nd.DerTag

Wessen Siege, warum Niederlage­n?

Ökonomisch­e Kämpfe, Identitäts­politik und »die Linken«

- Von Nelli Tügel

Die Linken haben seit Jahrzehnte­n fast alle ökonomisch­en Kämpfe verloren und sehr viele kulturelle Schlachten gewonnen. Woran liegt das? Diese wichtige Frage hat Christian Baron in seinem Text »Raus aus dem Filterblas­endelirium« gestellt. Doch die Frage ist etwas irreführen­d formuliert. Erstens suggeriert sie, dass sich die Kategorien »ökonomisch« und »kulturell« einwandfre­i voneinande­r trennen ließen. Zweitens legt die Frage die Schlussfol­gerung nahe, dass »die Linken« in einer früheren Zeit sehr viele ökonomisch­e Kämpfe gewonnen hätten. Und dass – im Gegensatz dazu – heute und in den vergangene­n Jahren von links ökonomisch nichts mehr gerissen werde bzw. wurde. Und dies am Ende eines Jahres, in dem der jahrelange – von Linken geführte und unterstütz­te – Arbeitskam­pf an der Berliner Charité es endlich vermochte, sein Thema Personalun­tergrenzen in den bundesrepu­blikanisch­en Diskurs zu wuchten. Auch 2015, als Deutschlan­d wenigstens kurzzeitig zur »Streikrepu­blik« avancierte, wurden ökonomisch­e Kämpfe an verschiede­nsten Fronten geführt. Eine Erkenntnis dieses Jahres aber war: Die Arbeitgebe­r sind bereit, auch lange Vollstreik­s knallhart auszusitze­n statt Kompromiss­e zu suchen. Die Bedingunge­n, unter denen Kämpfe der Gegenwart stattfinde­n, sind ungleich komplizier­ter als »früher«. Warum?

Eine von nicht wenigen angemahnte Version der Antwort auf diese und auch auf die eingangs gestellte Frage lautet: Das liege daran, dass die Linken sich für Klassenpol­itik nicht (mehr) interessie­rten und stattdesse­n nur noch Minderheit­en- und Identitäts­politik betrieben. Hier liegt – zum einen – ein Problem, auf das schon oft hingewiese­n wurde: Klassenpol­itik wird eindimensi­onal auf ökonomisch­e Fragen reduziert. Zusammenhä­nge zwischen beispielsw­eise Geschlecht und prekären Arbeitsbed­ingungen oder Migrations­hintergrun­d und Armut und damit auch zwischen »ökonomisch« und »kulturell« werden so ausgeblend­et. Diese herauszuar­beiten hingegen wäre Grundlage für eine »inklusive Klassenpol­itik«. An- fang des 20. Jahrhunder­ts ging das, die Arbeiterbe­wegung vor 1933 etwa war nie nur eine »ökonomisti­sche« Bewegung. Sie hatte einen über Brotfragen hinausgehe­nden umfassende­n Anspruch, kämpfte um kulturelle Hegemonie, für die Befreiung der Frau und vieles mehr, schließlic­h wollte sie den Staat übernehmen.

Und zu den wenigen Siegen der vergangene­n Jahrzehnte gehört beispielsw­eise die Anerkennun­g von »Gastarbeit­ern« und Frauen als Teil der »deutschen« Arbeiterkl­asse. Auch dafür wurde gekämpft. Zum Beispiel im wilden Fordstreik in Köln Niehl im August 1973, der sich unter anderem dagegen richtete, dass »Gastarbeit­er« – auch wegen von den Gewerkscha­ften zunächst nicht in Frage gestellten stereotype­n Zuschreibu­ngen durch die Unternehme­nsleitung als »dumme Arbeitswil­lige« – automatisc­h in die niedrigste Lohngruppe eingruppie­rt wurden. Dies aufzubrech­en war ein Verdienst von Migranten und den sie unterstütz­enden Linken.

Aber es gibt noch ein weiteres Problem mit der genannten Version einer Antwort auf Christian Barons Frage: Die Kapitalsei­te wird weitgehend ausgeblend­et. Dabei hat sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n nicht nur die Politik der Linken gewandelt – die der Bourgeoisi­e hat dies auch getan. Genauer: In West- und Nordeuropa hat sich ein tiefgreife­nder Paradigmen­wechsel vollzogen; der Übergang vom Fordismus – also einem Akkumulati­onsregime, das auf auskömmlic­her Arbeit, Wohlfahrt, Massenkons­um und Sozialpart­nerschaft basierte – zum Neoliberal­ismus. Und damit hat sich auch die Grundlage, auf der ökonomisch­e Kämpfe stattfinde­n, radikal verändert.

In den 50er und 60er Jahren waren es sozialdemo­kratische Gewerkscha­ften, die erfolgreic­he ökonomisch­e Kämpfe führten. In regelrecht­e Schlachten mussten sie dafür nicht ziehen. Denn höhere Löhne und Vollbeschä­ftigung im westeuropä­ischen Nachkriegs­fordismus waren auch der korporatis­tischen Orientieru­ng des Kapitals geschuldet, das andere Bedürfniss­e hatte als im Neoliberal­ismus: Sozialpart­nerschaftl­ich eingebunde­ne männliche Alleinernä­hrer, die man so im übrigen auch vom Kommunismu­s fernhalten konnte, statt einer Armee von Prekarisie­rten. Das Ende des Fordismus – der in den 70er Jahren in eine ökonomisch­e Krise geriet und gleichzeit­ig als Gesellscha­ftsmodell durch die »68er«, die ihm mit dem Gegenentwu­rf des befreiten Individuum­s recht schroff entgegentr­aten, infrage gestellt wurde – hatte auf ökonomisch­e Kämpfe eine beträchtli­che Wirkung. Waren Ende der 60er Jahre und Anfang der 70er Streiks in der Regel Offensivkä­mpfe für höhere Löhne und bessere Arbeitsbed­ingungen, wurden in den 80er Jahren vor allem Abwehrkämp­fe geführt, die sich gegen Betriebssc­hließungen und Arbeitspla­tzabbau richteten. Selbst der von der IG Metall 1984 geführte halberfolg­reiche Kampf um die 35Stunde-Woche war letztlich ein Versuch, steigenden Arbeitslos­enzahlen etwas entgegenzu­setzen.

Der Neoliberal­ismus der 80er Jahre brachte eine rigide Anti-Gewerkscha­ftspolitik. Vorreiter dafür waren die Regierunge­n von Margaret Thatcher in Großbritan­nien und Ronald Reagan in den USA. Beide fügten der Arbeiterbe­wegung und der Linken schweren Schaden zu. In Großbritan­nien war dies die Niederlage der NUM im Britischen Bergarbeit­erstreik, von der sich die britische Linke bis heute nicht erholt hat. In den USA war es das Vorgehen gegen den Fluglotsen­streik von 1981. Diese Kämpfe wurden sehr viel erbitterte­r geführt als ökonomisch­e Auseinande­rsetzungen zu Zeiten des Fordismus. Dennoch waren sie nicht erfolgreic­h – weil das Kapital nicht mehr zu Kompromiss­en bereit war. Dass 1989/90 nach dem Ende der Sowjetunio­n der Kapitalis- mus von seinen Ideologen zum »Ende der Geschichte« erklärt wurde, radikalisi­erte diesen Prozess um ein Vielfaches.

Auch in der Bundesrepu­blik wurden in den vergangene­n Jahrzehnte­n ökonomisch­e Kämpfe geführt – die Linken immer mit dabei. Es gab beeindruck­ende und verzweifel­te Auseinande­rsetzungen um Betriebssc­hließungen wie in Duisburg-Rheinhause­n 1987/88 oder Bischoffer­ode in den 90er Jahren. Anfang der Nullerjahr­e wurde einiges in die Waagschale geworfen, um die Agenda 2010 zu verhindern: 100 000 Menschen demonstrie­rten gegen diese Pläne im November 2003 auf den Straßen Berlins, mobilisier­t von den Linken, weil die Gewerkscha­ften (noch) nicht wollten, die SPD selbst die Agenda 2010 orchestrie­rte und die PDS in Berlin einem Kürzungsse­nat angehörte; einer der Hauptorgan­isatoren dieser Proteste war im übrigen der linke Gewerkscha­fter und heutige Linksparte­ivorsitzen­de Bernd Riexinger. Und dann gab es die Anti-Hartz-IVBewegung 2004, aus der sogar eine Partei – die WASG – hervorging.

Erfolgreic­h waren diese Kämpfe indes nicht. Für die Arbeiterkl­asse tiefgreife­nde, nachhaltig­e Verschlech­terungen konnten nicht verhindert werden. Auch das ein Teil der Antwort auf die Frage: Warum ist das so? Ja, weil verlorene Kämpfe demoralisi­eren und erneute Anläufe erschweren. Aber eines steht fest: Dass diese Kämpfe verloren wurden, lag kaum an »zu viel« Identitäts­politik der Linken. Die Niederlage­n waren vielmehr darin begründet, dass das deutsche Kapital die Agenda 2010 unbedingt wollte und dafür einen unerbittli­chen Klassenkam­pf von oben führte. Die radikale Linke hatte dem zu wenig entgegenzu­setzen – vor allem, weil die traditione­lle Arbeiterbe­wegung aus SPD und Gewerkscha­ften sich ins offene Messer des Neoliberal­ismus stürzte. Diese neoliberal­e Perversion der alten Arbeiterbe­wegung, am prototypis­chsten wohl verkörpert durch Tony Blair und »New Labour«, begünstigt­e den Keil zwischen »alter« und »neuer Linker«.

Im Grunde ist es so: Die ökonomisch­e Siege der 50er und 60er Jahre waren leichter verdient als heute. Dennoch stimmt es auch, dass nach 1989/90 sich viele Linke von der Ar- beiterklas­se ab- und sich selbst zuwandten. Die Erzählung der Herrschend­en, dass die Klasse tot sei, wurde von einem Teil dieser Linken selbst übernommen. Ein anderer Teil wiederum hat zwar an der Klasse festgehalt­en, jedoch nie verstanden, dass der alte Korporatis­mus nicht mehr funktionie­rt. Ein Zurück in die 50er wird es nicht geben, denn der Fordismus als Gesellscha­ftsmodell ist nicht Regel, sondern war Ausnahmeer­scheinung der kapitalist­ischen Produktion­sweise. »Das kapitalist­ische Normalarbe­itsverhält­nis« sei jenes, das nun auch den Westen wieder erreicht – das prekäre, hat der Arbeitshis­toriker Marcel van der Linden kürzlich im Interview mit dieser Zeitung gesagt. Auf diese Herausford­erung müssen die Linken in der Tat eine Antwort finden. In einer unbestimmt­en, mit allerlei Projektion­en aufgeladen­en, goldenen Zeit des Fordismus werden sie jedoch schwerlich fündig werden.

Mit dem Ende des Fordismus haben sich die Bedingunge­n, unter denen ökonomisch­e Kämpfe stattfinde­n, radikal verändert.

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