nd.DerTag

Die Körper der Fremden

Leo Fischer über die Vermessung jugendlich­er Flüchtling­e und das Bedürfnis, soziale Probleme technisch lösen zu wollen

-

Es wird jetzt sehr ernst in der Flüchtling­sdebatte: Um Straftaten, ja der Kriminalit­ät insgesamt vorzubeuge­n, werden allermoder­nste wissenscha­ftliche Erkenntnis­se angesetzt. Die Knochendic­hte angeblich minderjähr­iger unbegleite­ter Flüchtling­e soll nun bestimmt werden, ihre Körperprop­ortionen vermessen, auch ihre Genitale bedürfen eindringli­cher Untersuchu­ng. Röntgenstr­ahlen müssen durch sie hindurchge­schossen werden, ihre Behaarungs­dichte geprüft, ihre Pigmente gezählt werden. Führende Forensiker ohne finanziell­e Interessen werben für neue technische Möglichkei­ten, mit Ultraschal­l noch tiefer in die Jugendlich­en hineinzufo­rschen. Alles, alles, was die moderne Technik hergibt, soll in den Dienste der einen Frage gestellt werden: Wieso, weshalb und why? Warum tun die dieses? Warum sind sie so und nicht anders? Woher kommt ihre Bosheit, ihr Gefährdert­um? Müssen wir Genanalyse­n herstellen? Müssen wir eventuell hinunter auf Quark- und Gluonenbas­is, um auszuforsc­hen, woher das Böse schlechthi­n kommt?

Ja, es wird wohl so weit kommen, dass jugendlich­e Asylsuchen­de regelmäßig geröntgt werden, denn der Körper des Flüchtling­s ist ein unauflösba­res Mysterium. Er ist zugleich tief krank, Überträger von Schädlinge­n und Seuchen, und über die Maßen gesund, voll unbeherrsc­hter Lebenslust und Zügellosig­keit. Er ist kraft- und machtlos, ohne Willen oder Fähigkeit zur Arbeit; gleichzeit­ig nimmt er uns, erfüllt von überborden­der Energie, die Arbeit weg, weil er sich, da sind sich alle Handwerksm­eister einig, viel weniger beschwert und länger durchhalte­n kann. Er ist dumm und barbarisch, das ist ihm ins Genom hineinbuch­stabiert; gleichzeit­ig ist er schlau, gerissen und weiß uns naive Gutmensche­n aufs Listigste zu täuschen.

Keine Strahlung des Universums wird dieses Paradoxon je durchdring­en, aber das wird keinen Flüchtling­sverwalter daran hindern, es dennoch zu versuchen. Die Blutgruppe eines Flüchtling­s zu bestimmen ist leichter, als sich nach Fluchtursa­chen zu fragen; eine Frage, die sehr schnell auch zur Frage nach dem eigenen Wohlstand führt, und die ist weit unangenehm­er als tausend Röntgenbes­trahlungen im Jahr. Freilich: Mit den Kosten, die nur eine einzige dieser Untersuchu­ngen verursache­n wird, könnte man natürlich gleich fünf dieser Jugendlich­en Psychother­apie, Integratio­nskurse, Klavierstu­nden oder Tickets für den Europapark spendieren, also irgendwas Nettes oder Schönes; aber dann müsste man sie wie Gleichrang­ige behandeln und nicht wie rätselhaft­e Kreaturen voll unergründl­icher roher Körperlich­keit, die einem fremder sind als die Tiere im Zoo, für die man jedes Jahr sammelt.

Das Durchleuch­ten der Flüchtling­skörper ist nur ein Symptom ei- nes Bedürfniss­es, soziale Probleme durch Technik zu lösen, eine Form von Fortschrit­t im Stillstand: Um Protestbew­egungen zu durchschau­en, müssen »crowd control«-Studien und Gesichtser­kennungssy­steme angefertig­t werden, denn Proteste haben keinen Grund, nur Ursachen. Um Hasskommen­tare im Netz zu bekämpfen, programmie­ren hochbezahl­te Spezialist­en automatisi­erte Löschsyste­me, die unfähig sind, allereinfa­chste menschlich­e Ausdrucksf­ormen wie Parodie und Ironie zu erkennen, und dann stupide nach der Rasenmäher­methode Meinungen plattmache­n. Das Rätsel, das die Experten dabei zu lösen vorgeben, haben sie sich nämlich selbst je schon als unlösbares gestellt: Wenn bereits in der Ausgangsth­ese das Soziale als die »black box« begriffen wird, als geheimnisv­oller Urgrund, aus dem zufälliges Verhalten entweicht, wie soll dann je Licht hineingewo­rfen werden? Doch aus der Erkenntnis, dass die Gesellscha­ft durchaus nicht irrational ist, sondern recht eindeutige­n Bedürfniss­en folgt, erwüchse zwangsläuf­ig die Erkenntnis, dass diese Gesellscha­ft veränderba­r ist – und diese Erkenntnis ist nun mal tabu, da endet die große Machbarkei­t und die technische Rationalit­ät, da prallt jeder Röntgenstr­ahl ab wie von einer Bleiweste.

So wird weiter geforscht werden am rätselhaft­en Flüchtling­skörper, an geheimnisv­ollen Demonstrat­ionen und unergründl­ichem Hass. Zahllose Aufsätze werden geschriebe­n, Machbarkei­tsstudien vorangetri­eben, Algorithme­n und Apps fabriziert – all dieses zur Beherrschu­ng einer Irrational­ität, die keine betrüblich­e Abweichung im Kapitalism­us, sondern seine elementare Arbeitswei­se ist und an deren Herstellun­g wir jeden Tag beteiligt sind.

 ?? Zeichnung: Christiane Pfohlmann ??
Zeichnung: Christiane Pfohlmann
 ?? Foto: privat ?? Leo Fischer war Chef des Nachrichte­nmagazins »Titanic«. In dieser Rubrik entsorgt er den liegen gelassenen Politikmül­l.
Foto: privat Leo Fischer war Chef des Nachrichte­nmagazins »Titanic«. In dieser Rubrik entsorgt er den liegen gelassenen Politikmül­l.

Newspapers in German

Newspapers from Germany