nd.DerTag

Die Gerechtigk­eit des Siegers

»Und führe uns nicht in Versuchung«? Helge Meves hält die Neubearbei­tung der Luther-Bibel für verfälsche­nd und neoliberal

-

In den vergangene­n Wochen wurde darüber debattiert, ob im »Vater Unser« nun »und lasse uns nicht in Versuchung geraten« oder »und führe uns nicht in Versuchung« zu lesen sei. Letzteres ist die tradierte Übersetzun­g, die auch die Evangelisc­he Kirche in Deutschlan­d – pikanterwe­ise gegen den modernisie­rungswilli­gen Papst – verteidigt hat. Die Differenz zwischen den Übersetzun­gen besteht darin, ob Gott in Versuchung führt oder ob der Mensch – etwa einer Interventi­on des Teufels wegen – in Versuchung geraten kann. Das führt hier und in dieser Zeitung zu weit. Allerdings wird bei einer anderen Bitte des »Vater Unser« gefragt werden, was mit »tradierter« Übersetzun­g gemeint ist.

»Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldiger­n«, heißt es in der revidierte­n Ausgabe der Luther-Bibel vom vergangene­n Jahr. Die Änderungen darin an 15.700 Versen gingen meist auf Luthers Übersetzun­g zurück. In diesem Falle nicht. Luther übersetzte bis zur letzten von ihm revidierte­n Ausgabe 1545 »und vergib uns unsere Schulden, wie wir unsern Schuldiger­n vergeben«. Die strittige Frage lautet also: Sind in der Schrift ökonomisch­e oder moralische Schulden gemeint?

In der altgriechi­schen Fassung steht für Schulden opheiléma. In der lateinisch­en Vulgata wird sehr genau mit debitor übersetzt – dafür braucht man Helge Meves arbeitet im Bereich Strategie & Grundsatzf­ragen der Bundesgesc­häftsstell­e der LINKEN. kein Wörterbuch. Im außerbibli­schen Kontext meint der Begriff unzweifelh­aft monetäre Schulden. Innerbibli­sch nähern sich beide Bedeutunge­n an. Das sollte nicht wundern, weil die Frage ja eben ist, was Moral mit Ökonomie zu tun hat. Es muss also mit diesem philologis­chen Befund in die Sozialgesc­hichte geschaut werden.

Bereits in der antiken Gesellscha­ft waren nicht rückzahlba­re Schulden eines der größten Probleme. Die Mächtigen sahen die Lösung in der Schuldskla­verei. War jemand soweit überschuld­et, dass er die Schulden aus den laufenden Einnahmen absehbar nicht begleichen konnte, wurde er dem Gläubiger als Sklave zugesproch­en. In vielen Gesellscha­ften wurden auch seine Frau und Kinder versklavt. Nach einigen Überliefer­ungen konnte der Schuldner in Stücke gehackt werden. Es geht hier wie auch bei verschulde­ten Staaten heute um die totale Ausplünder­ung, in der Folge um endemische Gewalt, Mangelernä­hrung, Hoffnungsl­osigkeit, zerstörte Leben und millionenf­achen Tod. Gegen diese Lösung der Mächtigen gab es im Alten Testament einen Schuldener­lass für Bauern gesetzlich verpflicht­end alle sieben Jahre im Sabbatjahr.

Im griechisch-römischen Schuldrech­t wurde diese Regelung schlichtwe­g umgedreht. Nicht mehr der Erlass der Schulden, sondern deren Begleichun­g wurde zu einer Verpflicht­ung. Dagegen wandte sich das frühe Christentu­m und bekräftigt­e das Tora-Recht der Überschul- deten auf einen Schuldener­lass: »Gib dem, der dich bittet, und wende Dich nicht ab von dem, der etwas von Dir borgen will«, heißt es im neuen Testament, »und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen«. Luthers frühe Übersetzun­g nimmt die Forderung nach einem Schuldener­lass ins »Vater Unser« auf. Der erste deutsche Nationalök­onom, wie ihn Karl Marx nannte, hatte hierbei das mächtige Kaufmannsg­eschlecht der Fugger im Blick, wie heutige Forderunge­n nach einem Schuldener­lass als Gegner den modernen Finanzkapi­talismus haben. Die Neubearbei­tung verbirgt etwas, was Luther noch gesehen hatte: Schulden begleichen zu müssen, ist die Gerechtigk­eit des Siegers – und die verfälsche­nde Neubearbei­tung darf insofern mit guten Gründen neoliberal genannt werden.

Freilich hält die Bibel weder autoritati­ve noch überzeitli­che Argumente bereit. Allerdings macht sie mit der Verteidigu­ng des Schuldener­lasses zweierlei deutlich: Ein Schuldener­lass ist nicht wolkenkuck­ucksheim-utopisch, sondern war jahrhunder­telang eine bewährte Praxis. Und die Frage des Schuldener­lasses ist nicht eine Frage der Religion, sondern der Macht.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany