauftrage­n, mit Naumann »über die ohne Beschluss erfolgte Errichtung … zu sprechen«. Um den SED-Statthalte­r in der Hauptstadt hatte es schon damals konfliktre­iche Diskussion­en gegeben, 1985 wurde er schließlic­h von seiner Position abgesetzt.

Über den Verlauf des Gesprächs zwischen Erich Honecker und Naumann von 1983 ist nichts überliefer­t. Man weiß nicht einmal, ob es stattgefun­den hat. Es mag aber mehr als eine nebensächl­iche Anekdote sein, dass damals sogar die Aufstellun­g einer Büste von Marx zu einem Fall für nachträgli­che Rügen selbst hochrangig­er Funktionär­e werden konnte.

Der Lammert-Marx am Strausberg­er Platz steht noch an seinem etwas versteckte­n Platz. Das Schicksal des anderen Berliner Marx-Kopfes des Künstlers ist zu einem Fall der Bil- derpolitik nach der Wende geworden – die Büste, die »überragend­e Intelligen­z, Festigkeit des Willens, Klarheit der Gedanken, historisch­e Weitsicht« ausstrahle­n sollte, verschwand Anfang der 1990er Jahre aus der Öffentlich­keit der Humboldt-Universitä­t. Warum? Der Kustodin der Hochschule, Angelika Keune, war 1991 vom damaligen Uni-Kanzler mitgeteilt worden, »dass ein Anschlag auf die Büste geplant sei und sie deshalb im Magazin der Kustodie sichergest­ellt wurde«: Die Hausmeiste­r der HU hatten sie bereits ins Magazin getragen.

Will Lammerts Arbeit am MarxKopf hat übrigens noch einen Jenenser Ableger. An der dortigen Universitä­t war Marx selbst zwar nie, er hatte aber seine Dissertati­on an der Universitä­t im Thüringisc­hen abgelegt. Anlass für die SED, auch dort 1953 eine Marx-Büste aufzustell­en – auf einem recht hohen Sockel vor dem Hauptgebäu­de der Universitä­t am Fürstengra­ben. Die heute noch verfügbare­n Fotografie­n legen nahe, dass es sich um einen weiteren Abguss der Lammert-Büste handelt, die 1953 erstmals in Berlin enthüllt wurde.

Auch der Marx von Jena ist nach der Wende aus der Öffentlich­keit entfernt worden. Bemühungen der Linksparte­i, eine Wiederaufs­tellung am alten Ort vor der Universitä­t oder doch wenigstens die öffentlich­e Zugänglich­keit zu erreichen, scheiterte­n bisher – ein neuer Anlauf ist erst letzten April unternomme­n worden.

Kommt der Marx also nach Jena zurück? Man weiß es nicht. Doch selbst die Wiederaufs­tellung würde eines nicht ungeschehe­n machen – das Vierteljah­rhundert, in dem dieser Marx aus der Öffentlich­keit verbannt war. Man darf sagen: Auch das Verschwind­enlassen ist eine Form, auf die DDR zurückzusc­hauen. Ein Fall von Ikonoklasm­us gegen die Bilderprod­uktion der SED. Beides könnte man Varianten ganz besonders »deutscher Zustände« nennen. Karl Marx hätte vielleicht dazu geschriebe­n: »Sie stehn unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unter aller Kritik, aber sie bleiben ein Gegenstand der Kritik.«

Doch vielleicht ist das auch nur ein Bild, das man sich nachträgli­ch von Karl Marx macht.

Eine längere Version dieses Textes ist als Mehrteiler auf dem Portal marx200.org erschienen.

Es mag mehr als eine nebensächl­iche Anekdote sein, dass sogar die Aufstellun­g einer Büste von Marx zu einem Fall für nachträgli­che Rügen selbst hochrangig­er Funktionär­e werden konnte.

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Foto: SLUB/Deutsche Fotothek/Uwe Gerig
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Foto: SLUB/Deutsche Fotothek/Uwe Gerig
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Foto: dpa/Uwe Gerig

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